Adalbert hat seine schwarzweißen Schwingen auf einen Fernflug bis nach Nordkorea erhoben und mit seinem gestochen scharfen Adlerblick einen historischen Kriminalfall aufgespürt, der sich um sternklare Kristalle von Metamphetamin dreht und mit einem Anschlag auf die Schmuckdesignerin Nadine Engelthal und einem weiteren Mord die internationale mörderische Mainmetropole anno 2012 in Atem hält……

Prag/Heidelberg, August 1968

Kalt und unbarmherzig peitschte der eisige Nordwind über den rauhen Gebirgszug, hier und da ließ das Mondlicht die schneebedeckten Klippen wie Diamanten funkeln. Stanislav Polacek arbeitete Krankenakten ab und bereitete die Spritzen für die nächste Injektion vor. Reine Routine in der halbwegs warmen Baracke, doch Polacek hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten: Das panische Quieken der Ratten in den Laborkäfigen wurde unerträglich, dazu heulte der Eiswind, der die Fenster zum Scheppern brachte. Dann öffnete sich die Tür, man sah, wie von außen ein erbärmlicher Haufen Menschen hereingetrieben wurde: Assistent Svoboda hakte die Listen ab, reichte die Spritze seinem Chef, der in die Augen einer gebrochenen Frau mit strähnig-schwarzem Haar und eines klapprigen Kreises mit aufgedunsenem Gesicht blickte. Unbarmherzig, das nackte Grausen. Dann erfolge der schmerzhafte Stich, das Wimmern verwandelte sich in herzzerreißendes Schreien, das selbst das schrille Quieken der Ratten übertönte, nun floss das Mittel in die Adern, Polacek wurde schwindelig, die Bilder verschwammen…..

Der Wecker rappelte schrill und laut, Polacek schreckte aus dem Bett hoch, wischte sich den Schweiß aus der Stirn und tastete sich langsam Richtung Fenster. Er warf einen Blick zum dunklen Wenzelsplatz und wusste, der Prager Frühling hatte sein Herz nie erreicht. Das weiße, struppige Haar stand ihm zu Berge. Seit Monaten quälte ihn eine Angina pectoris, die er mit selbst verordneten Tabletten nur mühsam in Schach halten konnte. Er wankte in den Flur der knarrigen Altbauwohnung, wo er einen kurzen Brief seiner Tochter fand: „Verzeih Vater, aber ich kann nicht anders. Lebe wohl!“ Polacek dachte sofort an die österreichische Botschaft, die sich wie 21 Jahre später die deutsche Botschaft mit Menschen füllte, der Botschafter Rudolf Kirchschläger kam mit dem Ausstellen der Visa kaum noch nach. „Nein, das tut sie mir nicht an“, dachte Polacek, wankte zurück ins Schlafzimmer und blickte in die gähnende Leere des Kleiderschrankes: Sie hatte es immer geahnt und neben den paar notdürftigen Anziehsachen auch noch den Inhalt des Geheimfachs mitgenommen: Ein Päckchen, das einst bei einem reaktionären Bauern ein paar Kilometer von seiner Baracke entfernt deponiert worden war. „Sie verlässt mich, nimmt mir alles, auch mein Testament“, jammerte Polacek, zum Schreien war er nicht mehr fähig. Es waren seine letzten Worte, bevor er sich unter einem heftigen Herzanfall vor Schmerzen krümmte, in sich zusammenbrach und verstarb.

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Zwei Wochen später saß der Medizinstudent Matthias Lauen nach einem anstrengenden Arbeitstag bei BASF abends in seiner Altbauwohnung in Heidelberg-Handschuhsheim. Er war gerade vor dem Fernseher eingenickt, als es plötzlich schellte. Nur widerwillig rappelte sich der 24-jährige gebürtige Frankfurter aus seinem grünen Plüschsessel hoch, fuhr sich kurz durch die blonde Mähne, ehe er halb benommen zur Tür tappte. Wer mochte das jetzt noch sein? Seine heimliche Flamme Eleonora ganz bestimmt nicht. Die kam nur in seinen schönsten Träumen auf einen Überraschungsbesuch vorbei und schenkte ihm mit ihren klimpernden blauen Augen und ihrem rotblonden Pferdeschwanz ein strahlendes Lächeln. Einen Pferdeschwanz hatte aber auch der junge Herr, der nun in der Wohnungstür stand.

„Hallo, ich bin der Vaclav. Die Haustür stand offen. Ku Bong ist gerade nicht zu Hause. Deshalb möchte ich gerne etwas für ihn abgeben.“

Matthias rückte sich die Nickelbrille zurecht: Ku Bong, das war doch der neue Typ, der vor einigen Tagen neu eingezogen war. Richtig kennengelernt hatte er ihn eigentlich noch nicht. Vaclav stellte sich nun als Ku Bongs guter Freund vor, der am Slawischen Institut in Heidelberg studierte. Er müsste morgen für einige Tage wegfahren und wollte eben noch schnell ein Geburtstagsgeschenk vorbeibringen. Vaclav zog ein Päckchen aus Zeitungspapier mit kuriosen asiatischen Schriftzeichen hervor, vielleicht eine Mischung aus Chinesisch und Japanisch, im Fernen Osten gab es ja alles. Immerhin klebten ein paar rote Sternchen auf dem Papier- nett improvisiert, dachte Matthias. „Na, dann Happy Birthday“, murmelte er halblaut vor sich hin.

Matthias hatte die ganze Nacht zuvor bei BASF in Ludwigshafen gejobbt- er war hundemüde und zu nichts mehr zu gebrauchen, mochte er auch sonst noch so ein Nachtmensch sein. Er schaute noch kurz die Spätnachrichten und legte sich dann hin, versuchte sanft zu entschlummern und von Eleonora zu träumen. Fast wäre es ihm sogar gelungen, als er es kurz nach Mitternacht zum ersten Mal poltern hörte. Verdammte Holztreppe, brummte er und drehte sich auf die andere Seite.

Stunden später, die Morgendämmerung war schon fast hereingebrochen, donnerten im Stockwerk über ihm erneut die Türen. Laute Männerstimmen gellten in jener fremdartigen Sprache, die für ihn ebenso leicht zu erkennen und zu unterscheiden war wie für einen Chinesen Deutsch, Spanisch oder Ungarisch. Minuten später wurde auch gegen seine Wohnungstür gehämmert. Matthias hielt sich die Ohren zu, zog sich verängstigt die Decke über den Kopf. Immer wieder diese Schreie, vermischt mit den polternden Treppenstufen. Im Halbschlaf fiel ihm siedend heiß ein, dass er als Untermieter seit einigen Tagen alleine in der Wohnung des Ehepaars Falke lebte. Seine Hauptmieter waren in den Urlaub gefahren, die Wohnung unter ihm stand noch leer, auch vom Hauseigentümer hatte er schon ewig nichts mehr gehört. Dann hörte er aus dem Hof einen Motor heulen. Matthias überwand seine Angst, schlich seitlich zum Fenster und zog den Vorhang leicht zurück, um einen sehr kurzen und vorsichtigen Blick hinaus zu wagen. Gerade lang genug, um einen gelblich-orangenen Käfer davonfahren zu sehen. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf, als er zum Bett zurück trabte und sich dabei mit seinen unförmigen Zehen fast im Telefonkabel verhedderte. In welchen tiefen Abgrund drohte er da hineingezogen werden?

Am nächsten Vormittag verbarrikadierte sich Matthias in seinem Zimmer, ignorierte das Telefon ebenso wie die Hausklingel. Wie oft es läutete, wagte er nicht zu zählen. Erst als gegen Abend nahm er seinen ganzen Mut zusammen, packte rasch ein paar Sachen zusammen und tastete sich durch den Hausflur knarzend Stufe um Stufe nach unten. Er öffnete die Haustür, kletterte über eine Mauer im Hinterhof, um über zwei Schleichwege hinunter bis zur Handschuhsheimer Landstraße zu gelangen. Über Weinheim und Bensheim trampte er Etappe für Etappe nach Norden, um in der späten Nacht die wohl gehütete Endstation seiner Reise zu erreichen: Frankfurt-Oberrad, wo seine Mutter lebte. Zum Glück schienen seine Fahrer nichts von der Gefahr zu ahnen.

Am nächsten Morgen prangte auf den Frankfurter Boulevardzeitungen das verschwommene Antlitz eines asiatischen Mannes. Seit Wochen galt er als vermisst, von einer, vielleicht sogar mehreren Entführungen war die Rede. Es gab kaum eine Spur. Matthias überflog die Schlagzeilen und Aufmacher, fand schließlich den Hinweis einer Zeugin, die am Frankfurter Stadtwald einen abgestellten orangenen Käfer mit Heidelberger Kennzeichen bemerkt haben wollte. Mensch, das konnte doch kein Zufall sein! Zudem bot die Polizei eine mehrstellige Belohnung an. Matthias kramte das Päckchen aus der inneren Jackentasche, trennte es sorgsam mit dem antiken Brieföffner seiner Mutter wie mit einem Skalpell auf. Wozu studierte er Medizin und hatte in Fernsehkrimis immer wieder beobachtet, wie man so etwas macht? Natürlich schützte er zudem seine Hände, um keine Spuren zu lassen. Versteht sich ja von selbst, wenn man in Heidelberg-Handschuhsheim wohnt.

Als sich Matthias durch das Zeitungspapier durchgearbeitet hatte, traute er seinen Augen nicht: Ein beiges Stoffkörbchen, bestickt mit phantasievollen Sternenmustern, dass sich geheimnisvoll anfühlte. Und dann dieser Inhalt: Mehrere Goldkettchen mit Anhängern in der Form von Tempeln und Pagoden. Wurde Ku Bong deshalb entführt? Vorsichtig schloss er das mit Dampf geöffnete Päckchen.

Noch am selben Nachmittag saß Matthias im Büro von Hauptkommissar Otto Wiesinger, der seine Aussagen zu Protokoll nahm.

„Sie sagen also , Sie kannten Ku Bong überhaupt nicht? Und diesen Vaclav? Den haben Sie doch sicher schon mal gesehen? Ich meine, woher kannten sich die beiden? Und wie oft hat man seit vorgestern Abend bei Ihnen geklopft und geläutet?“

Matthias schüttelte den Kopf. „Und meine Belohnung?“

„Das hängt davon ab, wie wertvoll Ihre Aussagen für uns sind. Die Heidelberger Kollegen werden sofort Ihr Haus in Heidelberg durchsuchen. Ich hoffe, Sie haben nicht versucht, das Päckchen zu öffnen?!“ Wiesinger musterte scharf sein Gegenüber mit der aufgesetzten Unschuldsmiene.

Am Ende musste sich Matthias mit 150 Mark zufrieden geben. Ku Bong wurde nicht gefunden, auch die durchsuchten und durchwühlten Wohnungen und Keller in Handschuhsheim brachten keine Erhellung. Nach ein paar Wochen kehrte Matthias nach Heidelberg zurück. Wahrscheinlich hätte er den Fall irgendwann vergessen, hätte er nicht die bildhübsche tschechische Studentin Jana kennengelernt. Man war das toll, der angehenden Medizinerin aus einer alten Prager Goldschmiedefamilie so ein tolles Schmuckstück zu verehren! Matthias hatte nicht nur das Stoffkörbchen penibel abfotografiert, sondern der Polizei eines der fünf Goldkettchen unterschlagen. Offenbar unbemerkt, wie es schien. So ein Schlawiner! Jana würde es ihm danken. Sie würde ihn in das Geheimnis fernöstlicher Goldschmiedekunst einführen und ihm vielleicht sogar erklären, was es mit den geheimnisvollen Sternenmustern auf dem Stoffkörbchen auf sich haben könnte.

Eine Woche später fand Matthias im Briefkasten eine Postkarte: Sein Kommilitone Jochen bat ihn, ihm bei seiner Hausarbeit zu helfen. Jochen wohnte in der Schiffgasse, eine Nebenstraße der Hauptstraße. Von eben dort kam Matthias, der wie immer vorher im Friseursalon Schehrle vorbeigeschaut und die dort jobbende Eleonora um fünf Minuten verpasst hatte. Auf dem Weg zu Jochen musste Matthias an der Garageneinfahrt des Nachbarhauses vorbeigehen. Plötzlich, spürte er, wie sich eine Hand um seinen Hals legte, während sich gleichzeitig eine schwere Eisentür öffnete und Matthias in den stickigen Automief der Garage hineingezogen wurde.

„Wir können dich einfach kaltmachen“, hörte er eine Stimme in asiatischem Akzent sagen und blickte in zwei Augenschlitze, die ihn wie die Klingen von scharfen Messern anblitzten. „Die Polizei würde nicht nach dir suchen, die arbeitet für unsere Seite. Wir geben dir noch eine letzte Chance. Sieh dir gut an, was wir dir jetzt geben. Mach die Hand auf!“

Matthias wollte etwas antworten, aber die Hand hinter ihm legte sich wieder enger um seinen Hals. Die Garagentür wurde aufgestoßen und Matthias mit einem unsanften Schubs nach draußen befördert. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, flüchtete sich Matthias in den nächsten dunklen Hinterhof und öffnete den Umschlag, den man ihm in die Hand gedrückt hatte. Darin befanden sich immerhin 500 Mark. Schweigegeld? Warum war er überhaupt noch am Leben, nach dem, was er mitbekommen hatte? In dem beigefügten Brief war von einer Anzahlung für die künftige Zusammenarbeit die Rede. Warum eigentlich nicht, dachte Matthias. Zumindest hörte sich das, was man da von ihm verlangte, nicht direkt nach Gewalt an.

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Frankfurt am Main/Amsterdam, Gründonnerstag, 44 närrische Jahre später

Wir schreiben das Jahr 2012. Die Welt stand und steht Kopf. Nicht etwa, weil schon beim Kölner Karneval eine Rakete nach der anderen in den Himmel stieg und im Jahr des 75. Geburtstags von DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn auch Generalissimus Kim Jong Un von neuen atomaren Langstreckenraketen träumte, mit denen er die Welt einschüchtern kann. „Das Militär zuerst!“ Mit dieser Doktrin hatte schließlich auch schon sein Vater Kim Jong Il die Armee hochgerüstet und das Volk hungern lassen. Doch die Staatsführung in Pjöngjang brauchte dringend Devisen in Milliardenhöhe, die das Büro 121 des Nordkoreanischen Geheimdienstes durch internationalen Schmuggel, Cyberattacken, mehrstelligen Diebstahl von Kryptowährungen und mafiöse italienische Drogengeschäfte mit Crystal Meth zu beschaffen hatte. Auch der russische Staatschef Wladimir Putin hatte der Welt vier Jahre zuvor mit dem Kaukasuskrieg einen gehörigen Schrecken eingejagt.

Handel durch Wandel? Waldemar Pokroff glaubte schon lange nicht mehr daran. Auch der Frankfurter Hauptkommissar mit russischen Vorfahren zergrübelte sich gerne mal seinen Kopf über die Weltpolitik, wann immer ihm seine Kriminalfälle in der Schattenwelt des Frankfurter Schwarzhandels einmal Zeit dazu ließen. Wobei sich die Szene vor allem rund um den Hauptbahnhof nicht wirklich gewandelt hatte. Heroin und Crack waren sowieso präsent, die Probleme der Obdachlosigkeit, der Beschaffungskriminalität und des Straßenstrichs kamen hinzu. Nun stieg die Angst vor neuen künstliche Stoffen durch den internationalen Drogenmarkt. Und dann waren da noch die revolutionären bis radikalen Proteste der Occupy- und Blockupy-Bewegung, die die Frankfurter Polizei in Atem hielten.

Auch beim ÖPNV wollte sich einfach nichts verbessern. Ein Tunnelblick war und ist hier freilich nicht angebracht. Selbst wenn man in der S- oder U-Bahn feststeckt, der Strom ausfällt und man notgedrungen zum Smartphone als Taschenlampe greift. Aber warum sollte man nicht wenigstens die Gelegenheit nutzen und ein kleines Filmchen schauen, um von dem Frühling des jungen, dynamischen Kollegen und den Tulpen in Amsterdam zu träumen? In der Hauptstadt der nordkoreanischen Halbinsel gab es schließlich nur Kimilsungien und Kimjongilien…..

Kommissar Evangelos Zorbas war bei den Grachten von Chinatown gelandet, dem kleinen holländischen Ableger des New Yorker Chinesenviertels, der bereits seinen hundertsten Geburtstag feierte. Alte und traditionelle Restaurants wechselten sich ab mit neuen und schnelllebigen Snackbars, in der sich die werten Gäste gerade einmal Zeit für eine schnelle Frühlingsrolle nehmen konnten.

Der dunkelhaarige Jungkommissar mit dem südländischen Temperament marschierte weiter durch die Zeedijkstraat, vorbei an dem großen Buddhatempel, und bewunderte die Löwen und Drachen vor den Eingangstüren der nicht weniger aufwendigen Gourmettempel. Plötzlich zupfte ihn jemand von hinten an der Jacke und versuchte, sich an ihm vorbeizudrücken. In diesem Moment wurde das Bild undeutlich, verschwommen, bis die Kamera schließlich ganz aus ging……

„Waldemar, was machst du denn?“ Die Stimme von Carola Pokroff klang eindringlich und genervt. „Kannst du nicht einmal das Ding ausschalten?“

„Damit uns schwarz vor Augen wird? Was soll ich sonst tun, als in mein Smartphone zu schauen, wenn wir wegen irgendeiner so genannten Verzögerung im Betriebsablauf schon seit einer gefühlten Ewigkeit in der dunklen S-Bahn im Tunnel zwischen Konstabler- und Hauptwache festsitzen?“, knurrte Hauptkommissar Waldemar Pokroff und kratzte sich quer durch die ergrauten Bürsten seines Hinterkopfes. Dabei dachte der 54-jährige wieder an die gemeinsame Pressekonferenz der Polizei und der Städtischen Verkehrsbetriebe. Um mehr Sicherheit vor Vandalismus war es dabei gegangen, aber auch um mehr Transparenz bei den ganz alltäglichen Behinderungen im Nahverkehr. Doch was er gerade wieder erlebte, war alles andere als hoffnungs- und vertrauenserweckend.

„Waldemar, du übertreibst mal wieder….“

„Tue ich nicht. Aber Evangelos hat uns so ein schönes Video von seinem Ausflug nach Amsterdam geschickt, da konnte ich einfach nicht widerstehen. Er lässt auch dich herzlich grüßen.“

„So, so. Wie geht’s ihm denn?“ Carolas kritischer Blick hellte sich etwas auf, sie strich sich eine braungetönte Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Offenbar sehr gut, denn unser Casanova simst mir gerade von einem heftigen Ferienflirt mit einer Chinesin, die er im einschlägigen Viertel kennengelernt hat.“

„Du meinst doch nicht etwa im Rotlichtviertel De Wallen?“

„Nein, im chinesischen Viertel beim Nieuwplein, wo er seinen Film aufgenommen hat. Dort ist wenigstens was los. Und nicht so wie hier. Ach, sag mal, was trägst du da eigentlich so Goldiges am Arm?“ Pokroffs Blick fiel auf das glitzernde Armbändchen seiner Frau, das abwechselnd mit Dom-, Römer- und Bembelanhängern bestückt war.

„Ach, das hat mir meine Freundin Silvia von ihrer Reise aus München mitgebracht.“ Pokroff warf einen augenzwinkernden Blick auf die blondierten Strähnen seiner charmanten fünf Jahre jüngeren Gattin, die sich in ein bordeauxrotes Frühjahrsgewand gehüllt hatte.

„Okay, es ist nur messingvergoldet, und im Souvenirshop waren die Kettchen mit der Frauenkirche, dem Rathaus auf dem Marienplatz und dem Bierkrug offensichtlich ausgegangen.“ Nun konnte auch Carola ein Schmunzeln nicht länger unterdrücken. „Aber immer noch filigraner als deine schwere Präzisionsuhr mit Leuchtzifferblatt, das du mir jetzt sicher am liebsten vorführen würdest. Aber keine Sorge, eher geht dir ein Licht auf als dass das Licht im Zug ausgeht.“

Pokroff streifte mit pikiertem Blick den Ärmel seines dunkelgrauen Jacketts über seinen Chronometer, als habe er plötzlich etwas zu verbergen. Die S-Bahn fuhr langsam wieder an, passierte die unterirdischen Innenstadtstationen, um nach dem Hauptbahnhof ans Tageslicht zu kommen. Nach der Station Galluswarte erhaschte Pokroff einen kurzen Blick auf einen Sonnenstrahl, der sich in dem bronzefarbenen Tower 180 spiegelte. Langsam breitete sich im Europaviertel der Rohbau des Skyline Plaza aus, schon seit Wochen äußerten die umliegenden Händler Befürchtungen, das Shopping Center könnte ihnen die Kunden und Gewinne abspenstig machen. Doch Pokroff kamen ganz andere schreckliche Erinnerungen: Vor kaum dreieinhalb Jahren hatte man nur wenige Meter vom Center entfernt vor dem Seoul Shop in der Hohenstaufenstraße eine junge Frauenleiche mit durchschnittener Kehle gefunden. Es war die Leiche einer grazilen fernöstlichen Schönheit. Und es war der Beginn eines Falles, der anders als der Tod des Museumsdirektors Werner Klotzhofer und die Jagd nach der Ikonenmafia keine Erfolgsgeschichte für den Hauptkommissar werden sollte. Pokroff versuchte die schmerzhafte Erinnerung an dieses Desaster zu verdrängen, das kein Ergebnis, sondern nur einen unschuldigen Menschen zeitweise hinter Gitter gebracht hatte. Doch die Bilder der Leiche und des verächtlichen Blicks des Verdächtigen wollten einfach immer wieder hochkommen. Ebenso wie die Bilder sonstiger gebrochener Inhaftierter, die wochenlang wegen voreiliger Haftbefehle der Staatsanwaltschaft im Untersuchungsgefängnis verbringen mussten und nun als Ankläger der blinden deutschen Justiz durch die Fernsehreportagen geisterten. „Verdammt nochmal, nein, in Frankfurt ist Justitia nicht blind, trägt die Göttin am Römerberg keine Augenbinde“, schimpfte Pokroff in sich hinein. Die feinen Unterschiede in der Darstellung der Figur hatte ihm seine kunsthistorisch ausgebildete Frau einmal erklärt.

Schnell hatte man den damaligen Ladeninhaber des Seoul Shops, genannt „Sitzender Buddha“, als Hauptverdächtigen ausgemacht. Zu oft schon hatte er Ärger mit der Polizei wegen Kassiererinnen ohne gültige Aufenthalts-und Arbeitspapiere gehabt, die ihn ihrerseits wegen angeblicher Hungerlöhne hatten anzeigen wollen. Wie leicht wäre er in die Situation gekommen, eine dieser Mitarbeiterinnen einfach aus dem Weg zu räumen? Pokroff selbst hatte ihn festnehmen lassen, da er zur Tatzeit zunächst kein nachprüfbares Alibi vorweisen konnte. Doch dann entpuppte sich die Schönheit als Artistin des Staatlichen Zirkus aus Pjöngjang, der gerade in diesen Tagen in Frankfurt eines seiner seltenen europäischen Gastspiele gab. Natürlich hatte die Artistin gültige Visumspapiere und war mit dem Seoul Shop und seinem Inhaber nicht länger in Verbindung zu bringen.

Während der Sitzende Buddha freikam und die Zirkusmannschaft in kollektive Staatstrauer ausbrach, musste die K11 den Fall an das Bundeskriminalamt abgeben. Während erste hoffnungsvolle Spuren in der internationalen organisierten Kriminalität eher in die Irre führten, suchte man die Täter parallel wieder im Frankfurter Rotlichtmilieu, denn Asiatinnen waren dort durchaus gefragt. Womöglich kam es zu einem Zwischenfall, als man die junge Dame verschleppen, ihr die Papiere abnehmen und sie zur Prostitution zwingen wollte. Doch in den einschlägigen Etablissements konnte man niemandem etwas nachweisen. Nach einigen weiteren langen und mühseligen Ermittlungen und diplomatischen Verwirrungen mit der nordkoreanischen Botschaft wurde den Fall schließlich zu den Akten gelegt.

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Julius Bechthold saß wie gebannt vor seinem Laptop. Mit jedem weiteren Klick ins Internet öffneten sich für den Nerd mit Käsegesicht neue Fenster mit knalligen roten und gelben Bannern, Sternen , Hammern und Sicheln. Es war einfach zu spannend, kreuz und quer durch die Abgründe der Geschichte des Kalten Krieges zu surfen. Dann öffnete sich auf dem Bildschirm eine weiträumige schwarzweiße Satellitenkarte, die ganze Landstriche oder gar Regionen abzubilden schien. Doch das Bild wurde undeutlicher, fast verpixelt, als er sich versuchte, näher heranzuzoomen. Nur von „Camps“ war immer wieder die Rede. Was für Camps? Der 16-jährige musste es unbedingt herausfinden, koste es was es wolle. Er klickte sich auf neuen Homepages und Foren ein, versuchte sich mit immer neuen Codewörtern und vergaß dabei Raum und Zeit. Bis in eine schrille Stimme im Hintergrund in die Realität zurückbeamte.

„Julius, wie sieht’s aus? Dein Vater muss ja heute wieder Nachtschicht schieben. Ich wollte jetzt gerade das Essen richten. Kannst du in zehn Minuten runterkommen?“, fragte Verena Bechthold.

Julius blickte nach hinter sich, spitzte die Ohren und nahm zunächst war, dass seine Mutter offenbar nicht die ganze Treppe bis in sein Zimmer hinauflaufen wollte, sondern sich mit den untersten Stufen begnügte, von wo sie ihn mit ihrer lauten Stimme deutlich erreichen konnte.

„Okay, gib mir bitte zwanzig Minuten. Ich sitze noch an einer ziemlich komplizierten Recherche für mein Bioreferat“, log er. Als er daraufhin nichts weiter als ein leicht genervtes „Na schön“ vernahm, versenkte er sich wieder ganz in den unendlichen Weiten seiner virtuellen Welt. Eine Welt, die er sich manchmal gerne so schuf, wie er sie sich wünschte und träumte. Doch wollte er unbedingt wissen, was es mit diesen Camps auf sich hatte. Gleichzeitig erwachte in ihm das Jagdfieber. Irgendwann konnte er der Versuchung nicht mehr widerstehen knackte schließlich ein geheimes Insiderforum, das sich hinter einer scheinbar unüberwindbaren Firewall verbarg. Doch was erblickte er nun? Wo er ein Chatforum zu seinem neuen Lieblingsthema erwartet hatte, öffnete sich nur ein Bild von einer antiken Frauenstatue aus dem Louvre, die mit der linken Hand einen Rehbock bei den Hörnern packte. Darunter stand kurz und bündig: „Wohlauf, die Jagd ist eröffnet!“ Julius versuchte sich zu besinnen. Die griechische und römische Antike zählte nicht wirklich zu seinen Interessensgebieten. Aber irgendein Frauenname schien ihm durch den Kopf zu schwirren….

„Julius!“

Nein, nochmal konnte er seine Mutter nicht ignorieren. Zumal gerade ein verführerischer Grillduft durch das Treppenhaus waberte. Verena hatte schnell noch ein paar übrige Wildschweinbratwürstchen von der gestrigen Grillparty durch die Pfanne gejagt. Ein gutes Omen, dass er auf der richtigen Spur war, dachte Julius.

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Pokroff quälte sich noch immer mit den Erinnerungen an das Versagen von Polizei und Justiz, als der Zug am Bahnhof Rödelheim ankam. Warum konnte der Mord an der Zirkusartistin nie aufgeklärt werden? Unwillig klopfte er sich die Haarschuppen von den Beinen und schwor sich, nie wieder eine dunkle Flanellhose anzuziehen. Carola versuchte ihm auf dem Weg durch den Stadtteil in die Wirklichkeit zurückzuholen, was ihn aber nur dazu brachte, sich einmal mehr an die jüngsten Großeinsätze wegen Occupy Frankfurt zu erinnern. Dunkelgrau senkte sich der Himmel über das Niddaufer, als das Ehepaar durch den Brentanopark streifte und aus den Schatten der Dämmerung schemenhaft das Petrihäuschen mit dem berühmten Ginkgobaum auftauchte. Routiniert griff Carola nach dem Gedichtbüchlein in ihrer Handtasche, wenngleich sie die viel zitierten Verse eigentlich auswendig kannte:

Ginkgo Biloba

Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut,

Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?

Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich Eins und doppelt bin?

Carola drehte sich um und sah ihren Ehemann erst in einigen Metern hinterherkommen. Immerzu murmelte er irgendetwas Unverständliches vor sich hin, was sich nach unbewältigter Arbeit anhörte.

„Waldemar, wo bleibst du denn? Und hörst du mir überhaupt zu?“

„Sicher, mein Schatz, …dass ich eins und doppelt bin. Vermutlich Goethe, wenn du es so feierlich rezitierst. Und der Ginkgo kommt aus China. Was ich weiß, da wir uns vor einigen Jahren mal dieses wunderschöne Ginkgomuseum in Heidelberg angesehen haben.“

„Waldemar, das war das Bonsaimuseum. Die Bonsaibäumchen kommen übrigens wie der Ginkgo aus Japan und nicht aus China.“

„Ach so, pardon. Ich habe da eher die Bäume vor Augen, die aus dieser Hausruine in der Ottostraße hinterm Hauptbahnhof herauswachsen. Das ist nun mal mein Revier. Die letzten Tage gehen mir einfach nicht aus dem Kopf. Die Demonstrationen der Autonomen in der Innenstadt und die zerschlagenen Schaufensterscheiben. Und dann die ungelösten Drogenprobleme. Nicht nur im Bahnhofsviertel werden die Passanten immer dreister von Dealern bedrängt und bedroht, sondern auch rund um die Hauptwache und das Allerheiligenviertel. Die meisten können wir dank unserer nachsichtigen Justiz nicht einmal einsperren, so lange wir sie nur mit geringen Mengen von weichen Drogen erwischen.“

„Du hast Urlaub, mein Schatz.“

„Schon gut, aber Christiane hat heute und morgen Bereitschaft. Die kann sich frühestens am Karsamstag etwas erholen und mit ihrem Grafen in die Wohnresidenz im Mühlbergschloss zurückziehen. Zumal unser griechischer Kollege ja auch unterwegs auf Freiersfüßen ist.

Apropos: Wenn man vom Teufel spricht…“, soeben nahm Pokroff einen Handyanruf von besagter Person entgegen. Minutenlag brachte er nur ein wiederholtes kurzes „Ja“ aus sich heraus. Der tempermamentvolle Südländer überschüttete ihn offensichtlich mit einem Wortschwall und ließ ihn gar nicht richtig zu Wort kommen. Dann aber fasste er sich endlich ein Herz: „Nein, du kleiner Schwerenöter, sie passt ganz bestimmt nicht zu dir. Schon gar keine Kantonchinesin. Die ernähren sich doch dort sogar von Hunden und Katzen, wenn es sein muss. Da müsste es dir als Feinschmecker unter den Griechen doch glatt den Magen umdrehen. So, und jetzt atme einmal tief durch und vergiss die ganze Sache! Hier in Frankfurt warten so viele hübsche griechische und deutsche Mädchen auf dich! Ich muss mich jetzt um meine bessere Hälfte kümmern und meinen Osterspaziergang machen. Mamma mia!“ entnervt schaltete Pokroff sein Handy aus.

„Was ist denn nun schon wieder passiert?“, fragte Carola etwas genervt.

„Man, du glaubst es nicht, aber dieser Casanova hat mich jetzt von einer Autobahnraststätte bei Köln angerufen. Er war auf einem Tagestripp in Amsterdam und wollte mal wieder den Helden und Lebensretter spielen. Nur weil sich bei einer Stadtführung durch das Chinesenviertel eine junge und aufgelöste Chinesin an ihn drangehängt und ihn angefleht hat, ihn zu ihrer verlorenen Reisegruppe am Hauptbahnhof zu führen. Offenbar hatte sie ihre Gruppe verloren, sich verlaufen und war von in einer dunklen Gasse von einem perversen Typen belästigt worden. Dabei hat sich unser Casanova hoffnungslos in die Kleine verknallt und ist nun ganz enttäuscht, als sie plötzlich vom Gruppenleiter angerufen und gebeten wurde, sich an einen anderen Treffpunkt zu begeben. Und zwar so schnell, dass sie nicht mal die Adressen austauschen konnten.“

„Tja, Sachen gibt’s….“

„Der Kerl spinnt doch. Aber an dich hab ich eine ganz andere Frage: Warum bitte müssen wir den Osterspaziergang schon am Gründonnerstag machen?“

„Da sieht man mal wieder, dass du gar keine Ahnung hast. Unser Osterspaziergang findet erst am Sonntag am Mainufer statt. Jetzt aber laufen wir am Rödelheimer Niddaufer und sind gerade am Petrihaus vorbeigegangen, wo Goethe Clemens und Georg Brentano besucht und die Inspiration für das Ginkgobaumgedicht gefunden hat. Und jetzt geht es weiter zu den Spuren unseres christlichen Abendmahls.“

Für einen Moment riss die Wolkendecke auf und ein Stück dunkelblauer Himmel zeigte sich. Nun zeichneten sich die hellen Konturen der evangelischen Cyriakuskirche ab. Pokroff schnaufte, musste dann aber kurz schmunzeln. „Nun bin ich auch noch reif für die Insel“, stellte er fest, als er die Nidda überquerte.

Vor der Kirche hatte sich eine Gruppe von Aktivisten postiert, die ihre Flugblätter und Infobroschüren verteilten. Offenbar eine Mischung aus Einheimischen und Ausländern, wie es schien. Während die ältere Frau mit ihrem „Ei Gude“ auffiel, mit dem sie zumindest die bekannten Kirchgänger bedachte, verbeugten sich ihre jüngeren Kollegen mit einem höflichen Lächeln, gaben sich aber sonst eher zurückhaltend.

„Brüder, ihr seid eingeladen, alle ohne Unterschied, weil der Herrgott nicht auf Staaten, nicht auf Rang und Rasse sieht. Darf ich Ihnen eine Broschüre von und mitgeben?“, hob die ältere Dame nun in etwas feierlichem Ton an.

„Wie bitte?“, fragte Pokroff irritiert zurück.

„Mein Name ist Anna Bergmann, ich gehöre zur Cyriakusgemeinde. Darf ich bekannt machen, Eckhard Richter von der Petersgemeinde. Und mein junger Kollege links von der Koreanischen Gemeinde heißt Yun Jae-Nam. Er ist leitender Handelsvertreter für Samsung Electronics in Frankfurt. Wir alle gehören zur World Unity Mission, einer ökumenischen Organisation, die sich für Frieden, Freiheit und Welteinigkeit einsetzt. Sie erinnern sich noch an die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche?“

„Ja, sicher. Aber was hat das mit dem Gottesdienst an Gründonnerstag in der Cyriakusgemeinde zu tun?

„Nach dem Wunder der Auferstehung sandte Christus seine Jünger in die Welt, um mit seiner neuen Religion Teilung, Spaltung und Uneinigkeit zu überwinden. Wer auf ihn baut und auf seinen Frieden setzt, kann die Welt verändern. Weil die Menschen in der Kirche gebetet haben, sind die befürchteten Eskalationen im November 1989 ausgeblieben. Und was danach kam, wissen Sie.“

„Sie meinen, dank Christus wurde Deutschland friedlich wiedervereinigt? Und andere Staaten vielleicht auch?“ Pokroff warf Yun einen vorsichtigen prüfenden Blick zu.

„Wir sind ganz und gar unpolitisch. Wir beten nur für den Frieden und die Einheit der Menschheit.“ Der junge Mann verbeugte sich höflich lächelnd und verabschiedete sich mit einem respektvollen Blick zu Anna Bergmann.

Am Eingang zur Cyriakuskirche ließen sich der Kommissar und seine Frau kurz die Hände mit warmem Wasser waschen, wie es zum rituellen Mal am Gründonnerstag im alten Israel üblich war. Doch statt sich gleich zum Gottesdienst zu begeben, nahm Pokroff seine bessere Hälfte kurz zur Seite, um mal wieder ihr enzyklopädisches Wissen anzuzapfen.

„Carola, ich bin sicher, du weißt, wer die da draußen sind, oder?“

Carola überlegte einen Moment. „Frau Bergmann ist in Frankfurt nicht ganz unbekannt. Zusammen mit Gleichgesinnten lud sie damals zu Gebetsgottesdiensten in den Kirchen und beteiligte sich an den Begegnungsnachmittagen mit den ersten DDR-Reisenden kurz nach der Maueröffnung. Die so genannte friedliche Wende schreiben die sich dank ihres geistigen Beistandes auf ihre Fahne.“

„Und dieser junge lächelnde Herr?“

„Er gehört vermutlich zu einer asiatischen evangelikalen Friedensbewegung, die vor allem von Vietnamesen und Koreanern gegründet wurde. Später schlossen sich auch einige Jemeniten, Iren und Deutsche an. Darunter vermutlich auch die Gruppe von Frau Bergmann.“

„Okay, aber was haben all diese Länder gemeinsam? Sie waren oder sind geteilt, häufig erst seit dem Krieg, aber niemals schon seit Hunderten von Jahren. Früher, im Mittelalter oder gar in der Antike hat es so etwas nicht gegeben.“

„Du vergisst, dass schon das Heilige Land unter Salomos Söhnen geteilt wurde. In ein Nordreich Israel und ein Südreich Juda. Und selbst zu Jesu Zeiten wurde noch zwischen Judäa, Galiläa und Samaria unterschieden.“

Pokroff schmunzelte. „Oh, was wäre ich nur ohne meine neunmal kluge Ehefrau?“

Als Carola und Waldemar Pokroff den Kirchsaal betraten, erklang melancholische Klezmermusik, die die Organistin auf dem Klavier spielte. Die Kerzen am siebenarmigen Menoraleuchter flackerten und leuchteten die spätgotische Kapelle des Querschiffs mit ihren prächtigen Epitaphien aus.

„Es ist wichtig, dass wir uns an die Ursprünge unseres Abendmahls erinnern, dass seine Wurzeln im hebräischen Pessachmahl hat“, verkündete Pfarrer Klaus Baumgartner und begrüßte die 80 Gäste, die sich an zwei schmalen Tischen drängten. Darunter auch das Ehepaar Pokroff, das mit Mühe noch zwei Plätze nebeneinander am linken Tisch ergattern konnte.

„Gelobt seist du ewiger, unser Gott, Weltregent, der uns aus allen Völkern erwählt“, hob Pfarrer Baumgartner nun an und zitierte aus der Haggada, dem religiösen Leitbuch der Juden für das Pessachmahl. Die Gemeinde in Rödelheim hatte einen ganz eigenen, weithin akzeptierten Weg für dieses Gedächtnismahl an Gründonnerstag gefunden, der nicht als kulturelle Aneignung betrachtet wurde. Pokroff blickte unauffällig zu seiner Ehefrau, schaute sich ab, wie man Mazzenbrot bricht und bittere Petersilie in Salzwasser taucht. „Gott sprach zu Abraham: Wohl sollst du wissen, dass deine Nachkommen unstet sein werden in einem ihnen nicht gehörenden Lande, wo man sie dienstbar machen und bedrücken wird.“

Plötzlich sprang ein junger dunkelhaariger Mann mit Dreitagebart von seinem Platz hoch, starrte mit aufgerissenen Augen in die Runde. „Verdammt, was interessiert mich das alles! Ich bin es, der bedrängt und bedrückt wird und der keine Heimat hat. Nicht mal meine eigene Mutter hält mehr zu mir.“

„Was erlauwe Sie sisch hier, des is’n Gottesdienst und kaan Mensch tut Ihne was!“, protestierte Gerda Schön, die normalerweise als gute Seele der Gemeinde bekannt war. „Wer sin sie iwwerhaupt? Herr Parrer, saache Se doch aach mal was!“

Noch ehe der entsetzte Pfarrer einschreiten und etwas sagen konnte, war der Mann schon zur Kirchentür gestürmt. Pokroff spannte seine Beinmuskeln an, wollte aufspringen und hinterhereilen. Doch die Enge der Tischreihen hinderte ihn ebenso wie seine Frau, die ihn sanft am Oberarm packte: „Das ist doch nur ein verrückter Wichtigtuer, der provozieren will“, zischte sie.

„Nein, Carola, er verstößt entweder gegen Anstand und Ordnung, oder ist in Not und braucht unsere Hilfe!“, rechtfertigte sich Pokroff, während er sich seinen Weg aus der Mitte der Reihe freikämpfte und mit entschuldigender Geste über die Beine der Damen und Herren neben ihm stieg.

„Nun bleiben Sie doch mal stehen!“, rief Pokroff dem jungen Mann hinterher, während er aus der Tür rannte. Doch er konnte gerade noch die dunkle Silhouette des jungen Körpers sehen, der hinter einer Wegebiegung des Brentanoparks in die Dunkelheit entschwand. Pokroff rannte ihm ein Stück hinterher, holte dabei schnaufend Luft. Doch inzwischen war der Himmel schwarz wie die Nacht und die Straßenbeleuchtung alles andere als ausreichend. „So ein Mist!“, fluchte er halblaut vor sich hin und trat frustriert den Rückweg an. Kurz vor der Kirche kam ihm eine mittelgroße Frau mit grau meliertem zusammengeknotetem Haar entgegen.

„Ach herrje, Sie sind ja ganz außer Atem. Nun lassen Sie mal, der verrückte Kerl ist doch nicht ganz dicht, das hab ich doch gleich gesehen.“

„Kennen Sie ihn etwa?“, hakte Pokroff nach.

„Ich glaube, ich habe ihn gestern im Camp von Occupy Frankfurt gesehen. Wir sind dort ins Gespräch gekommen, er hat über die Allmacht des Kapitalismus und sein verpfuschtes Leben geklagt, und ich hab ihm von unserer Gemeinde und dem Gottesdienst heute Abend erzählt.“

„Sie kennen nicht den Namen oder die Adresse des jungen Mannes?“

„Nein, leider nicht.“

„Ich bin übrigens Kommissar Pokroff von der Kriminalpolizei. Der Mann muss nicht verrückt oder gefährlich sein, aber wir beobachten mit Sorge, dass sich immer mehr Gestrandete, Ausgestoßene und Radikale in die Szene der Camper mischen. Und Sie sind Frau Bergmann von der World Unity Mission, so weit ich in der Dunkelheit erkennen kann.“

Anna Bergmann war dazugekommen und nickte. „Ich wohne in der Rödelheimer Landstraße. „Warten Sie, mein Ausweis…“

„Lassen Sie, schon gut. Gehen Sie schon mal rein, ich komme gleich nach.“

Pokroff zückte sein Handy, um einen jungen Kollegen des Kriminaldauerdienstes anzuklingeln. „Schröder, Sie haben doch Bereitschaft. Ein wahrscheinlich geisteskranker junger Mann, der sich von allen bedroht fühlt, ist gerade aus der Cyriakuskirche gerannt und durch den Brentanopark Richtung Alt-Rödelheim verschwunden. Eine Zeugin kennt ihm vom Occupy-Frankfurt-Camp. Wahrscheinlich steigt er in die S-Bahn und kommt an der Taunusanlage wieder raus. Verständige doch bitte die zuständigen Reviere in Rödelheim und in der Innenstadt, ihr Gelände im Auge zu behalten. Okay, ciao.“

Pokroff ging zurück, in den Kirchenraum, wo seine Frau bereits von Gerda Schön und ihrer Freundin Margarethe beköstigt wurde. „Ei Sie Armer“, rief Frau Schön dem Kommissar entgegen. „Hawwe Se ihn net mehr gefunne?“ Pokroff schüttelte den Kopf. „Ei, dann setze Sie sisch doch erst mal un probiern die leckere Grie Soß! Des is’n Hausrezept von maaner Mudder.“

Pokroff langte in die nebenstehende Schüssel, ließ die heiße Riesenkartoffel wenige Sekunden später in die aufgeschöpfte Grüne Soße fallen und bespritzte die bordeauxrote Kostümjacke seiner Frau. Der Pfarrer beruhigte die Gemeinde, sprach ein kurzes Gebet für den armen Verirrten da draußen, ehe er mit dem Ritual des Pessachmahls fortfuhr und schließlich zum christlichen Abendmahl überleitete. Doch die andächtige Stimmung war dahin und Pokroff zudem der Appetit auf Grüne Soße vergangen. Und seine bessere Hälfte war sichtlich genervt.

„Kannst du nicht einmal abschalten?“, fragte ihn Carola auf dem Heimweg. „Und warum guckst du mir immerzu auf die Füße? Willst du die etwa in deine Ermittlungen einbeziehen?“

„Entschuldigung, mein Schatz, unser einer ist halt immer im Dienst“, beschwichtigte Pokroff. „Mir ist an Hand deiner süßen Sandaletten nur wieder eingefallen, dass der junge Mann so komische Heilandssandalen trug, in denen man seine nackten Füße sehen konnte. Aber das hat nichts weiter zu bedeuten.“

Nun konnte sich Carola ein leises Kichern nicht verkneifen. Während der Pfarrer seinen Segen sprach, kaute Pokroff noch sein Stückchen Mazzenbrot zuende. Dann machte er sich mit seiner Frau auf den Heimweg.

Abends wollte sich Pokroff zuhause noch die Spätnachrichten im Fernsehen ansehen. Dass er es nicht tat, sollte er später noch bereuen. Doch bevor er sich schlafen legte, hob er noch einmal flehend den Kopf und blickte in den schwarzen Frankfurter Nachthimmel: „Bitte, bitte, kein Mord zu Karfreitag! Und wenn möglich ein bisschen Osterfrieden für unsere Stadt.“ Dabei waren die Hoffnungen des Kommissars gar nicht mal unberechtigt. Denn es hatte im bisher noch jungen Jahr 2012 laut offizieller Statistik noch keinen einzigen Mord gegeben – ein Novum in dieser Stadt seit mindestens 30 Jahren!

Und siehe da, Pokroffs Gebet wurde erhört. Es blieb ruhig. Gleich am nächsten Morgen verband er seinen Spaziergang mit einem Ausflug in die Taunusanlage, wo er das Occupy-Camp aufsuchte und sich zu einem Ordner mit Namen Carsten führen ließ. Pokroff vermied es, den Hauptkommissar heraushängen zu lassen. Er stellte sich augenzwinkernd als besorgter Bürger vor, der einem sonderbaren Ereignis nachgehen wollte, das er gestern nach Feierabend erlebt habe. Ob jemand einen dunkelhaarigen jungen Mann mit Dreitagebart gesehen habe, der offenbar aus Rödelheim kommt? Kopfschütteln. Pokroff konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er Carsten und seinen Kumpel Richard betrachtete, die es sich als „Ordner“ in ihrem Zelt in den alten Ledersesseln der 1970er Jahre doch sehr bequem gemacht hatten und sich wie die Chefs von einer hübschen brünetten Aktivistin mit Namen Jetta einen Tee servieren ließen.

„Na Jetta, wie sieht’s aus? Alles im grünen Bereich?“, erkundigte sich Carsten. Den Namen sprach er dabei aus, als rede er von einem Düsenjet.

„Abgesehen davon, dass meine Geldbörse immer noch weg ist. Ich glaube, die hat mir jemand geklaut. Am liebsten würde ich…“

„Aber das hast du doch nicht etwa getan? Die können wir hier am wenigsten gebrauchen. Lieber helfe ich dir mit etwas Kohle aus.“

Jetta lächelte verlegen. Und auch Pokroff musste schmunzeln. Er hatte genau verstanden, dass Jetta und Carsten zu jenen Occupy-Leuten gehörten, die einen Diebstahl niemals anzeigen würden, weil sie die Polizei fürchteten wie der Teufel das Weihwasser. Weniger erheiternd fand er hingegen eine Darstellung im Gemeinschaftszelt: Die Oberbürgermeisterin, der hessische Ministerpräsident und die Bundeskanzlerin als heilige Dreieinigkeit, die vor dem Kapitalismus zu Kreuze kroch. Sollte das etwa Karfreitag sein? Etwas irritiert aber höflich bedankte sich der verkappte Kommissar, zu lange wollte er seine Carola an jenem höchsten Feiertag des Jahres nicht warten lassen.

Es blieb auch an den folgenden Tagen und Nächten ruhig. Ein paar afrikanische und asiatische Missionare verkündeten das Auferstehungswunder auf der Zeil, eine Koreanerin beschwerte sich auf dem Polizeirevier, sie fühle sich beobachtet und verfolgt, seit sie sich im Gallus für die muttersprachliche Gemeinde und einen kulturellen Freundeskreis ihrer Heimat engagiere. Doch die Spur verlief im Sand. Sogar die linken Tierrechtler, die sich neuerdings Antispeziesisten nannten, schalteten beim Ostermarsch einen Gang zurück. In den Occupyzelten feierten die Aktivisten symbolisch die Kreuzigung des Kapitalismus und die Wiederauferstehung der Menschenrechte. Trotzdem fuhr der gewissenhafte Kommissar zwischenzeitlich noch ins Präsidium und ließ ein Phantombild von dem jungen unbekannten Mann anfertigen. Man konnte schließlich nie wissen.

In der Nacht zu Ostermontag passierte dann doch noch etwas. Ein junger Banker wollte ausgerechnet in den Feiertagen aufdrehen und Party gegen das Tanzverbot feiern. Auf dem Heimweg von einer halbprivaten Sause im Gutleutviertel brach er zusammen und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die Ärzte in der Uniklinik diagnostizierten einen Kreislaufschock , den sie auf einen Giftcocktail aus Alkohol und der Partydroge Speed zurückführten. Kurz darauf starb der Mann. Kein Mord. Aber sicher eine Überdosis. Nun hieß es wachsam sein – vor allem in der Sonderkommission für Drogeneinsätze.

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Montag, 14. Mai 2012

Bae Chang-Sik liebte es, auf Holz zu klopfen. Fachwerk war eben doch ein einfacher aber ehrlicher und erdverbundener Baustoff, im fernen Osten ebenso wie im europäischen Westen. Bae war nicht strenggläubig, aber er liebte die morgendliche Stille und Meditation, und er war froh, dass er sich durch sein Engagement für seine Landsleute einen Schlüssel für seinen eigenen reinen Holzschrein sichern konnte, wie er selber den schmucken Pavillon nahe des Zugangs zum nördlichen Universitätscampus gerne nannte. Ein stiller Rückzugsort, den er vor allem kurz nach Sonnenaufgang gerne nutzte, noch bevor eine Stunde später die ersten hektischen Lieferanten an die Ladentür seines Geschäfts „The Seoul Shop“ klopfen würden. Dann begann das hektische Treiben, kamen die ersten Kunden, die bei ihm nach der Essenz der koreanischen Halbinsel suchten. Denn „Seoul“ bedeutete für sie so viel wie „Seele“. Auch wenn es wörtlich übersetzt eigentlich nur „Hauptstadt“ hieß.

Der Koreanische Garten im Grüneburgpark war ein koreanisches Gastgeschenk zur Buchmesse 2005 und ergänzte zusammen mit dem 1989 eingeweihten Chinesischen Garten des Himmlischen Friedens in Frankfurt das Ensemble fernöstlicher Philosophie, Botanik und Architektur. Bae Chang-Sik hoffte, hier noch viele Jahre frühmorgens ungestört meditieren zu können. Hätte er ahnen können, dass der Chinesische, der Koreanische Garten und der Goetheturm schon bis zum Ende des Jahrzehnts einem verblendeten Feuerteufel zum Opfer fallen würden? Die Polizei vermutete einen Zusammenhang zwischen den Brandanschlägen, konnte jedoch den oder die Täter trotz vieler Anstrengungen und Bemühungen nicht ermitteln.

Bae Chang-Sik schlug den Moktak, die kleine koreanische Schlitztrommel, und summte sich in stiller Ekstase in den tiefen immergleichen monotonen Rhythmus des Herz-Sutras.„ Tsa ri saek bul i gyong“ rezitierte er die Lehre eines bekannten Zen-Meisters: „Form ist Leere, Leere ist Form.“ Wer so mit seinen Wahrnehmungen und Empfindungen umzugehen lernt, kann alles Leiden überwinden. Mit einem Blick auf die beiden Kraniche, die vor dem Hintergrund der anbrechenden Morgenröte auf einem Wandfächer ihre Runden zogen, beendete Bae seine innere Zwiesprache und nahm einen Schluck Sanjang-Grüntee. Was den buddhistischen Mönchen zur geistigen Erfrischung guttat, sollte auch ihm neue Horizonte eröffnen. Noch einmal klopfte er gegen den Balken, genoss den Klang, der mit der plätschernden Melodie des Karpfenteichs harmonierte, in dem die Enten gemächlich ihre morgendlichen Runden schwammen. Mit geschickter Hand ertastete Bae eine zwei Zentimeter breite Öffnung in der Hanji-Verkleidung des kleinen Fensters. Er kniff seine Augen zusammen, versuchte, die eigenen Schlitze mit den Papierschlitzen des Fensters zu synchronisieren. Er genoss es sichtlich, zu sehen und nicht gesehen zu werden. Bae griff in seine Manteltasche und holte das kleine messingbeschlagene Nostalgiefernrohr heraus, das er von der Ostsee mitgebracht hatte. Er zog es wie eine Teleskopstange auseinander, justierte die Schärfe mit dem Stellrad und tastete sich über das mattschimmernde Hanji bis zu seinem Sehschlitz heran. Er genoss die Aussicht auf den Weiher, den Park und die Skyline, die sich mit der inneren Aussicht der gesamten Anlage zu einem

geheimnisvollen Gesamtkunstwerk addierte. Er lächelte sanft, um die ersten Strahlen der aufgehenden Morgensonne einzufangen, die sich nun hinter dem Horizont zeigte.

Eher nebenbei blickte Bae auf die Bank neben dem Weiher. Nun sah er sie sitzen – und drehte sogleich am Stellrad, um sie noch schärfer ins Bild zu bekommen. Eine junge Schönheit, von der er von hinten nur das glänzend-schwarze zu einem Zopf zusammengebundene Haar erkennen konnte. Und doch spulten sich vor seinem inneren Auge bereits einige unschöne Bilder ab, die er längst glaubte, aus seinem Langzeitgedächtnis verdrängt zu haben. Bae drehte den Kopf, blickte auf die marmornen und kalkfarbenen Universitätsgebäude, die sich wie Elfenbeinpaläste vor dem kobaltfarbenen Morgenhimmel abzeichneten. Etwas weiter unten war ein Gärtner damit beschäftigt, die Bäume des Parks zu lichten und die abgetrennten Zweige auf eine Schubkarre zu verladen. Es könnte ein einfacher Stadtgärtner sein, womöglich gar ein Ein-Euro-Jobber, dachte Bae. Aber dazu ging er viel zu ruhig und andächtig vor, zelebrierte jedes Aufsammeln wie eine Verbeugung vor der Natur, hob nur ganz kurz den Kopf, um die umliegende Parklandschaft zu sondieren. Nein, das passte einfach nicht.

Auf dem Weg zwischen den wie Marmorpaläste schimmernden Gebäuden des Unicampus Westend tauchte ein junger Mann auf, der sich mit bedächtigem Schritt der Anlage näherte. Bae schob die Papierstreifen seines Schlitzes einen kleinen Fingerbreit auseinander und beobachtete unauffällig, wie sich der Mann der jungen Frau näherte und von ihr ein Kuvert entgegennahm. Beim Abschied schien sie mit ihrem abweisenden Zeigefinger einen Kreis zu beschreiben, um ihn danach noch einmal in Gegenrichtung nachzuzeichnen. So, als wollte sie damit einen anderen Weg anzeigen. Der junge Mann grüßte zum Abschied, ging weiter, vorbei am Pavillon und hielt sich weiter rechts. Aber hatte die junge Dame nicht nach links gezeigt? Was würde nun passieren?

Bae ahnte nichts Gutes. Die junge Frau erinnerte ihn an ein Unglück, das ihn fast seine Existenz gekostet hätte. Er tastete noch einmal das Umfeld um den Weiher ab, schob das Rohr auseinander und wieder zusammen, bis er auch die angrenzenden Büsche ins Visier bekam – und erschrak fast, als er die dunklen Konturen eines Nachtsichtfernglases wahrnahm. Der junge Gärtner im Park war zwischenzeitig verschwunden. Doch hier beobachtete noch jemand, und zwar gezielt und professionell, nicht wie er mit einem Liebhaberstück aus dem Souvenirladen. Hatte er auch den Sehschlitz in Baes Versteck bemerkt? Bae verkroch sich in die hinterste Ecke des Pavillons und wartete noch mindestens eine Viertelstunde, ehe er noch einmal vorsichtig den Schlitz auseinanderdrückte und mit dem Rohr die Umgebung abtastete. Vom Fernglas war nichts mehr zu sehen. Aber die Uhr lief unaufhörlich weiter. Er musste es einfach wagen. Bae packte die Teetasse ein, öffnete ganz langsam die Tür und trat hinaus . Eine Taube flog erschrocken vom geschweiften Walmdach auf, während eine Krähe weiter den Papierkorb durchstöberte und durch nichts aus ihrer geschäftigen Ruhe zu bringen war.

Bae verließ die Anlage und spazierte den unteren Parkweg hinab. Für ihn stand fest, dass er dieses Mal unsichtbar bleiben wollte. Unsichtbar, für die Guten ebenso wie für die Bösen. Und das um jeden Preis.

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Frühmorgens gegen sieben Uhr wurde Pokroff aus dem Schlaf gerissen. Endlich hatte er sich einmal einen freien Tag nehmen können. Doch von wegen Ausschlafen! Pokroff hatte vergessen, die Dienstmelodie seines Festnetztelefons von Preußens Gloria auf Mozarts kleine Nachtmusik umzustellen. Deshalb klang ihm die Wecktirade gleich doppelt so laut in den Ohren. Mühsam tastete er mit der rechten Hand nach dem Telefonhörer.

„Christiane, was ist denn los? Du weißt schon, dass ich heute frei habe, nicht wahr?“

„Ja, sorry, aber unser verwirrter Parkmörder hat wieder zugeschlagen. Und du hast doch vor ein paar Wochen den Fall behandelt, ich meine den….“

„Christiane, das ist noch lange kein Grund, mich so früh zu wecken. Außerdem haben wir in diesem Jahr keinen Mörder, schon vergessen? Neulich im Rothschildpark, das war ein Verrückter, der mit einer gestohlenen Knarre herumgefuchtelt und eine Passantin angeschossen hat. Wahrscheinlich der Verfolger von dem Durchgeknallten, der uns kurz danach in der Cyriakuskirche erschreckt hat. Aber unser Rothschildschütze ist inzwischen in der Geschlossenen und kann kein Unheil mehr anrichten. Und was wollen wir wetten, dass auch dieses Mal niemand umgekommen ist?“

„Mal langsam, ein Jogger hat das Revier verständigt, weil er kurz vor dem Abgang zur Bundesbank einen Mann gesehen hat, der geschrien und sich ruckartig an die Seite gegriffen hat. Dann ist er zusammengebrochen .“

„Bei der Bundesbank? Oh nein, nicht schon wieder ein Anschlag, der mit Occupy und dem Kapitalismus zu tun hat. Was hat der Jogger gesehen? Und von wo aus hat er das Revier verständigt?“

„Offenbar hat der Täter aus einem dieser dicht bewachsenen Gehölzinseln zugeschlagen. Du weißt doch diese…..“

„Oh nein, hör mir damit auf! Ich weiß, eine Bürgerinitiative will die Fällung all dieser krummen Minibäume und Dornenhecken verhindern, wenn demnächst der Park saniert wird. Und für potentielle Attentäter, die aus dem dichten Gestrüpp operieren, sollte sie dann auch die Verantwortung übernehmen. Aber deshalb wird doch keiner umgebracht. Gut, erzähl weiter.“

„Wie denn, wenn du mich ständig unterbrichst? Also wie schon gesagt, der Täter operierte aus der Deckung des Gestrüpps heraus. Einmal konnte ihn der Jogger kurz sehen, als er aus den Büschen auftauchte. Er beschreibt ihn als eine kleine bis mittelgroße Gestalt mit Strumpfmaske, aber flink und behende wie eine Katze. Natürlich kehrte der Jogger in der Panik um und hat erst aus etwa 150 Metern Entfernung unsere Kollegen alarmiert.“

„Und was passierte dann?“

„Bis die Kollegen vom Revier kamen, war der Täter natürlich schon über alle Berge. Aber auch vom Opfer fehlt verrückterweise jede Spur. Nicht mal eine Blutspur fand sich am vermeintlichen Tatort. Als hätte sich der Niedergeschossene in Luft aufgelöst. Bislang fehlt dafür jegliche plausible Erklärung. Es gibt eigentlich nur noch eine Möglichkeit.“

„Nämlich?“

„Das Opfer hat seinen Zusammenbruch nur vorgetäuscht und sich tot gestellt. Und der Täter ist danach flink wie ein Wiesel geflüchtet, natürlich in der sicheren Annahme, seine Schüsse hätten gesessen. Weshalb er die Jagd freilich beenden konnte.“

„Nun lass es mal gut sein mit deinem Jägerlatein. Du siehst, es ist wie ich sage. Wieder kein Toter, also auch wieder kein Mörder. Frankfurt wird eine saubere und sichere Stadt.“

„Also jetzt reicht’s, verarschen kann ich mich auch ganz alleine.“ Wütend knallte Christiane von Erbenstein den Hörer ihres Diensttelefons auf. Noch wütender wälzte sich jedoch Pokroff in seinem Bette, bis er sich klarmachte, dass an Einschlafen nicht mehr zu denken war. Wenigstens musste er seine bessere Hälfte nicht mit seiner Unruhe stören, denn Carola war zu ihrer Mutter nach Darmstadt gefahren. Brummend schälte sich der Kommissar aus dem Bett, setzte seinen Kaffee auf und füllte sich ein Müslischälchen mit Milch. Er ließ einige Minuten verstreichen, ehe er seine Kollegin Christiane von Erbenstein zurückrief und sich für seine kauzigen Kommentare am frühen Morgen entschuldigte. Die Kommissarin reagierte zwar noch etwas verstimmt, zeigte sich dann aber versöhnlich, weil sie wusste, dass die vergangenen Tage für ihren Chef sehr anstrengend waren.

„Okay, Waldemar, wir werden das Gelände weiterhin gründlich absuchen. Und fahren anschließend noch beim Jogger zu Hause vorbei, um seine Beobachtungen zu Protokoll zu nehmen. Er heißt übrigens Arthur Jansen. Vielleicht war ja doch alles nur ein Missverständnis.“

Pokroff sagte im Gegenzug zu, bei Bedarf an einem anderen Tag freizunehmen und wenigstens zur Mittagszeit im Präsidium zu erscheinen. Dass er schon bald an einem anderen Tatort gebraucht werden würde, konnte er in diesem Moment freilich nicht ahnen.

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Das graue Schmuddelwetter hatte den Kampf verloren. Der zunehmend blaue Himmel spiegelte sich im Fluss, die goldenen Zinnen des Main Plaza glitzerten in der Sonne. Dottor Luigi flanierte durch die Arkaden des Trapezio Fiorentino und blickte hinüber zum Colosseo. „Da haben wir ja wirklich Little Italy im Kleinformat“, grinste er und dachte an jene Zeiten, als sich noch der altehrwürdige Schlachthof über das Gelände im Deutschherrnviertel erstreckte. Als Sohn einer italienischen Partisanenfamilie aus den Abruzzen gönnte sich Dottor Luigi nun den ersten ausgedehnten Frankfurter Stadtspaziergang seit vielen Jahren. Der Investor klappte sein Smartphone auf und überprüfte den Straßenverkehr auf der Mainzer Landstraße, wo er sich dank der Software einer von ihm kontrollierten IT-Sicherheitsfirma in die Videoüberwachung der schwenkbaren Speed-Dome-Kameras über den Eingängen der Bankentürme einloggen konnte. Plötzlich erblickte er auf dem Display eine Kolonne mehrerer Polizei- und Rettungswagen, blickte hinüber zur nördlichen Mainseite Richtung Dom, wo die Martinshörner nicht mehr zu überhören waren. Schnell tippte er eine Nummer ein: „Mensch Beppi, du musst die Aktion abbrechen, die Polente ist schon im Anmarsch. Irgendwas ist da schiefgelaufen!“ Dann aktivierte Luigi schnell eine weitere Nummer – hoffentlich klappt der Trick, dachte er.

Keine zehn Minuten später stürzten sich Polizei und Rettungskräfte bereits in ihre Arbeit. Nadine Engelthal, die stadtbekannte Designerin für Edelschmuck, war in ihrem Sessel am Strandcafé Lido di Francoforte zusammengebrochen. Zusammengekrümmt lag sie da, den Kopf nach rechts abgewinkelt, mit bleichem Gesicht und aufgerissenen stahlblauen Augen. Der typische Gesichtsausdruck eines zähen aber vielleicht noch nicht vergeblichen Todeskampfes. Der Notruf eines Passanten und seine Aussage, Nadine Engelthal habe kurz vor ihrem Zusammenbruch noch von einem feigen Anschlag gesprochen, hatte die Polizei alarmiert. Das mittelblonde Haar flatterte der reglos daliegenden Frau lose über die Schulter. Zur türkisfarbenen Bluse mit goldglitzernden Knöpfen trug sie eine edle Seidenhose mit aufgestickter Renaissance-Malerei. Es waren Motive von Sandro Botticellis„Geburt der Venus“, die gerade ihrer Muschel entstiegen war. Rechts neben der Toten kläffte ein weißer Pudel – ein bisschen zu modisch frisiert, aber doch bemitleidenswert, wie das Tier um sein Frauchen trauerte und zwischendurch immer wieder herzzerreißend winselte. Während die ersten Schaulustigen dazukamen, versuchten die Sanitäter bis zur Herzmassage alles, um wenigstens die elementaren Lebensfunktionen der Designerin aufrechtzuerhalten.

„Schnell, wenn wir sie nicht umgehend in die Unfallklinik fahren, droht Tod durch Herzstillstand“, rief einer der Rettungssanitäter der Kommissarin Christiane von Erbenstein entgegen. So sehr war diese auf die Tote und ihren armen Pudel konzentriert, dass sie nur am Rande vernahm, was sich derweil in der oben gelegenen Osteria Portonuovo abspielte: „Yoko, du blöde Gans, du bist gefeuert! Nichts bringst du auf die Reihe, machst alles kaputt, rechnest falsch ab und vergraulst die Kunden! Mach gefälligst, dass du Land gewinnst, du hohle Nuss!“ Kurz darauf rannte eine flennende junge Asiatin hinaus und war um die Ecke am Mainufer verschwunden.

„Die Kleine hat sie doch vorhin noch bedient. Aber wie kann Frau Engelthal so plötzlich zusammengebrochen sein? Man meint gerade, jemand hätte ihr was in den Café getan“, hörte die Kommissarin plötzlich eine wohl bekannte Stimme hinter ihr.

„Lisa Naumann, was machen Sie denn schon wieder hier? Journalisten haben hier keinen Zutritt, und sobald wir erste Ergebnisse mitzuteilen haben, lädt mein Chef Sawinski zur Pressekonferenz, das wissen Sie ganz genau!“, erklärte die Kommissarin forsch.

„Entschuldigung, aber ich hatte einen Termin mit Frau Engelthal vereinbart. Wir kennen uns über eine gemeinsame Freundin. Was glauben Sie, wer den Krankenwagen gerufen hat? Ich wollte ein Porträt von ihr bringen, und jetzt ist sie so gut wie tot, wie furchtbar! Wie konnte das nur passieren?“

„Ach so. Gut, wenn Sie einen Termin hatten, dann sind Sie ja schon seit einigen Minuten hier“, entgegnete die Kommissarin, nun in gemäßigter und versöhnlicher Tonlage. „Was haben Sie von dem tragischen Ereignis hier mitbekommen?“

„Ich kam gerade rechts vom Westhafen Tower und sah Frau Engelthal über die Treppe von der Osteria dort oben herunterkommen. Auf dem Weg rief sie noch etwas der Chinesin oder Japanerin zu, die sie dort bedient hat. Es war sonst wenig Betrieb, deshalb ist mir das sofort aufgefallen. Dann machte es sich Frau Engelthal auf dem Liegestuhl am Strand bequem. Ich wollte sie gerade ansprechen, als sie plötzlich diesen Schreikrampf bekam und leblos zusammensackte. Nur kurze Zeit später zerbrach die Kellnerin in der Osteria ein Glas und wurde hochkant rausgeworfen. Schon komisch. Aber was ist wohl die Todesursache? Vielleicht ein Herzanfall? Ich meine, sie soll ja was am Herz gehabt haben, auch wenn sie das in der Boulevardpresse immer wieder bestritten hat. Aber ich könnte wetten, die Kellnerin hatte das Glas von Nadine , ich meine Frau Engelthal in der Hand…“

„Haben Sie das genau beobachtet?“

„Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher. Was meinen Sie, das sieht doch wirklich so aus, als hätte ihr jemand was in den Kaffee getan?“

Nun blickte die Kommissarin die Journalistin wieder etwas entgeistert an. „Sie wissen genau, dass wir Angaben zu Todesursache erst nach der Obduktion machen können. Bis dahin bleiben uns nur vage Anhaltspunkte und Spekulationen. Das kann aber in diesem Fall durchaus ein vorübergehender Herzstillstand aus gesundheitlichen Gründen gewesen sein. Ich habe da auch mal was von starken Kreislaufproblemen bei Frau Engelthal gehört. Auch Selbstmord können wir zumindest theoretisch nicht ausschließen. Oder aber jemand hat da ganz bewusst nachgeholfen. Hatte Frau Engelthal vielleicht irgendwelche Feinde?“

Lisa Naumann zögerte etwas. Als gewiefte Journalistin ahnte sie schließlich immer mehr, als sie offiziell eigentlich erfuhr. „Nicht dass ich wüsste“, erklärte sie vorsichtig und zögerte etwas. „Aber für Selbstmord hatte sie bestimmt keinen Grund. Im Gegenteil: Sie wollte gerade ihre neue Kollektion Engelsblau vorstellen. Eine Kollektion, inspiriert durch die Farben der Cote d’Azur. Da wir aber nicht extra nach Cannes runterfliegen können, haben wir uns eben hier an diesem aufgeschütteten Traumstrand verabredet. Hier wollte sie die Edelsteine durch ihre Finger gleiten lassen…..“

„Es ging wirklich nur um die Kollektion selbst? Oder auch darum, dass Frau Engelthal in der Zunft der Schmuckdesignerinnen auch die ein oder andere Feindin hatte? Man hat auch da ja in letzter Zeit so einiges gehört.“

„Nicht doch, nicht doch. Das wird alles nur aufgebauscht.“ Geschickt verstand es die Journalistin in diesem Moment der Anspannung, den kleinen Anflug an Eifersucht und Wut zu unterdrücken, der sie gerade überkam. Schließlich hatte nicht sie die Geschichte über die konkurrierende Designerin gebracht, von der Nadine Engelthal angeblich einige Entwürfe abgekupfert hatte, sondern die Kollegin eines konkurrierenden Blattes. Und das nur, weil Lisa Nauman mal schnell noch ein paar freie Tage abfeiern wollte. „Nein, ich denke, Feinde hatte Frau Engelthal nicht. Wenn ihr jemand das Leben schwer gemacht hat, dann ist das ihr Sohn.“

„Ihr Sohn?“ Christiane von Erbenstein schüttelte etwas irritiert den Kopf. Gab es denn keine so genannte Family mehr mit halbwegs normalen Verhältnissen?

„Na klar, der Georg. Sie verweigert ihm doch seit einiger Zeit jegliche finanzielle Unterstützung, so dass er vor kurzem seine Wohnung aufgeben musste und nun mehr oder weniger obdachlos durch Frankfurt zieht. Der Georg hat übrigens auch mal im Lido gejobbt.“

„Interessant! Das wollten Sie doch sicher in Ihrer Geschichte auch groß bringen, oder?“

„Schon möglich. Aber jetzt ist die Geschichte eine ganz andere, wenn auch eine sehr schockierende. Deshalb muss ich schnell zurück an meinen Schreibtisch. Die Konkurrenz schläft nicht. Und wenn schon ganz Frankfurt im Bilde sein soll, dann bitte doch durch mich und mein Blatt…“

„Schon gut, schon gut, aber Sie müssten morgen Vormittag nochmal zur protokollarischen Vernehmung aufs Präsidium kommen. Ihre Nummer habe ich ja noch irgendwo.“ Die Kommissarin erzwang sich ein verlegenes Lächeln. „Und nicht vergessen, dass der zuständige Polizist von der Pressestelle hier selbst vor Ort seinen Dienst tut und erst am späteren Nachmittag wieder erreichbar ist. Aber wenn Sie sich noch etwas länger gedulden, vielleicht können wir nach ihrer Vernehmung schon ein paar erste Eindrücke über die Obduktion weitergeben. Ist das ein Deal?“

Journalistin Naumann zwinkerte anerkennend mit den Augen. „Ja, danke. Das geht schon in Ordnung.“

Während sich Lisa Naumann mit einem höflichen Gruß verabschiedete, trat der junge Kommissar Evangelos Zorbas von rechts heran, begleitet von einem mittelgroßen schwarzhaarigen Kellner mit dickem Schnauzbart. „Hallo Christiane, ziemlich tragische Geschichte, nicht wahr? Die Spusi konnte bisher nur Fußbabdrücke im Sand sicherstellen, die von den hochhackigen Schuhen der Toten oder von den Schuhen der Kellner stammen. Ich habe übrigens Ahmed mitgebracht, der sich komischerweise überhaupt nicht erinnern kann, dass die Tote von ihm oder sonst einem Kollegen aus dem Lido bedient wurde. Das kommt mir ziemlich seltsam vor, aber..

„Schon in Ordnung, unsere Journalistin Naumann hat mir gerade erklärt, dass Frau Engelthal, so heißt die Tote, in dem Lokal dort oben bedient wurde. Offenbar von einer Chinesin oder Japanerin, die kurz nach ihrem Zusammenbruch noch das Glas mitgenommen haben will. So, als ob da was drin gewesen wäre. Aber warum bestellt sie dort und kommt dann hierher? Sie können mir das vielleicht erklären, Ahmed?“

Der türkische Kellner schluckte, zögerte mit seiner Aussage. „Eine seltsame Angewohnheit von Frau Engelthal. Sie kommt zu uns an den Lido, bestellt aber den Kaffee oben im Portonuovo. Der schmeckt ihr da offenbar besser.“

„Und das erlauben Sie? Das ist doch bestimmt verboten, oder?“, hakte Zorbas nach.

„Na ja, nicht so ganz. Schließlich gehört der Lido Salvatore Marinelli und das Portonuovo seinem Bruder Franco. Auch wenn die beiden Brüder etwas entzweit sind, weil sich Salvatore meist in Bologna aufhält und Franco den Lido quasi mitverwaltet. Zudem hat sich Franco kürzlich in der Cider Rider Lounge oben im Westhafen Tower eingemietet und seinem Bruder die begehrte Lokalität gleich nebenan weggenommen. Aber was will man bei dieser arroganten Schmuckdiva machen, die doch erwartet, dass ihr jeder ihre Wünsche von den Augen abliest. Ehe sie hier rumkeift und die anderen Gäste vergrault, da drücken wir halt lieber ein Auge zu.“

„Okay, wie auch immer. Aber ist Ihnen sonst noch etwas Besonderes aufgefallen?“, fragte Kommissarin von Erbenstein nach.

„Nein, sonst nicht“, antwortete der Kellner.

„Okay. Aber sagen Sie, was passiert eigentlich dem gottverlassenen Hund da?“ Kommissarin von Erbenstein hatte mal wieder ihr Herz für Tiere entdeckt.

„Na was wohl? Entweder gibt es Angehörige, die sich um ihn kümmern, oder wir lassen ihn nach Fechenheim ins Tierheim bringen.“ Etwas ratlos blickte Zorbas seine Vorgesetzte an.

„Kommt gar nicht in Frage. Frau Naumann sagt, Engelthals Sohn wird sich bestimmt nicht um diesen armen Pudel da kümmern. Der ist nämlich mit seiner Mutter über Kreuz und vagabundiert irgendwo zwischen Wolkenkratzern und Anlagenring hin und her. Den werden wir später auch noch finden müssen. Aber zunächst kümmere ich mich um den oder die Süße da. Der Frisur nach zu urteilen ist es wohl eher eine Pudeldame.“

„Na, dein Graf wird sich freuen. Auf der Jagd verwendeten die Adeligen schließlich Dackel, aber keine Pudel.“

„Ich verbitte mir solche Bemerkungen. Es geht hier um einen armen verlassenen Hund , der einer Toten gehörte. Und wer weiß, wofür wir ihn noch brauchen.“ Streng blicke die Kommissarin ihren jungen griechischen Kollegen an, zu dem sie sonst ein durchaus freundschaftliches Verhältnis pflegte. „Okay, die drei Jungs dort von der Spurensicherung werden das Gelände hier weiträumig absperren, weiter untersuchen und sich dann die Osteria vornehmen. Die anderen beiden begleiten uns, während wir schon mal hochgehen, um die Lage dort zu checken.“ Gesagt, getan. Während drei der Herren in ihren weißen Overalls ganze Arbeit leisteten und keinen Stein auf dem anderen ließen, gingen die anderen beiden mit den Kommissaren vorsichtig um die Außentreppe herum und steuerten die obere Kaffee- und Weinbar an.

„Christiane von Erbenstein von der Frankfurter Kriminalpolizei. Und das ist mein Kollege Evangelos Zorbas“, rief die Kommissarin einer dunkelhaarigen Kellnerin mit Pferdeschwanz entgegen, während die Spurensicherer bereits die Theke ins Visier nahmen. „Können wir bitte Ihren Chef sprechen?“

„Einen Moment“, rief die Kellnerin, die sich als Paola Aldiani vorstellte. „Franco!“

Franco Marinelli war ein mittelgroßer Mann von etwas untersetzter Statur und kugeligem Bauch. Trotz dieser Figur fegte er wie ein Blitz herbei, schien für einen Moment sogar zu vergessen, dass er eigentlich der Chef war und sonst die Leute nach seinem Gusto kreuz und quer durch seine Bar zu jagen pflegte, geradewegs vorbei an den Fotomotiven mit Filmstars aus der Traumwelt der römischen Cinecittà, die mit ihren Lamborghini durch die Albanerberge rasten . Franco hatte diesen typisch zweideutigen Blick: Wie auf Knopfdruck konnte er für seine Gäste ein gefälliges Lächeln aufsetzen, um nur wenige Minuten später wieder den kommandierenden Blick eines Napoleons aufzunehmen und seine Untergebenen zu scheuchen. Natürlich hatte sich Franco in diesem Fall für das erste der beiden Gesichter entschieden.

„Prego, was kann ich für Sie tun? Eigentlich habe ich gar keine Zeit. Aber wenn hier in der Nähe etwas Schlimmes passiert und die Polizia kommt, dann ist das natürlich eine Ausnahme.“

Kommissarin von Erbenstein wies mit ihrer Hand geradeaus auf den Sandstrand der unten gelegenen Botschaft, von wo Nadine Engelthal gerade abtransportiert wurde. „Sie haben ja mitbekommen, was da unten passiert ist. Wir müssen herausfinden, wo, wie und im Zweifelsfall durch wen Frau Engelthal zusammengebrochen ist. Komischerweise behaupten unten alle, sie hätte ihren Kaffee bei Ihnen hier bestellt.“

„Ja, das ist richtig. Der schmeckt hier bei uns auch viel besser. Frau Engelthal hat den Kaffee , das heißt, ich meine natürlich den Latte Macchiato, immer hier oben bestellt und dann mitgenommen.“

„Und bei wem bitte hat sie den Latte Macchiato bestellt?“

„Das war bei Yoko, unserer Japanerin. Ausnahmsweise haben wir mal jemanden von Asien angestellt, und dann…“

„Die müssten wir dringend sprechen. Sie wurde nämlich beobachtet, wie sie das leere Glas von Frau Engelthal weggetragen hat“, insistierte Evangelos Zorbas.

„Das geht leider nicht.“ Franco setzte nun eine fast weinerliche Miene auf. „Ich habe die Signorina nach Hause geschickt. Sie fühlte sich nicht gut.“

„Das können Sie erzählen, wem Sie wollen. Mehrere Zeugen unten haben gesehen oder zumindest gehört, dass Sie heftig mit der jungen Dame gestritten und Sie einfach gefeuert haben. Offenbar nur, weil sie ein Glas zerbrochen hat“, entgegnete Christiane von Erbenstein.

„Ja, nun, was soll ich sagen. Das ist mir jetzt wirklich unangenehm. Aber das war nicht das erste Mal, dass Yoko so etwas passiert ist. Erst hält sie sich nicht an den Dienstplan und tauscht die Schicht mit der Kollegin, ohne mir Bescheid zu sagen. Und dann haben sich die Gäste ständig beschwert, weil sie Bestellungen falsch aufgenommen hat, sich beim Kassieren verzählt hat und…“

„Entschuldigung, aber das stimmt nicht. Yoko hat uns alle immer tadellos bedient. Auch Frau Engelthal hatte sicher nichts zu beanstanden“, rief ein Gast vom Nachbartisch herüber, der kurz von seinem großformatigen Buch aufschaute. „ Es war unnötig, sie nach Hause zu schicken, und es ist genauso unnötig, dass ihr jetzt die Polizei hinterherläuft und ihr irgendetwas unterstellt. Yoko war immer sehr höflich und zuvorkommend, hat uns sogar immer sehr professionell die Tageskarte erklärt. Sie war keine dahergelaufene Aushilfskraft, selbst wenn ihr mal ein Glas zu Bruch gegangen ist. Und wenn Sie sich mit ihr nicht verstanden haben, dann müssen Sie das schon auf Ihre eigene Kappe nehmen.“

Franco versuchte sich mit einer weiteren entschuldigenden Geste aus der Situation zu retten, während sich Zorbas nun an den Gast wandte.

„Sie kannten neben der Kellnerin also auch die Tote etwas näher, Herr ..?

„Zander. Emil Zander, passend zu den Straßennamen am Fluss. Nein, wirklich näher kannte ich Frau Engelthal nicht. Aber sie war Stammgast, ebenso wie ich. Wir grüßten uns täglich und wechselten gelegentlich ein paar Worte. Aber das war alles eher oberflächlich.“

„Wie lange sitzen Sie schon hier und was ist seit dem passiert?“

„Ich bin seit etwa einer halben Stunde hier. Passiert ist gar nichts, soweit ich sehen konnte. Wenngleich mich dieser Bildband über brasilianische Kunst und Design ziemlich in Beschlag nimmt. Schauen Sie doch selbst- diese Dreiecke und Vierecke, die sich ineinandergeschoben zu Stern- und Trapezmustern ergänzen und zum Leitmotiv auf verschiedenen Firmenlogos auftauchen. Einfach genial. Hab ich von einem Freund bekommen. Man munkelt ja bereits in unseren Kreisen, Brasilien würde nächstes Jahr der Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse werden. Schauen Sie doch selbst….“

„Danke, später vielleicht. Im Moment müssen wir uns auf unsere Ermittlungen konzentrieren. Stand die Dose mit dem Süßstoff vorher auf Ihrem Tisch?“ Zorbas blickte Zander prüfend an.

„Ja, sicher. Die habe ich Frau Engelthal herübergereicht. Sie meinen doch nicht, dass in der Dose etwas drin war und dass ich…“

„Nun, ich hoffe nicht. Oder hatten Sie etwa einen Grund?“

Betretenes Schweigen, dann ein weiterer erst indifferenter, dann aber entschuldigender Blick.

„Nein, so war das nicht gemeint, aber wir müssen natürlich jeder Spur nachgehen. Wie heißt eigentlich Ihr Freund und wann ist er genau vorbeigekommen?“

Zander lächelte verlegen. „Keine Ursache, ich kann das verstehen. Sie machen nur Ihre Arbeit und…“

„Kommen Sie häufiger am Vormittag hierher zum Kaffeetrinken? Ich meine, viele Menschen müssen um diese Zeit arbeiten.“

„Ich bin schon im Vorruhestand und mit meiner Zeiteinteilung flexibel. Ich bin Networker im internationalen Kulturmarkt. Zusammen mit meinem Partner und Freund Alfred Kühn organisiere ich das Forum Frankfurt Skyline Projects und bringe Künstler, Kulturschaffende und Kunstsammler zusammen. Franco Marinelli unterstützt uns dabei. Haben Sie nicht Lust, einmal vorbeizuschauen? Sie interessieren sich für Kunst?“

„Sicher doch. Als Grieche sammle ich natürlich antike Vasen.“ Zorbas zwinkerte mit den Augen und überlegte kurz. „Nein, meine wahre Leidenschaft ist fotorealistische Malerei. Aber sagen Sie bitte, Frau Engelthal war zufällig wohl auch Mitglied in diesem Netzwerk, oder?“

„Nur noch unregelmäßig, seit ihre Erzfeindin Bella Modenbach regelmäßig an unserem Stammtischen teilnimmt. Aber ich weiß eine fotorealistische Malerin, die morgen Abend mal wieder kommen wollte. Schauen Sie doch einfach vorbei.“ Zander schob dem jungen Kommissar eine Visitenkarte über den Tisch.

„Danke, sehr gerne. Aber kommen wir zurück zu unserem Vorfall hier. Sie haben die Szene offenbar genauer beobachtet. Haben Frau Engelthal und Yoko vielleicht gestritten?“

„Nein, bestimmt nicht.“

„Oder haben Sie sonst noch etwas Auffälliges beobachtet?“

„Nichts, was Sie nicht schon wüssten. Das heißt, vielleicht doch. Zwischendurch sah ich aus dem Westhafen Tower einen Mann herauskommen. Zunächst ging er ruhig und entspannt. Doch dann näherte er sich mit etwas schnelleren Schritten der Mole, wo er ein Boot bestieg und zügig davonsauste.“

„Können Sie den Mann beschreiben?“

„Leider nicht, ich konnte ihn nur kurz etwas deutlicher und auch dann nur von hinten sehen. Er trug einen weißen Leinenhut und eine Sonnenbrille. Ich war aber auch abgelenkt, konnte ja nicht ahnen, was passieren würde. Frau Engelthal saß jedenfalls schon längst unten am Strand, als Yoko mit dem Tablett zurückkam. Kurz darauf ist sie gestolpert, und ein Glas ist zu Bruch gegangen. Das kann doch jedem mal passieren. Wenn Sie doch nochmal einen Blick in das Buch von meinem Freund….!

„Herr Zander hat völlig Recht, natürlich kann jedem mal ein Glas zu Bruch gehen“, schaltete sich Christiane von Erbenstein in die Vernehmung ein. „Herr Marinelli, ich habe meine Zweifel, ob es berechtigt war, sie deshalb gleich zu entlassen.“

„Sie haben gut reden. Sie war zu mir oft frech und unzuverlässig. Außerdem hat sie nicht nur das Glas kaputtgemacht, sondern auch noch die Caffettiera, die auf dem Tablett stand.“

„Wieso Caffettiera? Sie haben doch an der Bar eine Espressomaschine?“

„Ja schon, aber die streikt in den letzten Tagen manchmal. Außerdem wünschen manche Kunden den Kaffee handgebrüht aus der Caffettiera.“

„Ach so. Wie auch immer, wir haben einen ungeklärten Anschlag zu untersuchen und müssen Yoko deshalb schnellstmöglich finden und sprechen“, insistierte von Erbenstein. „Denn die Kellnerin ist natürlich eine unserer Hauptverdächtigen. Dafür brauchen wir ihre Adresse und wenn möglich auch noch ein Foto. Ach ja,…“, von Erbenstein rief nach Klaus Wagner, dem größten der drei Kollegen von der Spurensicherung. „Habt ihr das zerbrochene Glas oder die Teile der defekten Kanne schon gefunden?“

Wagner zuckte mit den Achseln. „Hier drin gibt es gar kein Altglas. Und draußen auf der Terrasse liegen auch nirgendwo irgendwelche Teile oder Splitter. Das haben die offenbar alles schon fortgeschafft.“

Derweil kam Marinelli mit einem gelben Klebezettelchen und sogar einem ausgedruckten Werbefoto der Weinbar zurück. „Hier bitte sehr, die Straße und Handynummer von Yoko. Ich kann sogar mit einem Bild dienen. Natürlich hat sich unsere Prinzessin aus dem Land der Morgenröte nicht so einfach ablichten lassen. Aber vorgestern habe ich mal einen Probeschuss für unseren neuen Prospekt gemacht. Und da habe sich sie unten am Bildrand mit draufgekriegt, ohne dass sie es gemerkt hat.“

Die Kommissarin nahm das Bild mit prüfendem Blick entgegen. Zum Glück, dachte sie, war Lisa Naumann jetzt nicht mit dabei. Denn die würde dann gleich wieder etwas vom Recht am Bild faseln und dass sie als Journalistin so etwas niemals dürfte.

Derweil nahm Zorbas ihr das Bild ab und warf einen kurzen prüfenden Blick auf den unscharfen Ausdruck. Das Gesicht war nicht gerade klar zu erkennen, doch wenn es sonst keine Japanerin in der Nähe gab, dann wäre es einen Versuch wert. „Na ja, danke, besser als nichts. Da drüben in der Werftstraße steht ein Taxi. Wenn sie dort vorbeigelaufen ist, könnte sie der Taxifahrer gesehen haben.“ Noch bevor die Kollegin reagieren konnte, war der junge Kommissar schon losgesprungen. Zum Glück zwang ihn die Routine dazu, sich ganz auf den Fall zu konzentrieren und aufkommende Erinnerungen an die Chinesin in Amsterdam zu unterdrücken, die der jungen Schönheit auf dem Foto zumindest etwas ähnlich sah.

„Wir müssen auf jeden Fall die Caffettiera und die Scherben des zerbrochenen Glases finden und untersuchen. Wohin haben sie die Scherben und anderen Teile entsorgt?“, fragte von Erbenstein.

„Drüben in den großen Containern. Da gehört das Altglas hin und …aber gerade eben, nun, wie soll ich sagen -aber dafür kann ich nun wirklich nichts, Sehen sie selbst.“ Franco Marinelli deutete mit der rechten Hand auf die Friedensbrücke, wo sich gerade ein Müllauto der FES durch den Mittagsverkehr seinen Weg Richtung Sachsenhausen bahnte. Am liebsten hätte die Kommissarin die Beherrschung verloren, aber das konnte sie sich unmöglich leisten. Das wäre nicht nur mehr als unprofessionell, sondern auch einer Gräfin unwürdig gewesen Einen ihrer Einsatzwagen hinterherzuschicken, schien auch keine gute Idee. Ein paar Scherben in einem von mehreren Müllsäcken mit Unmengen leerer Glasflaschen, das kam ihr vor wie die berühmte Nadel im Heuhaufen.

„Na, das ist ja mal wieder großartig gelaufen!“, schrie Zorbas, der zwischenzeitig zürückgesprungen kam.

„Na, das kannst du laut sagen.“

„Nein, wirklich, wir haben Glück. Der Taxifahrer hat gesehen, wie unsere Kellnerin in den Wagen des Kollegen gesprungen ist und ihm laut zugerufen hat, er soll sie heim zur Frauenfriedenskirche fahren.“

„Frauenfriedenskirche? Dort sind doch die Studentenwohnheime. Worauf wartest du dann noch? Schnapp dir einen der Kollegen, ich komme in einigen Minuten nach.“

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Don Justo saß im Lesesaal der Universität „Federico Secondo“ von Neapel und lauschte in freudiger Erregung dem Surren des Microfiches im Lesegerät. „Mamma mia“, entfuhr es ihm, als er sich mit großen Augen durch die Frankfurter Altstadt und das labyrinthische System unendlich vieler roter und blauer Pfeile arbeitete, die allesamt an wenigen zentralen Plätzen wie der Konstablerwache ans Tageslicht führten. ,Vor der Kriegszerstörung gab es dort also ähnlich viele unterirdische Gänge wie bei uns in Neapel“. Keine Frage, er hatte sein Thema für den Vortrag und die Führung gefunden, die er in wenigen Wochen für die Frankfurter Altstadtfreunde halten wollte.

Don Justo, wie man den ergrauten Herr in der Altstadt von Neapel respektvoll nannte, war ein abgebrochener Jurist, der nach einem gescheiterten Examen in Bologna noch ein paar Semester Archäologie und Geschichte in seiner Heimatstadt drangehängt hatte, ehe er sich endgültig für seine Laufbahn als Stadtführer entschieden hatte. Sein Spezialgebiet waren die unzähligen Höhlen, Gänge, Tunnel und Zisternen, die man im Untergrund der kampanischen Hauptstadt unter dem Namen „Napoli sotteranea“ kannte. Stundenlange Rundgänge durch die rund 80 Kilometer langen unterirdischen Gänge etwa 40 Meter unter der Erde waren sein Spezialgebiet. Möglich machten das die Bemühungen der Erben des Stadthistorikers Guglielmo Melisurgo, der seit 1889 das unterirdische Höhlennetz systematisch erforscht und erschlossen hatte. Mittlerweile gab es einige öffentliche Zugänge, etwa auf der Piazza San Gaetano unter der gleichnamigen Basilica. Von durchaus führte Don Justo seine Besucher in die geheimnisvolle Unterwelt und erzählte mit wohligem Gruseln von Munaciello, dem geheimnisvollen Höhlengeist Neapels, der dort unten sein Unwesen trieb und von dort aus gerne in die Keller unter den Häusern eindrang, um die Vorräte zu plündern. Doch man erzählte sich in der Stadt, Don Justo kenne noch viele geheime und verborgene Tunnelsysteme, die längst aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden waren.

„Ciao bello, ti serve un caffè?“ Laura stupste den ergrauten Stadtführer sanft an und erahnte intuitiv, was er nun brauchte, da seine Augenlider nach der stundenlangen Feinarbeit sichtlich schwer geworden waren.

„Man, wie hast du das nur erraten?“ Don Justo blickte die junge Bibliothekarin mit dem dunklen locker zusammengebundenen Pferdeschwanz erwartungsvoll an und sog den Duft des frischen Espresso in sich auf, den Laura auf dem benachbarten Gasherd durch die doppelläufige macchinetta napoletana laufen ließ.

„Eh, du weißt schon, dass das eigentlich verboten ist? Was meinst du, jemand aus Versehen die Tasse umwirft und sich der Espresso über meinen kleinen Schatz ergießt? Don Justo grinste Laura an und schnalzte mit der Zunge.

„Ist ja gut, du Angeber? Du solltest mir dankbar sein, dafür, dass ich dich aus deinem Mitagsschläfchen erlöse? Was hast du denn da so Tolles?“

„Einen Lageplan von dem Frankfurter Tunnelsystem während dem Zweiten Weltkrieg. Das verlief damals unter der Altstadt, als noch niemand etwas von den Wolkenkratzern ahnte, die sie heute Mainhattan nennen.“

„Aha, und wo hast du das her?“ Laura blitzte ihn mit neugierigen Augen an.

„Hat mir ein italienischer Freund aus dem Institut für Stadtgeschichte geschickt. Und das Tolle ist: Ich habe das jetzt schon ganz exklusiv. Denn in Frankfurt wird das erst nächstes Jahr der Öffentlichkeit in einer Ausstellung zum 70. Jahrestag der großen Luftangriffe im Oktober 1943 gezeigt.“

„Ah, ich verstehe. Im Krieg hat man sich ja auch bei uns in die Höhlen geflüchtet. Aber glaubst du nicht, du solltest dich mal ein bisschen mehr der Gegenwart widmen und dir einen lukrativen Job über der Erde suchen. Glaube mir, damit verdient man mehr Geld.“

„Sag so was nicht!“ Don Justos Blick wurde streng. „Glaub mir, wenn ich endlich beweisen kann, dass es auch bei uns in Napoli noch einige bisher unentdeckte Gänge gibt, dann ist das die Sensation! Dann schreibe ich darüber ein Buch und kann viel Geld verdienen. Und du mit mir, wenn du endlich mal in euren Archiven stöberst, wo es bestimmt noch alte Pläne und Aufzeichnungen gibt, von denen die da oben schon lange nichts mehr wissen.“

Laura zwinkerte ihm schelmisch zu. „Va bene, caro. Du weißt, mein Lieber, ich schaue immer, was ich für dich tun kann. Ach übrigens…“

„Ja?“

„Beeile dich mit dem Lesen. Ab morgen ist die Bibliothek für ein paar Tage geschlossen.“

„Wieso denn das?“

„Die Lesegeräte für die Microfiches werden abgeholt. Wir haben es auch erst heute erfahren. Ich hoffe, wir bekommen nochmal neue Geräte. In den nächsten Jahren wird eh unser gesamtes Material digitalisiert.“

„Porca miseria, und das sagst du mir erst jetzt?“, fluchte Don Justo, wobei ihm der Microfiche aus der Halterung rutschte und er mindestens zehn weitere Minuten brauchte, um ihn wieder ordentlich einzufädeln und die Stelle zu suchen, wo er stehengeblieben war.

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Nachdem Yoko in das Taxi eingestiegen war, hatte sie nur wenige Minuten gebraucht, um sich zu bücken und sich im Schutz der Deckung durch die Ledersitze etwas zurecht zu machen. Kurz darauf kam sie wieder zum Vorschein, so dass sie der junge Taxifahrer im Rückspiegel sehen konnte und für einige Sekunden aus dem Staunen nicht herauskam.

„Wow, du bist ja wie ausgewechselt! Man könnte gerade meinen, du hast dich für ein Casting geschminkt. Oder so ähnlich. Oder was hast du sonst vor?“

„Frag nicht so dämlich,…“

„Ron. Mein Name ist Ron. Ich wollte dich nicht nerven. Ist doch genial, wenn jemand sich so schnell verwandeln kann. Das muss doch für irgendetwas gut sein, oder nicht?“

Ron sah noch einmal kurz in den Rückspiegel. Nein, besonders originell sah er mit seinen roten Bürstenhaaren und seinen paar Sommersprossen auf der Nase wirklich nicht aus. Yoko hingegen hatte sich mit wenigen Handgriffen eine brünette Echthaarperücke mit langen Locken übergezogen und mit ihrer Bürste noch einmal durchgekämmt. Den künstlichen Leberfleck hatte sie sich von der Stirn entfernt, die Gesichtszüge mit etwas Rouge und Camouflage-Schminke überdeckt. Nun sah sie eigentlich ziemlich europäisch aus, wobei ihr allerdings ein paar operative und kosmetische Tricks zugute kamen, die dem ungeschulten Auge nicht auffielen. Schließlich hatte sie sich noch eine größere leicht getönte Sonnenbrille aufgesetzt, was bei dem warmen Sommerwetter völlig unauffällig war.

„Okay, du bist ein schlaues Kerlchen. Sollte uns gleich jemand anhalten, dann können wir ruhig bei der Version mit dem Casting bleiben. So auffällig, wie deine Karre aussieht. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“

„Wieso?“

„Wieso, wieso? Weil es nunmal ziemlich auffällig ist, wenn sich jemand einen großen Aufkleber mit ,Pizzeria San Gennaro‘ auf sein sonst eher unscheinbares weißes Taxi klebt.“

„Man, das war doch nur, um meine Rostbeulen etwas zu überdecken. Aber das ist doch nicht so schlimm. Sag mir lieber, wo genau wir jetzt hinfahren und was du vorhast.“

„Jetzt reicht es aber. Ich hoffe doch, dein Chef hat dich instruiert, meinen Anweisungen zu folgen und nicht so viele Fragen zu stellen.“

„Schon, aber….“

„Nix, aber. Immer schön geradeaus. Und schalt mal das Radio an, damit wir hören können, ob sie eine Suchmeldung nach uns durchgeben.“

Die Fahrt ging über Nebenstraßen weiter Richtung Opernplatz und dann an der Frankfurter Welle und dem Instituto Cervantes vorbei den Reuterweg entlang und dann rechts ab in den Grüneburgweg durch die gehobenen Wohnviertel des Nordends. Wie eine Perle blitzte durch das Häusermehr kurz das Holzhausenschlösschen mit seinem kleinen Wasserfall empor. Im Radio plätscherte die Musik der Hitparade vor sich hin, sonst blieb alles ruhig. Doch dan bog aus einer Seitenstraße plötzlich ein Polizeiwagen und winkte das Taxi mit einer Kelle heraus. Über dem Blinklicht war in der neuen modernen Aufschrift „Stop Police“ zu lesen, eine Aufschrift, die sich freilich nur schwer gegen das grelle Sonnenlicht durchsetzen konnte.

„Man, was machen wir denn jetzt?“ Ron blickte sichtlich verstört.

„Na, was wohl? Auf jeden Fall schön die Nerven behalten. Und hoffen, dass das nur eine der üblichen Routinekontrollen ist und niemand von denen, die die Ringfahndung durchgegeben und groß auf diesen dämlichen Aufkleber geachtet hat. Aber wenn sogar ich den in der Aufregung fast ignoriert hätte, dann haben wir vielleicht noch eine Chance.“

„Und wenn nicht?“ Ron kratzte sich nervös hinter dem Ohr.

„Dann greift Plan B.“

„Welcher Plan B?“

„Lass dich überraschen. Und behalt lieber die Hand am Steuer. Das macht bei der Polizei immer einen guten Eindruck.“

Ron grinste verlegen und zeigte ziemlich unbeholfen die Zähne, als der junge mittelblonde Polizeibeamte mit Schnauzbärtchen ausstieg und auf das Taxi zukam. Yoko hingegen lächelte so perfekt, wie man es ihr antrainiert hatte. Von Aufregung keine Spur. Wieso auch? Sie musste früh genug in ihrem Leben lernen, für Notfälle, mit denen man immer rechnen musste, auch entsprechend vorzusorgen.

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Zorbas rannte zu seinem Dienstwagen. Derweil wandte sich die Kommissarin wieder dem verdutzten Italiener zu.

„ Also gut, Herr Marinelli, natürlich können sie nichts dafür, dass ihr Altglas schon abgeholt wurde. Aber Sie werden sicher verstehen, dass wir nun doch Ihre gesamte Bar mit Küche und Kaffemaschinen einer genauen Prüfung unterziehen müssen. Schicken Sie bitte die Gäste nach Hause und halten sich mit ihrem Lokal heute zu unserer Verfügung.“

„Und die Zucker- und Süßstoffdosen dürfen wir natürlich auch nicht vergessen“, fügte Zorbas hinzu.

„Prego, Signora, ich verstehe sie ja.“ Marinellis Kopf fing an, rot anzulaufen. „Aber ich kann doch nicht…, ich meine, wer zahlt mir den Ausfall?“

„Je besser Sie mit uns zusammenarbeiten, desto schneller geht es. Cooperazione heißt das Stichwort.“

„Aber…“

„Noch wissen wir nicht, wie Frau Engelthal zu Tode gekommen ist. Aber dass im Falle eines Falles Sie und Ihr Team zum potentiellen Täterkreis gehören, muss ich Ihnen wohl nicht näher erklären.“

Unwillig gab der Padrone seine Zustimmung. Die Kommissarin nahm die Personalien von Reinhard Zander und Franco Marinelli auf und versuchte noch einmal, die letzten Minuten vor dem Zusammenbruch von Nadine Engelthal zu rekonstruieren. Viel mehr konnte sie zumindest im Moment nicht ausrichten. Von Erbenstein instruierte kurz zwei der umstehenden Polizisten, ging zurück zum abgesperrten Areal, um den Hund an sich zu nehmen, auf den ein Kollege von der Spurensicherung noch immer aufpasste. Noch einmal nahm sie den Sandstrand in Augenschein. Nein, hier hatte sie offenbar nichts übersehen. Sie inspizierte noch einmal die Weinbar, immer mit prüfendem Blick, ob die Spurensicherung auch jeden Kaffeefleck begutachten würde. Auf jeden Fall sollte Marinelli am folgenden Morgen nochmal zum Protokoll im Präsidium erscheinen.

„Sagen Sie bitte noch, Herr Marinelli, seit wann kam Frau Engelthal zu Ihnen, um Kaffee zu trinken oder besser gesagt zu holen?“

„Na, sagen wir seit etwa drei Monaten.“

„Und wie haben Sie sich verstanden? Ich meine, gab es auch mal Meinungsverschiedenheiten oder Streit?“

„Nein, ich bitte sie! Sie war ein guter, höflicher aber auch distanzierter Gast. Was sollen diese Fragen?“

„Langsam. Langsam. Wie gesagt, noch wissen wir nicht, wie, durch was oder auch durch wen Frau Engelthal zusammengebrochen ist.“

„Wollen Sie damit etwa sagen…“

„..Dass ich hoffe, dass wir ihre Kellnerin finden und durch die Obduktion und die Untersuchung ihrer Vinothek bald genaueres wissen. Guten Tag, einstweilen.“

Von Erbenstein ließ den verdutzen Gastronom stehen. Sie hatte sich gerade ein paar Meter von der Vinothek entfernt, als plötzlich das Funkgerät piepte. „Christiane und Evangelos, kommt mal rüber!“, meldete sich Kommissar Pokroff zu Wort. „Ich bin hier mit meinen Spezis gerade im sechsundzwanzigsten Stock im Westhafen Tower. Dort, wo Frau Engelthal ihr Büro unterhielt. Hier ist vor wenigen Minuten noch jemand gewesen und hat das gesamte Büro durchwühlt. Sogar am Computer ist er gewesen, hat sich da aber ziemlich erfolglos versucht einzuhacken. Leider hat die Dame am Empfang niemanden rein- oder rauskommen sehen. Die muss jemand ziemlich professionell abgelenkt haben.“

„Vermutlich derselbe Mister X, den auch ein Zeuge aus der Bar aus einiger Entfernung gesehen hat, aber nur kurz und von hinten, so dass er ihn nicht beschreiben kann. Ich bin gleich da. Evangelos fährt mit einem Kollegen der chinesischen Kellnerin hinterher, die Frau Yoko zuletzt bedient hat“

„Was, der ist schon wieder hinter einer Chinesin her?“

„Quatsch, ich meine natürlich die japanische Kellnerin. Also bis gleich.“

Von Erbenstein informierte Pokroff kurz über die Befragung der Zeugen und die Hinweise auf rätselhafte Angehörige und Kellnerinnen. Dann fuhr sie den Aufzug des so genannten Gerippten hinauf. Der Blick vom zehnten Stock aus war einmalig. Richtung City sah man die Skyline mit Commerzbank und Maintower und weiter hinten die Türme des Doms und der Paulskirche, die neben den Himmelsstürmern fast wie Dorfkirchen wirkten. Doch für den Panoramablick hatten die drei Ermittler keine Zeit. Sie interessierten sich für die herausgerissenen Schubladen, die verstreuten Papierstapel im Büro aber auch für den Computermonitor, über den die funkelnde Crystal Hall von Baku als Bildschirmschoner flimmerte- der Eurovision Song Contest stand schließlich kurz bevor. Noch mehr Anlass zum Staunen bot jedoch der Inhalt der ausgestellten Schauvitrinen: Wuchtige goldene Siegelringe, auf denen der Frankfurter Stadtadler prangte. Damenarmbänder, an deren Einzelgliedern in Silber und Platin der Römer, das Palais Thurn und Taxis sowie die Musentempel des Sachsenhäuser Museumsufers im Miniaturformat glitzerten. Und schließlich eine Serie von Halsketten mit Gliedern, die den Messeturm und das Radisson Hotel in fein geschliffenem Kristallglas nachempfanden.

„Edelkitsch für Schwerreiche nenne ich so etwas“, stellte Pokroff abschätzig fest und blickte auf seine Citizen-Armbanduhr, die er heute trug. Auch die glitzerte mit Edelstahlarmband und fast azurblauem Zifferblatt, das aber nur den Zweck hatte, die darunter eingedampfte Solarzelle zu verbergen. Auch ein Spiel mit der Ästhetik der Technik, dachte der Oberkommissar. Mittlerweile ging es aber noch moderner, und die Zellen konnten sich gänzlich unsichtbar machen.

„Wie man’s nimmt. Aber für eine Liebeserklärung an diese Stadt hat es doch fast schon wieder Stil“, hielt Christiane von Erbenstein dagegen.

„Wenn du meinst. Aber sagt mal, was ist aus der Vernehmung unseres Joggers geworden?“

„Der hat die Details nochmal wiederholt und den potentiellen Täter mit Strumpfmaske näher klassifiziert. Er glaubt, von der Größe und Statur könne es sich um eine Asiatin gehandelt haben. Aber noch verrückter ist, dass wir am vermeintlichen Tatort ein Springermesser gefunden haben. So, wie das geworfen wurde und wie unser Zeuge den Tatort beschrieben hat, hätte man das potentielle Opfer damit treffen müssen.. Es ist, als habe jemand knapp aber absichtlich vorbeigeworfen.“

„Daneben geworfen?“ Pokroff stutzte. „Dann könnte es tatsächlich jemanden gegeben haben, der auftragsgemäß umgebracht werden sollte, aber den der Auftragsmörder dann absichtlich nicht treffen wollte. Oder man wollte mit diesem Messer bewusst eine falsche Fährte legen. Wie auch immer, wir müssen diesen Fall im Auge behalten. Und dann dieser Einbruch hier? Irgendetwas Geheimnisvolles muss den Täter bis hier hinaufgetrieben haben.“

„Aber was mag der Unbekannte hier gesucht haben? Nirgendwo sonst liegt Schmuck herum. Es sieht auch nicht so aus, als sei er in den Schubladen fündig geworden. So etwas Kostbares stellt man doch nur in Vitrinen aus. Die hätte er dann schon aufbrechen müssen.“

„Ich weiß es auch nicht“, räumte Pokroff ein. „Aber vielleicht ergibt ja die Durchsuchung ihrer Stadtvilla im Bachforellenweg noch weitere Anhaltspunkte. Ach ja, wie sagtest du, war das noch mal mit dem Sohn von Frau Engelthal?“

„Die Journalistin meinte, Frau Engelthal hatte einem Sohn, dem sie nach heftigem Streit den Unterhalt verweigerte und der nun ziellos durch die Stadt zieht, weil er seine Wohnung nicht mehr halten kann.“

„Ach ja.“ Irgendetwas schien bei Pokroff zu klingeln. „Der verlorene Sohn. Hoffen wir, dass wenigstens wir ihn wiederfinden können. Okay, ich komme hier alleine klar. Du fährst jetzt zu Evangelos und überprüfst, ob er die kleine Japanerin ordnungsgemäß vernimmt. Ach ja, weiß jemand von euch, was das hier darstellen soll?“ Pokroff zeigte seinen Kollegen eine Skizze von einem aufragenden spitzem Dreieck, die er gerade aus einer Schublade gezogen hatte.

„Keine Ahnung, aber es erinnert an The Shard, diesen neuen Wolkenkratzer aus England“, meinte Christiane von Erbenstein. „Vielleicht ist es auch der Entwurf für ein neues Schmuckstück.“

„Möglich“, meinte Pokroff und tütete das Schmuckstück ein. Er ging zurück zum Sandstrand, wo er mit den Kollegen von der Spusi nochmal die neuesten Ergebnisse abglich. Nein, eine hilfreiche Spur war hier offenbar nicht zu finden. Und das Glas, das Frau Engelthal offenbar den Tod gebracht hatte, war längst unterwegs in die ewigen Müllgründe. Da biss die Maus nichts am Faden ab.

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Unentwegt summte der Rettungshubschrauber Christoph 2 über der Frankfurter Skyline, suchte sich seinen Weg zwischen dem Commerzbank- und Eurotower Richtung Unfallklinik Seckbach. Denn inzwischen hatte es noch einen weiteren Unfall gegeben: Ein Bauarbeiter war von einem Gerüst gestürzt und hatte sich einige schwere Knochenbrüche zugezogen. Und nun, da der Hubschrauber über dem Anlagenring schwirrte, schreckte er so manchen Dauergast bei seinen täglichen Ritualen auf.

„Shit, man, guck mal, was’n das da oben?!“ Lilly blickte erschrocken zum Himmel, bevor sie den Kopf wieder sinken ließ und sich dazu zwang, mit dem letzten Stück Kraft, das noch in ihren erschlafften Knochen steckte, die Spritze aus der Vene zu ziehen.

„Oh man, ich fass es net, des Ding brummt genau über unsere Köppe hinweg, Frau!“ Nun hatte auch Lucy den Helikopter entdeckt. Die beiden Mädels hatten sich mit ihrem Besteck am Brunnen niedergelassen, um sich einige Meter vom Bahnhofsviertel entfernt halbwegs in Ruhe ihren Schuss setzen zu können.

„Glaubste denn, das is einer von uns, der sich zu viel schlechtes Dope reingedrückt hat?“ Lilly blickte ihre Freundin hilflos an. Die Angst, dass in der Szene mal wieder verunreinigter Stoff umherging, stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Glaub ich net. Hey Frau, sammel deine letzen Hirnzellen und denk mal nach. Für uns ruft doch keiner extra so ´n Brummkreisel da oben. Der fliegt bestimmt nach Seckbach.“ Lilly dachte an ihre Ausbildung bei den Rettungssanitätern, wo sie die nötigen Zuständigkeiten der Rettungsdienste und Krankenhäuser gelernt hatte. Doch dann war es passiert: Ihr Freund hatte sie auf einer Party „angefixt“, wie es im Chargon heißt. Schon bald darauf war die Beziehung in die Brüche gegangen, hatte ihr Leben in einen totalen Scherbenhaufen verwandelt. Doch die Sucht, die war geblieben und zwang Lilly ebenso wie Lucy ihren eigenen Rhythmus auf: Betteln, Stehlen, Anschaffen, um den nächsten Schuss oder die nächste Crackpfeife zu finanzieren. Inzwischen hatte Lilly dabei jegliche Scham verloren. Seit sie zusammen mit Lucy neue Kunden an ihre Stammdealer vermittelte, hatte sich die Lage etwas entspannt, bekam sie auch mal Stoff geschenkt oder zum reduzierten Preis angeboten. Doch an eine Rückkehr in die Normalität war nach mehreren erfolglosen Entzügen und Methadonprogrammen nicht mehr zu denken.

„Okay, aber schau mal, dieser neue rothaarige Gruftie mit dem Leichenface, der wollt‘ doch alle über den Main bringen, mit seinem Special Crystal, dem ätzenden Superdope, wo dir die letzte Substanz aus dem Hirn pustet.“

„Ach wo, erzähl doch kein Bullshit. Crystal, das nimmt hier und da mal so’n blöder upgespacter Yuppie nachts, um in der Disco voll abzudrehen. Aber an uns erfahrene Junkies geht das Zeuch doch net ran, weil wir wissen, dass das noch viel schlimmer is als von Heroin oder Crack ‘nen Affen zu kriegen.“

„Und wenn doch? Hey fuck, dann kommen die Bullen auch zu uns.“

„Nee, die gucken nur am Bahnhof. Und wenn schon, na, dann müssen wir halt im Camp unterkriechen. Da, wo diese radikalen Typen einen auf Protest machen, wird für uns auch noch was zum Pennen sein, bevor wir Platte im Stadtwald machen müssen.“

„Okay, aber weißte was? Ich hab echt’n Scheißhorror vor diesem ganzen Trip.“

„Kopp hoch, Alte. Wir schaukeln das schon.“ Lucy versuchte ihre Freundin zu trösten. Doch auch sie wirkte alles andere als mutig. Und dann die Frage nach dem Stoff? Heroin und Crack beherrschten die Stadt. Und nun so ein neues Zeug? Da hieß es echt, vorsichtig sein und wenn nötig auf Tauchstation gehen.

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Es war gekommen, wie es kommen musste. Zorbas konnte zwar die angegebene Adresse von Yoko Omura in der Ginnheimer Landstraße ausfindig machen. Tatsächlich stand da auch Omura auf dem Klingelknopf. Doch als er läutete, meldete sich lediglich eine strohblonde Schwedin. Die bat die Herren Polizisten zwar freundlich herein, stellte sich jedoch als Freundin des Studenten Kai Schwegler vor, die einen Zweitschlüssel hatte und gerade auf dem Sprung war. Später nochmal wiederzukommen war der einzige Rat, den sie den Herren mit auf den Weg geben konnten.

Am frühen Abend hatten sich Christiane von Erbenstein und Evangelos Zorbas vorgenommen, besagte Adresse noch einmal zu überprüfen. Unterwegs hatte die Kommissarin schnell noch ein Körbchen in einer Zoohandlung erstanden, um Sissi, wie die Pudeldame laut Hundemarke hieß, standesgemäß chauffieren zu können. Die Handynummer der Chinesin hatte der Grieche bereits mehrfach angewählt und über die gängigen Auskunftsdienste abgefragt, jedoch stets die gleiche notorische Antwort erhalten: „Die angegebene Rufnummer ist uns nicht bekannt.“

„Na, wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein“, brummte er unwillig. „Da haben wir’s nun also: Eine Kollabierte, die offenbar doch keinen natürlichen Herzanfall erlitten hat, und eine Reihe von potentiellen Verdächtigen, denen es aber am Motiv fehlt: Warum hätte Marinelli seinen Stammgast umbringen sollen? Und welchen Grund könnte es für eine japanische Aushilfskraft geben, die sich doch allem Anschein nach nur mit ihrem herrischen Chef nicht verstanden hat? Würde mich nicht wundern, wenn sie ihm zu ihrer fiktiven Nummer auch noch eine fiktive Straße genannt hat und wir abermals ins Leere laufen. Wir müssen unbedingt den Sohn von Nadine Engelthal finden. Ich glaube, der Täter ist in diesem Umfeld zu suchen.“

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Sag mal, stimmte es eigentlich, dass du am Gründonnerstag mit einer Chinesin in Amsterdam geflirtet hast?“

„Komm, hör auf mit der Geschichte. Das war nur eine kurze und völlig harmlose Begegnung.“

Die Kommissarin schmunzelte verlegen, um dann schnell zu einem anderen Thema überzuleiten. „Evangelos, hast du bei diesem verrückten Italiener heute Mittag die schmucke Anrichte auf der Terrasse gesehen? Dort standen wohlgeordnet Fläschchen mit Olivenöl, Balsamico-Essig und Zuckerdöschen für den Kaffee. Sehr ordentlich, so etwas nenne ich Service mit Geschmack, da mag dieser herrische Padrone sonst sein, wie er will.“

„Ja, ja, das ist bei uns in Südeuropa durchaus so üblich. Aber das mit dem Kaffee, das ist schon recht seltsam, oder nicht. Aber weißt du, neulich, da sind wir mit unserem Griechischen Kulturverein nach Regensburg gefahren. Die waren alle ganz verrückt nach der Walhalla mit ihren Gedenkbüsten für die deutschen Dichter und Denker. Denn die Walhalla ist ja ganz im klassischen Stil gebaut, fast wie bei uns in Athen die Akropolis. Na ja, aber dann sind wir in die Altstadt von Regensburg, wo wir extra in einem Eiscafé reserviert hatten. Ob das ein Deutscher oder vielleicht auch ein Spanier war, weiß ich nicht. Aber unterwegs sind uns vier Damen einfach abgesprungen und wo anders hingegangen. Weil sie sich bei dem gesamten Ausflug übergangen fühlten, wie sie später sagten. Und weil es in ihrem Café viel besser geduftet hat und weil es dort sogar griechischen Mokka und Galaktobouriko gab und..

„Evangelos, bitte tu mir einen Gefallen und verschone mich mit deinen Geschichten vom Griechischen Kulturverein.“

„Schon gut, schon gut. Wir sind sowieso gleich da. Lass nochmal sehen: Yoko Omura, Ginnheimer Landstraße 42, Straße und Nummer stimmen, wie du siehst.“

Die beiden parkten einige Meter vom Studentenwohnheim entfernt. Erst wollte von Erbenstein den Pudel im Auto lassen, beschloss ihn dann aber doch mitzunehmen. Eine feine Hundenase konnte man schließlich immer brauchen.

„Ja bitte“, antwortete eine schläfrige Männerstimme auf das stürmische Klingeln von Zorbas..

„Christiane von Erbenstein und Evangelos Zorbas von der Kriminalpolizei Frankfurt. Wir suchen dringend eine Studentin mit Namen Yoko Omura.“

„Zur Zeit wohnt hier keine solche Studentin.“

„Was soll das bedeuten? Wir müssen Sie bitten, uns kurz hereinzulassen.“

Der Türöffner summte, und nach einigen Treppen waren die beiden Kommissare erst einmal aufgefordert, ihre Dienstausweise vorzuzeigen. „Hm, hier wohnte vor zwei Monaten mal eine hübsche Japanerin “, erklärte der junge Student, der sich als Christoph Sundermann auswies. Ein adretter junger Mann mit mittelblondem Haar, der offenbar viel Wert auf sein Äußeres legte und es auch für angebracht hielt, einigermaßen zuvorkommend mit der Staatsgewalt umzugehen. So bat er Zorbas und von Erbenstein schließlich in die Küche, wo ihnen neben einem Hamsterkäfig mehrere Packungen mit Tierfutter auf dem Kühlschrank auffielen. Völlig unerklärlich war ihnen allerdings, warum die bis dahin so folgsame Pudeldame immer mehr zu knurren und bellen begann.

„Platz!“, kommandierte von Erbenstein mit scharfem Ton und erhobenem Zeigefinger. Dann wandte sie sich wieder dem jungen Studenten zu.

„Zeigen Sie doch bitte nochmal das Foto“, bat Sundermann. „Die Japanerin sah aber irgendwie anders aus. Warten Sie: Vor etwa zwei Wochen wollte hier eine Mitbewohnerin einziehen, die dem Mädel auf dem Foto wirklich ähnlich sah. Das war aber eine Chinesin, die nur übergangsweise ein paar Tage hier wohnte. Ich habe ihr dann schnell klargemacht, dass das inzwischen eine reine Männer-WG ist.“

„Mit Zutritt für hübsche schwedische Freundinnen“, ergänzte Zorbas. Erst jetzt fiel ihm der eigenartige Parfümduft in der Wohnung auf. Es roch nicht nach ihm und nicht nach ihr, sondern irgendwo und irgendwie dazwischen. Auch die Pudeldame schien ihr Näschen zu rümpfen und wollte schon wieder anfangen zu knurren, was ihr aber ihr neues Frauchen strikt verbat.

„Wie hieß die Japanerin, die vor zwei Monaten hier wohnte, und wie die Chinesin, die vor zwei Wochen kam?“, fragte Zorbas.

„An den Namen der Chinesin kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Und die Japanerin, ach herrjeh, was weiß ich, Aino, Ainu oder irgendwie so ähnlich…“

„Und wieso steht dann der Name ,Omura‘ unten auf dem Klingelschild“, wollte Zorbas wissen.

„Ach so, das ist mein Mitbewohner Makoto Omura. Der hatte mal Besuch von seiner Schwester, die an der Frankfurt Finance School of Management studiert. Er hatte aber weder etwas mit der Chinesin noch mit der Schwedin zu tun“, meinte Sundermann und rieb sich die Augen. Man sah ihm an, dass er im Schichtdienst jobbte, um sein Studium finanzieren zu können, und den Ermittlungen der Kripo in seiner Müdigkeit nicht so recht folgen konnte oder wollte.

„Ach so, verstehe“, erwiderte Christiane von Erbenstein. „Und diese Chinesin, die wiederum der Japanerin ähnlich sieht, war wirklich nur einmal hier?“

„Ich habe sie jedenfalls nur einmal gesehen“, beteuerte Sundermann.

„Gut, wir haben für den Moment keine weiteren Fragen, bedanken uns und wünschen noch einen schönen Abend.“

„Verstehst du genau, was er uns sagen will?“, hakte Zorbas auf der Rückfahrt nach. „Zuerst wohnte eine Japanerin hier, die Yoko nicht wirklich ähnlich sah, dann kam ein ähnliches Mädchen, das sich aber als Chinesin entpuppte. Und dafür soll sich der gesuchte Name auf einen Japaner beziehen, der zufällig ebenso heißt, Besuch von seiner Schwester hatte und mit unserer Gesuchten nichts zu tun hat? Für mich gibt es da nur eine logische Schlussfolgerung: Yoko ist die Schwester von diesem Makoto Omura, die aber woanders wohnt.“

„Vor allem verstehe ich, dass mein neuer Hund diesen aufgebrezelten Yuppie nicht riechen konnte“, grinste Christiane von Erbenstein. „Aber zurück zu unserem Fall: Unsere gesuchte Dame ist gar keine japanische Studentin, sondern gibt sich nur als solche aus, um besser einen Job bekommen zu können. Ihre wahre Identität will sie verschleiern. Dafür wählt sie einen Namen, den sie auf einem der Klingelschilder findet und der in Japan so häufig vorkommt wie bei uns Müller oder Meier. Als sie einmal kurz reinschaut und dabei erfährt, dass hier ein Japaner namens Omura mit einer Schwester beschließt sie, künftig diese Adresse hier mit einer frei erfundenen Handynummer anzugeben. Und dann war da ja noch diese andere Studentin, die unserer Yoko zumindest ähnlich gesehen hat.“

„Da war aber eine Chinesin.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Denkbar ist ja auch, dass Sundermann chinesische und japanische Namen und Gesichter nicht wirklich auseinanderhalten kann.“

„Und was nutzt uns das jetzt?“

„Jetzt wissen wir, dass hier vor zwei Wochen oder frühestens zwei Monaten jene junge Dame aufgetaucht ist, die möglicherweise den Tod von Frau Engelthal verschuldet hat.“

„Immerhin, besser als nichts.“ Das hatte Zorbas beim Blick auf das ausgedruckte Foto auch schon gesagt. Doch würde er sie damit finden können? Er spürte wieder, an wen sie ihn erinnerte. Doch er wollte die Erinnerung nicht zulassen. Stattdessen betätigte er lieber den Polizeifunk, um sich über den aktuellen Stand der Großfahndung auf dem Laufenden zu halten.

„Die haben jetzt alle wichtigen Ausfallstraßen so wie die Gegenden rund um die Universitätscampi und die Studentenwohnheime umstellt“, berichtete Zorbas seiner Kollegin. Verstärkt werden natürlich auch die Straßen zwischen Westhafen, Hauptbahnhof und Innenstadt sowie in den angrenzenden Wohnvierteln und in Sachsenhausen kontrolliert. Die Polizeireviere am Stadtrand verstärken uns dort vor Ort und bei den Kontrollen an den Brennpunkten so gut wie möglich. Mehr können wir wirklich nicht tun.“

„Schon gut, was hältst du davon, wenn du jetzt nach Hause gehst, nachdem du mich abgesetzt hast? Du hat doch in den vergangenen Tagen einiges an Überstunden gemacht. Ich habe noch einen Termin mit Waldemar für eine Befragung. Und unser armes Pudelchen hat sicher noch Hunger und Durst.“

Zorbas ließ seine Kollegin in der Rotlintstraße aussteigen, wo sie sich eine kleine Dienstwohnung für die Arbeitswoche gemietet hatte. Immer dann, wenn sie nicht bei ihrem Grafen im Mühlbergschloss sein konnte. Dann fuhr auch Zorbas zu seiner Wohnung in der Innenstadt.

Aufgeregt tigerte Dottor Luigi in seinem Apartment hin und her. Dann blickte er erneut nach draußen Richtung Main Plaza und knurrte krampfhaft in sich hinein. Der junge Mann, der gerade mit seinem Luxusboot vor dem Deutschherrnufer anlegte, hatte offenbar alles vermasselt.

„Mensch Beppi, bist du total durchgedreht? Warum musste Nadine Engelthal sterben? Und wo zum Kuckuck hast du die Formel, wenn du schon das ganze Büro auf den Kopf gestellt und dort ein Riesenchaos angerichtet hast?“

„Mal langsam, noch ist die Engelthal vielleicht gar nicht tot. Die haben sie schließlich extra ins Krankenhaus geflogen. Aber ich habe damit nichts zu tun. Und die Formel konnte ich nicht finden, weil sie den Stick offenbar ganz woanders versteckt hat.“

„Hat dich jemand beobachtet, als du rausgegangen bist?“

„Ich hoffe nicht.“ Beppi zwinkerte etwas verlegen.

„Das hoffe ich auch. Schließlich habe ich gerade noch rechtzeitig an der Pforte angerufen und von einem Elektroschaden im fünften Stock erzählt, um die Tussi von da unten wegzulocken. Ich hoffe, du hast wenigstens nicht die kopierte Chipkarte vom Büro der Engelthal in der Eile irgendwo liegen lassen.“

„Wo denkst du hin, ich bin schließlich kein Anfänger.“

„Warum ist die Alte überhaupt zusammengebrochen?“ Rosso kratzte sich nervös hinter dem Ohr.

„Woher soll ich das wissen? Vermutlich ein Herzanfall. Wusste doch jeder, dass ihre Pumpe nicht die beste war. Vielleicht sogar eine ganz natürliche Ursache, ohne dass da einer nachgeholfen hat.“

„Das glaubst aber auch nur du naives Kamel. Hier, sieh selbst!“ Luigi hielt Beppi den Camcorder hin, der die Szenen jenes Nachmittags aus der Perspektive einer Stadtvilla im Westhafenviertel zeigte, die sich Luigi vor ein paar Jahren gekauft hatte. Er zoomte das Bild näher heran: „Hier sieht man ganz genau, wie kurz nach dem Tod eine Asiatin das Tablett fallen lässt und das Glas zerspringt. Das muss die Kleine mit der Identität von unserem Mädchen aus Neapel sein. Dann streitet sie mit ihrem Chef und rennt weinend davon. Was soll der verdammte Mist? Wenn die Kleine durchdreht, dann haben wir auch ein Problem.“

„Was kann ich dafür? Beppi zuckte ratlos mit den Schultern.

Luigi blickte aus seinem Wohnzimmerfenster in den begrünten Innenhof des Colosseo, der ihn immer an die Arena des großen Vorbilds in Rom und somit an die zahlreiche blutigen Kämpfe erinnerte, die er für seinen Aufstieg austragen musste. Nach der Kindheit hatte er die Jugendjahre zunächst bei seinem Onkel in Neapel verbracht, ihm schon bald wertvolle Dienste geleistet, wenn es darum ging, die Familienehre im täglichen Straßenkampf der Camorra zu verteidigen. Dafür hatte der Onkel ihm großzügig das Studium finanziert, das Luigi summa cum laude abschloss, sich gelegentlich durchjobbte, ein paar konkurrierende Kommilitonen beiseite schob und dann einen Ghostwriter mit einem wasserdichten Plagiat für seine Doktorarbeit beauftragte. Niemand glaubte schließlich damals, dass sich je ein paar Neider mit spezieller Computersoftware darauf verstehen würden, abgekupferte Textpassagen aufzuspüren. Zurück in Deutschland ging es erst einmal nach Berlin, wo sich Luigi in namhaften Immobilienfirmen bis zum Geschäftsführer hochdiente. Nebenbei erwarb er sich schicke Villen und Bürohäuser in der Frankfurter City und im Westend – schließlich boomte damals der Wettbewerb der Spekulanten in der Mainmetropole wie nirgendwo sonst.

Mit jedem Filetstück kaufte sich Dottor Luigi weiter in die Frankfurter Gesellschaft ein, ohne dabei allzu oft sichtbar zu werden – es sei denn in Kreisen der Unterwelt, die er mit dem Stoff versorgte, aus dem die Träume vieler Gestrandeter sind. Zu seinen genialsten Schachzügen gehörte jedoch der Erwerb einer Softwarefirma, die für die Sicherheitstechnik im öffentlichen Raum verantwortlich war. Nicht nur, dass das Geschäft mit Videokameras boomte, weil sich viele Frankfurter Passanten und Geschäftsleute auf videoüberwachten Plätzen wie der Konstablerwache oder dem Willy-Brand-Platz und der Europäischen Zentralbank sicherer fühlten. Dank der Software für die elektronischen Augen und seinem speziell dafür aufgerüsteten Smartphone navigierte sich Luigi Rosso durch das Stadtbild, konnte viele Kameras nach seinen eigenen Vorgaben bewegen und deren Bilder heranzoomen oder kannte ihre genauen Positionen und Funktionsweisen zumindest detailliert genug, um seine eigenen Kuriere und Unterhändler unbehelligt agieren zu lassen. Die Drogenszene an der Konstablerwache mochte ein Problem sein, einige Dealer zumindest gelegentlich auf frischer Tat ertappt werden, auch wenn Polizei und Justiz ihnen nur selten habhaft werden konnten. Doch Luigis Leute agierten im toten Winkel der Kameras und wurden bislang niemals erwischt.

Auch an den eigenen Häusern und denen der besten Geschäftsfreunde ließ Luigi Kameras installieren, wo es nur möglich war. So behielt er den Überblick. Überblick bedeutete Kontrolle, Kontrolle bedeutete Macht. Nun baute der Dottore im Alter an seinem unsichtbaren zunehmend virtuellen Informantennetz, suchte aber auch auf der Szene noch nach neuen Herausforderungen, um seinen Reichtum zu mehren. Ob er seinen Lebensabend dauerhaft im Colosseo, Palazzo Michelangelo oder im Mühlbergschloss verbringen wollte, wo sich die Kommissarin von Erbenstein mit ihrem Graf zunehmend wohnlich einrichtete oder aber vielleicht doch in einer Prunkvilla in Italien – Dottor Luigi hatte sich noch nicht entschieden.

Mit forderndem Blick fixierte er Beppi. „Du musst die Kleine unbedingt finden. Und wenn du sie stellen kannst, quetsche sie aus und ergreife die nötigen Konsequenzen.“

„Wie soll ich das anstellen? Die ist doch längst über alle Berge. Das ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.“

„Nicht ganz.“ Luigi grinste. „Die Kleine hat einen kleinen Fehler gemacht.“ Er zoomte auf seinem Smartphone das Foto einer Überwachungskamera am Mainkai heran. „Sie ist in der Eile ins nächstbeste Taxi gesprungen und hat nicht auf das Wappen geachtet, das die Firma hinten draufgeklebt hat. Eine schöne Erinnerung an meine süditalienische Heimat. Sicher hat sie dem Taxifahrer gesagt, er solle sie weit aus der Innenstadt herausfahren. Und er hat sie dorthin gebracht, wo er selbst zuhause ist.“

Beppi merkte kurz auf: Sollte sich daraus wirklich eine Chance ergeben?

Lisa Naumann hatte mal wieder ganze Arbeit geleistet. Nur wenige Stunden nach dem Herzanfall von Frau Engelthal hatte sie die erschütternde Nachricht über das Internetportal ihres Journals „Art of Frankfurt“ eingestellt, so dass jeder auf der Suche nach kulturellen Nachrichten oder Veranstaltungstipps unmittelbar über ihren rätselhaften Zusammenbruch am Lido des Westhafens stolpern musste. Auch Pfarrer Baumgartner, der abends noch zusammen mit der Kirchenvorsteherin Anna Bergmann zusammensaß und die Veranstaltungen für die nächsten Monate plante.

„Das ist ja furchtbar, Nadine Engelthal ist nach einer Herzattacke einfach so am hellichten Tag im Westhafen zusammengebrochen und gestorben. Noch rätselt die Polizei, wie das passieren konnte, ermittelt, ob da nicht doch jemand nachgeholfen hat. Unglaublich….“ Baumgartner schluckte mehrmals, rang um Fassung. Nein, persönlich kannte er die Schmuckdesignerin nicht, auch wenn sie mal kurzzeitig in Rödelheim gewohnt hatte. Aber vielleicht war es nun sogar besser, dass sie bald darauf ins neue Westhafenviertel gezogen war. Schlimm genug, dachte er, dass dort jemand plötzlich stirbt und die Polizei mit seinem Ableben beschäftigt, während sich die Nachbarn nach dem ersten Schock recht bald wieder ihren Alltagsgeschäften zuwenden. Aber dort wohnen eben viele Neureiche, dachte er, die sich untereinander nicht kennen und helfen, aber wegen ihres Wohlstandes viele Neider haben. Im gediegenen Rödelheim könnte so etwas nicht passieren. Hier war es die vergangenen Monate immer ruhig geblieben, abgesehen von dem kleinen Zwischenfall zum Pessachmahl am Gründonnerstag. Doch darüber redete schon niemand mehr, die Sache war so gut wie vergessen-.

„Frau Bergmann, Sie kannten doch die Frau Engelthal, nicht wahr? Sie wohnte doch nur ein paar Straßen weiter. Und jetzt diese schreckliche Sache. Mein Gott…“

„Ja, das ist sicher ganz furchtbar, auf jeden Fall“, pflichtete Frau Bergmann dem Pfarrer mit anteilnahmsvollem Ton bei. „Hoffentlich hinterlässt Frau Engelthal keine Hinterbliebenen, die pflege- oder versorgungsbedürftig sind. Nein, ich habe Frau Engelthal nicht persönlich gekannt. Sie ist ja eher selten in die Kirche gekommen und hat sich auch sonst kaum an unseren Aktionen zum Weltfrieden beteiligt , obwohl wir sie so freundlich darauf angesprochen haben…“

„Ach ja…“

„Gut, aber was will man machen. Die Frau war eben sehr mit ihren eigenen Dingen beschäftigt, musste sich als Künstlerin durchbeißen, hatte ihren Kampf mit den lieben Kolleginnen und Konkurrentinnen aus der Kunstszene. Wenn überhaupt, wird die Polizei sicher dort suchen und fündig werden.“

Pfarrer Baumgartners Blick schien sich gewandelt zu haben, wirkte nun etwas weniger betroffen, dafür aber umso kritischer.

„Aber Moment mal, Herr Baumgartner, wo wir gerade von den Veranstaltungen zum Weltfrieden sprechen, sollten wir nicht dieses Jahr noch einen Referenten gewinnen, der über die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche berichtet, die die Wende und die Wiedervereinigung erst einleitete? Ich habe da an Christoph Wonneberger gedacht, der doch oft nicht so gewürdigt wird…….

„An sich eine gute Idee, aber ich weiß nicht. Unser Programm ist doch im Herbst schon voll…

„Christoph Wonneberger ist einer der wichtigen Zeitzeugen, der uns persönlich berichten kann, was damals passiert ist. Schließlich begann vor 70 Jahren mit der Abriegelung der Grenze und der Umsiedlung der grenznahen Bevölkerung in der DDR die Zementierung der Teilung, noch bevor Mauer und Zaun errichtet wurden…“

„Ja sicher, das ist mir alles bekannt“, viel Baumgartner ihr ins Wort. Wollte sie etwa seine historischen Kenntnisse in Frage stellen?. „Aber ich glaube, wir haben wirklich schon zu viele Veranstaltungen. Und wenn sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“

Pfarrer Baumgartner verabschiedete sich kurz und ließ eine nachdenklich sichtlich enttäuscht wirkende Anna Bergmann zurück. Auch sie packte wenige Minuten später ihre Sachen zusammen, schloss das Gemeindehaus ab und machte sich auf den Weg nach Hause in die Alexanderstraße. Dort wurde sie von zwei Gestalten im Dunkeln überrascht, über die sie zunächst ziemlich erschrak.

„Guten Abend, entschuldigen Sie bitte, wir wollten Ihnen keinen Schreck einjagen. Mein Name ist Waldemar Pokroff, ich bin Hauptkommissar bei der K11. Wir haben uns am Gründonnerstag beim Pessachmahl in der Cyriakuskirche kennengelernt. Und das ist meine Kollegin Christiane von Erbenstein mit ihrem neuen Haushund“, stellte sich der Hauptkommissar vor und warf der Kollegin einen verschmitzten Blick zu.

„Guten Abend, ja ich erinnere mich. Was kann ich für Sie tun?“

„Wenn wir kurz hereinkommen dürften, wir haben nur ein paar Fragen“, bat von Erbenstein.

Höflich, wenn auch nicht gerade erfreut bat Anna Bergmann die beiden Kommissare in ihr Wohnzimmer. Eher instinktiv griff sie dabei nach einer Rotweinflasche, die gerade auf der Anrichte stand.“

„Nicht doch“, wehrte Pokroff ab. „Unsereins ist bekanntlich immer im Dienst. Aber zu unseren Fragen: Sie haben vielleicht mitbekommen, dass womöglich heute Nachmittag im Westhafen ein Anschlag die Schmuckdesignerin Nadine Engelthal verübt wurde? Jedenfalls ist Frau Engelthal an den Folgen eines Herzanfalls zusammengebrochen und ins Koma gefallen.“

„Ja, das habe ich im Internet gelesen. Das bleibt ja heutzutage nicht aus.“

„Sie erinnern sich auch, dass neulich ein verwirrter junger Mann im Gottesdienst aufgesprungen ist, von irgendeiner Bedrohung gesprochen hat und dann im Dunkeln verschwunden ist?“

„Ja.“

„Haben Sie je wieder etwas von diesem jungen Mann gehört oder über seinen Verbleib erfahren?“

„Nein, nicht dass ich wüsste. Wieso?“

„Auch Frau Engelthal hatte einen Sohn, der etwa im gleichen Alter gewesen sein dürfte und der sich seit einigen Wochen ohne festen Wohnsitz in Frankfurt aufhält. Er gehört als enger Angehöriger auch potentiell zum Kreis der Verdächtigen. Mein Kollege und ich haben uns eingehend unterhalten und sind zu der Erkenntnis gekommen, dass dieser Mann offenbar viele Ähnlichkeiten mit dem jungen Mann vom Gründonnerstag hat“, erklärte von Erbenstein. „Auch vom Gesicht sieht er Frau Engelthal durchaus ähnlich. Nun wäre es für uns sehr wichtig, diesen Sohn zu finden. Überlegen Sie bitte nochmal: Wo könnte er neulich hingerannt sein? Hat er hier irgendwo ein Quartier oder einen Unterschlupf in der Nähe?“

„Dazu kann ich Ihnen leider gar nichts sagen. Sollte mir doch noch etwas einfallen, werde ich mich bei Ihnen melden. Ich bin sehr müde, wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“

„Ja, natürlich. Dann eine gute Nacht und vielen Dank einstweilen.“ Als Pokroff Frau Bergmann die Hand zum Abschied reichte, wusste er, dass er mit dieser Befragung nicht zufrieden sein konnte. Und dass sie sich sehr bald wieder sehen würden.

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Die Sonne senkte sich langsam hinter den Horizont, als Dottor Luigi auf dem Balkon seines Appartments Platz nahm und sich einen „Blauen Engel“ genehmigte – einen Cocktail aus Blue Curacão und Sekt, passend zum Namen des unglückseligen Opfers, das scheinbar so ungewollt und unerwartet aus dem Leben gerissen worden war. Luigi loggte sich über sein Smartphone in die Webcams des Internets ein, trat seine digitale Reise in den Nordwesten Frankfurts ein, genauer gesagt ins romantische Dichterviertel. Irgendwo dort musste Marcel Reich-Ranicki wohnen, jener Literaturpapst, der Goethes unangefochtene Stellung als Dichterfürst untermauerte und ausbaute. Doch das interessierte Dottor Luigi gerade herzlich wenig. Er selber bangte um seine gehobene Stellung im Geldadel der Immobilienbranche, fürchtete zudem, ihm könnte jegliche Kontrolle über das Geschäft entgleiten. Er fuhr mit dem Finger über das Display, verschob die Perspektive vom Dornbusch in den Südwesten, dort, wo sich die Schönen und Reichen ihre luxuriösen Eigentumswohnungen und Villen sicherten. Er stoppte in einem versteckten Winkel nahe des Fernsehturms, zoomte das Bild näher heran, bis er zumindest halbscharf das Antlitz einer vertrauten männlichen Person ausmachen konnte.

Dottor Luigis Augen leuchteten, sein Grinsen glich einem stillen Triumph. Alles glaubte dieser selbstgefällige große Schattenmann kontrollieren zu können. Nur dass Luigi über seine Software längst auch dessen hauseigene Videokameras kontrollierte, ahnte er nicht. Luigi schaltete auf die Telefontastatur um, überprüfte die eigene Rufunterdrückung und tippte eine Geheimnummer ein. Über das Display verfolgte er, wie die männliche Person ruhig und gelassen nach dem eigenen Handy griff. Luigi ahnte, dass der Schattenmann mit seinem Anruf rechnete, obwohl es nicht vereinbart war.

„Hallo. Was rufen Sie mich an? Wir sollten jetzt nicht miteinander sprechen“, erfolgte prompt die Reaktion. „Alles läuft nach Plan.“

„Das sehe ich anders. Warum sollte Nadine Engelthal sterben? Tot nutzt sie uns überhaupt nichts. Ich brauche die Formel von ihr.“

„Ganz einfach, sie hat meine Pläne durchkreuzt. Aber dass Ihr Handlanger in Engelthals Büro auftaucht, war ja wohl der Gipfel an Leichtsinn….“

„Aber nein, das muss ein Missverständnis sein…“

„Verkaufen Sie mich nicht für blöd. Auch ich habe meine zuverlässigen treudoofen Aufpasser, die mir wertvollere Dienste leisten als alle intelligenten Videokameras dieser Welt. Nun bleibt abzuwarten, ob die Engelthal wirklich stirbt. Diese Schlampe hat mehr Glück als Verstand. Aber zumindest ist sie für ein paar Wochen außer Gefecht gesetzt. Bis dahin ziehe ich mein Ding durch und bin dann verschwunden, wenn es sein muss.“

„Welches Ding?“

„Sie müssen nicht alles wissen. Passen Sie lieber auf ihren jungen Hiwi auf, dass der keinen Mist baut.“

„Dasselbe könnte ich von Ihrer Kleinen sagen. Meinen Sie nicht, sie ist doch ein bisschen arg jung für den Job?“

„Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Welche Legende hat eigentlich Ihr Handlanger?“

„Gebürtiger Napolitaner, Absolvent der Wirtschaftswissenschaften der Universität Amsterdam, der nach ersten Erfahrungen als Marketingchef nun seine Chance in der Mainmetropole sucht. Von Occupy lässt er sich ebenso wenig schrecken wie von irgendwelchen Schwarzmalern. Er knüpft gerade einen Nebenkontakt über Skyline Projects und hat zudem als begnadeter Musiker einen guten Draht zur High Society.“

„Begnadeter Musiker? Was soll das heißen?“

„Auch Sie müssen nicht alles wissen.“

„Ach ja? Aber ich sollte zumindest soviel wissen, dass ich Sie und somit uns beide vor unnötigen Ausrutschern bewahren kann. Guten Abend.“

Der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung hatte aufgelegt. „Wichtigtuer“, brummte Dottor Luigi unwillig. „So ein arroganter Wichtigtuer.“ Kurze Zeit später bekam er eine SMS von Beppi.

Bin unserm Mädchen auf der Spur. Aber einer unserer Kuriere macht sich vor Angst in die Hosen und will zur Polizei, weil am Ostermontag ein Partyfreak an unserem Stoff gestorben ist. Unser Kontaktmann wird dafür sorgen, dass ihn seine Freunde kaltstellen.

„Porca miseria!“, fluchte Luigi und schlug mit der flachen Hand auf den Beistelltisch. Dann antwortete er kurz und knapp:

Das hoffe ich für dich..

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Mit letzter Kraft joggte Yoko den schmalen Pfad hinauf, bis sie die Bergkuppe erreicht hatte. Den schönen Blick beim Sonnenuntergang über die Rebstöcke mit der Skyline im Hintergrund konnte sie vor lauter Stress allerdings nicht genießen. Sie registrierte nur, wie sich dort unten in der Ferne zwei Polizeiautos mit Blaulicht und Martinshorn Richtung Bornheim bewegten. Offenbar Verstärkung, weil man sie immer noch in Citynähe vermutete. Das hoffte sie zumindest. Yoko kannte die Geschichte der deutschen Polizei- und Sonderkommandos, wusste vor allem seit dem Geiseldrama von Gladbeck, dass selbst die Spezis unter den Ordnungshütern keineswegs unfehlbar waren. Die ganze Fahrt über hatte sie nur bemerkt, wie die modernen Geschäftshäuser und Mietskasernen auf der Ausfallstraße mehr und mehr kleinen Fachwerkhäuschen in irgendwelchen Nebengassen wichen. Nach dem kurzen aber ungefährlichen Zwischenstopp durch einen Streifenwagen war sie irgendwo mit einem schnellen und geübten Satz herausgesprungen. Alles lief nach Plan. Zumal sie einem zweiten Taxifahrer am Westhafen als zusätzliche Motivation 20 Euro in die Hand gedrückt hatte, damit der auf einen angeblichen Freund wartet und auf Nachfrage sagt, der Kollege sei nach Bockenheim gefahren.

Yoko griff sich an ihre Nase, die wie so oft schmerzhaft drückte-die Folge eines Eingriffs, der sonst in ihrem Land einem Tabu gleichkommen würde. Doch bei ihr war es ein Notfall gewesen, eine Not, die sich für ihren Einsatz gleichsam in eine Tugend verwandeln musste, nämlich die einer schnellen Tarnung, um sich noch schneller und unauffälliger in der Gesellschaft ihres Gastlandes ein- und untertauchen zu können, wenn dies erforderlich war. Doch der Eingriff war schmerzlich gewesen, körperlich und seelisch.

In Sekundenschnelle huschten die komprimierten Bilder an Yokos innerem Auge vorbei. Vor etwa drei Jahren war sie der Einladung eines südkoreanischen buddhistischen so genannten Zen-Meisters in einen großen Hörsaal im dritten Stock des Campus Westend gefolgt. Damals, als sie noch ständig von einem Aufpasser begleitet wurde. Dieser Scharlatan hatte doch tatsächlich behauptet, der einst ebenso karge Süden hätte den versklavten bitterarmen kommunistischen Norden technisch, industriell und wirtschaftlich so weit überholt, dass die Koreaner, durch materiellen Wohlstand und moderne Hektik getrieben, einen meditativen Weg der inneren Ruhe finden müssten. Nach dieser provokanten Beleidigung ihrer glücklichen Volksrepublik ballte Yoko noch innerlich die Fäuste, als sie den Hörsaal verließ, die Paternoster-Aufzüge ausfielen und die Massen drängelnd durch das lichtdurchflutete Treppenhaus nach unten stürmten. Und dann war passiert, was nie passieren durfte. Abgelenkt durch ihre Gedanken wurde Yoko von hinten angerempelt, verlor den Halt und stürzte mit dem Gesicht auf die Treppenstufen. Sofort stand sie auf, verbiss sich jeglichen Schmerz, doch ihr Aufpasser stellte sich abschirmend vor sie, bevor jemand einen Arzt rufen konnte. Er entzog sie den Blicken der Kommilitonen und verständigte einen befreundeten chinesischen Arzt- denn das angebrochene Nasenbein war nicht zu übersehen. Doch die Operation bot die Chance einer minimalen chirurgischen Manipulation. Die leichte Erhöhung des Nasenrückens, sonst eine Schönheitsmarotte des dekadenten Südens, ließ sie einen Tick europäischer aussehen, sofern die Haarfarbe stimmte und die fernöstliche Augenpartie durch Kosmetikkleber und Camouflage überdeckt war. Ein Trick, der sich immer wieder bewährte.

Hoher Nasenrücken, große Augen, schmales Kinn- solche Ideale strebten viele Asiatinnen an, darunter auch einige Japanerinnen. Doch was war daran eigentlich schlimm, wenn es medizinisch professionell und nicht wie bei ihr durch einen Pfuscher gemacht wurde, weil sie sich keinem deutschen Arzt anvertrauen durfte? Genau genommen war die Zeit doch nicht spurlos an Yoko vorübergegangen. Ihr neuer Name, ihr neuer Pass, ihre neue Identität waren zunächst nur nötige Zugeständnisse, um sich unauffällig im kapitalistischen eigentlich feindlichen Ausland zu bewegen. Doch nun, da ihre Landsleute sogar Elvis nicht mehr verleugneten und sich der große Nachfolger Kim Jong Un sogar begeistert mit Micky-Maus-Figuren umgab, durfte sie sich da nicht zu Yoko bekennen? Eigentlich mochte sie die Sängerinnen der Beatles-Area. Und der wahre Austausch der Kulturen bewegte sich doch auf globaler Ebene, auch wenn die Ideologien und politischen Systeme nicht überall stimmten. Und doch drohten die japanische und die weiteren immer wieder kurzzeitig übergestülpten asiatischen und europäischen Identitäten klammheimlich die wahre vaterländische Gesinnung zu überlagern – mit der Folge, dass sich die Grenzen unmerklich immer weiter verwischten und relativierten.

Yoko entfloh ihren Gedanken und beamte sich zurück in die Realität. Sie umrundete den Berg einmal ganz, um sich dann auf dem inzwischen menschenleeren Pfad langsam Richtung Dorf hinunterzuschleichen. Öfter schien es ihr, als würde sie verdächtige Schritte hinter ihr hören. Dann kamen die ersten Straßenlaternen der einsamen Gassen – und wieder hatte sie den Eindruck von dunklen Schatten auf dem Straßenpflaster. Kurz hinter der Gasse sprang schließlich ein Mann hinter einer Hauswand hervor und versuchte, sie an sich zu ziehen.

„Hab ich dich erwischt. Hier treibst du dich also rum. Was sollte die Nummer heute Mittag im Café?“

Yoko versuchte die dunkle Gestalt zu erkennen. Schnell war ihr wieder klar, wen sie vor sich hatte, auch wenn sie seinen Namen nicht kannte. Doch mit dieser Erkenntnis war sie nicht alleine.

„Wir kennen uns aus Amsterdam“, stellte Beppi fest. „Der Preis für dich war hoch. Doch egal, warum hast du diese aufgetakelte Designerin umgebracht? Jede Wette, dass die Bullen irgendein Gift finden, dass ihren verdammten Herzanfall verursacht hat. Und du hast es ihr den Kaffee gekippt.“

„Nein, verdammt noch mal. Das ist nicht mein Auftrag, und das hätte auch keinen Sinn. Ich habe nur das Tatmittel zertrümmert und bin dann abgehauen, damit man keine Spuren findet.“

„Wer bist du und wie heißt du?“

Yoko scannte kurz ihr Gehirn nach möglichen Erinnerungen und Antworten ab. „Ich heiße Wei Chin und bin eine Chinesin aus Amsterdam.“

„Hör auf mit dem Theater! Wei Chin bist du wenn überhaupt nur, weil ich dir ihre verlorenen Papiere gegeben habe. Als Gegenleistung für eine kleine Gefälligkeit, bei der wir dann jäh unterbrochen wurden? Etwa schon vergessen?“

Yoko sah die Bilder der verdrängten Erinnerung nun wieder vor sich. Sie hatte sich im Heizungsraum eines billigen Fast-Food-Restaurants im Chinesenviertel von Amsterdam zur Hälfte entblößt, um ihm vorzugaukeln, dass sie auf sein widerliches Angebot eingehen würde. So ein Ekel! Als er sie dann nehmen wollte und sie bereits die Beine spreizte, konnte sie letzter Sekunde mit dem linken kleinen Finger den Schalter einen Lüftungsschalter betätigen. Sie hatte Glück gehabt. Der alte Motor heulte derart laut auf, dass Beppi sich erschrocken herumdrehte und von ihr abließ. In dieser prekären Situation war selbst diesem lüsternen Bock jegliche Lust vergangen. Fluchend war er hinausgelaufen und hatte erst später gemerkt, dass sie ihm mit einer magischen Handbewegung besagtes Dokument aus der Hosentasche geangelt hatte. Ein Dokument, das vielleicht einmal ihre Lebensversicherung sein würde.

„Versprochen ist versprochen und der Zwischenfall von damals ging eindeutig auf die defekte Haustechnik“, konterte Yoko schlagfertig.

„Du blöde Schlampe! Dem Chef hast du irgendwas vorgespielt, damit der dich feuert und du schnell Land gewinnst.“ Beppi versuchte Yoko an sich zu pressen, die sich zunächst noch wehrte, dann aber scheinbar ihren Widerstand aufgab. „Diesmal klappt es mit uns, hier stört uns kein Mensch. Wenn du nicht so verdammt schön wärst…“ Beppi spürte ihre Brüste und war für einen Moment so im Rausch der Sinne, dass er fast nicht merkte, dass Yoko abermals versuchte, in seine Jackentasche hineinzulangen. Doch dann packte er plötzlich ihren Arm.

„Aua, du tust mir weh!“, schrie Yoko.

„Was auch immer du suchst, hier oben findest du es sicher nicht.“ Beppi blickte Yoko bedrohlich an, so dass sie spontan beschloss, ihre Taktik zu ändern.

„Vielleicht suchen wir ja das Gleiche und sollten irgendwie zusammenarbeiten, statt uns zu bekämpfen.“

„Wie könnte ich das, wenn ich nicht mal genau weiß, wer du bist. Ich arbeite für Dottor Luigi, diesen Möchtegern-Mafioso, den außer mir eh niemand je gesehen hat oder mit richtigem Namen kennt. Egal. Aber ich weiß, woher ich dich kenne.“

„Das Leben steckt voller verrückter Zufälle. Also gut, ich lebe in Amsterdam und Frankfurt, aber meine Auftraggeber sind andere. Sie legen sehr viel Wert auf Diskretion. Dass wir beide uns kennen, ist schon schwierig genug. Aber wenn es der höheren Sache dient….“

„Sag mir verdammt nochmal, wer du bist“, fuhr ihr Beppi dazwischen. Noch einmal versuchte er, die Asiatin an eine Wand zu drücken und ihr die Bluse herunterzureißen. Er hatte es einfach an jenem Abend im Osten Frankfurts, blieben doch die Menschen am Stadtrand zuhause, während sich die Polizisten auf Yokos Spuren in der Innenstadt, das Occupy-Camp und die Drogenszene im Bahnhofsviertel konzentrierten.

Nun wurde es Yoko aber doch zu bunt. Mit einem geübten ostasiatischen Kampfgriff drehte sie seinen Arm mit all seiner männlichen Energie herum, riss sich dann los und trat Beppi von sich, wobei sie ihn nur wenig über seinem besten Stück erwischte. „Verdammt nochmal, für dich bin ich Wei Chin. Das reicht. Zu viel Neugierde wird mit dem Tod bestraft“, rief sie und sprang davon. Dabei merkte sie nicht, wie etwas in den Ausguss kullerte, das ihr Beppi offenbar zuvor aus der Bluse gerissen hatte.

„Hey, bleib stehen, willst du mir etwa drohen!“

„Mensch duck dich, du Idiot!“ Yoko hörte einen Knall, sah abermals einen schwarzen Schatten davonhuschen. „Ich sag dir doch, es wird gefährlich, wenn du zuviel von mir weißt.“

Beppi richtete sich langsam auf, sicherte die Straße mit einem Blick. Die Luft war offenbar wieder rein. „Na schön, dann herzlich willkommen in Seckbach. Ein Stadtteil im Osten Frankfurts, in dem es kaum Kriminalität gibt.“

„Wie hast du mich überhaupt hier gefunden?“

„Wenn du Dummerchen in ein Taxi mit dem Aufkleber der Pizzeria steigst und dich kurz vor dem Lohrberg abladen lässt. Gib mir wenigstens deine Handynummer.“

Yoko hätte fluchen können, doch sie grinste verwegen, zückte ihr Handy und wählte Beppis Nummer, die sie schon seit langem herausgefunden hatte. „Hier bitte. Ich bin über eine Rufumleitung in Amsterdam zu erreichen. Aber nur, wenn ich will und wenn die wollen. Meine richtige Nummer herauszukriegen ist zwecklos.“

Mit langen Schritten war Yoko in der Dunkelheit verschwunden. Als sie sich das nächste Mal umdrehte, hatte sie Beppi bereits aus den Augen verloren. Inzwischen hatte sie die engen Gassen Seckbachs hinter sich gelassen und näherte sich wieder dem Lohrberg. Doch sie hatte auch dieses Mal keinen Sinn für den Ausblick auf die nächtliche Skyline, sondern bog in einen Seitenweg ab, der sie in Richtung Bergen-Enkheim führte. So sehr sie sich auf ihre Flucht zu konzentrieren suchte, so sehr wurde ihr dabei klar, dass sie sich seit mindestens vier Jahren auf der Flucht befand- auf der Flucht von zuhause und ihrem früheren Leben, auf der Flucht vor der Wahrheit über ihre Bestimmung und so manches Mal auch auf der Flucht vor jenen Männern, die ihr das Frankfurter Leben gerne besonders angenehm machen wollten. Auf die durfte sie sich auf keinen Fall einlassen. Aber wie ging es ihren Eltern, wann würde sie sie wiedersehen? Yoko hatte ihr Auskommen und war wohl behütet, doch sie war auch heimatlos in dieser Stadt – ein Schicksal, das sie zunächst mit vielen Migranten teilte. Und doch war ihre Situation eine ganz besondere.

Als es noch heller war, hatte Yoko einige Gartengrundstücke östlich des Lohrbergs in Richtung Bergen-Enkheim liegen sehen. Nun rannte sie instinktiv in diese Richtung und tastete sich in der Dunkelheit auf einem schmalen Waldweg entlang, bis die letzten Lichter der umliegenden Stadtteile vollständig verschwunden waren. Doch die junge gelenkige Frau scheute die Finsternis nicht – ganz im Gegenteil. Mit ihrer besonderen Begabung zum räumlichen Sehen konnte sie auch nachts ihre Umgebung gut erfassen, selbst unwegsames Gelände auf Gefahren regelrecht einscannen. Es schien, als wollten sich ihre sonst eher schmalen Pupillen wie Katzenaugen öffnen, um sich auf das Abenteuer einzulassen. Wenngleich besondere Wachsamkeit gefragt war: Noch konnte Yoko nicht ausschließen, dass sie verfolgt wurde, weil Freund und Feind gleichsam auf sie aufpassen wollten. Doch niemand war weit und breit zu sehen. Schließlich konnte sie unter dichtem Bewuchs so etwas wie einen Trampelpfad ausmachen, auf dem man sich zwischen Büschen und kniehohem Gras gerade so durchschlagen konnte. Yoko zögerte: Eigentlich war sie mit ihrem handlichen Sturmgepäck für alles ausgerüstet. Doch hier braucht man ja eine richtige Machete‘ dachte sie und schmunzelte über ihre eigene Ratlosigkeit. Dann ertastete sie mit ihrer rechen Hand einen losen Ast, den sie von einem der Büsche abbrach. Nun konnte sie sich ihren Weg bahnen.

Nach etwa hundert Metern nahm sie auf der linken Seite die Umrisse eines kleinen Gartenhüttchens war. Es lag derart versteckt zwischen all dem Gehölz, dass nicht mal sie es gesehen hätte, doch zwischen den Zweigen glimmte noch ein winziges Gartenlichtchen. Doch Vorsicht, was mochte das heißen? Sollte etwa doch jemand in dieser einsamen Gegend nächtigen? Yoko tastete sich langsam heran, bis sie mit ihrer rechten Hand die Tür und dann den dazugehörigen Griff zu fassen bekam. Yoko wartete einen Moment. Noch blieb es ruhig. Dann hörte sie plötzlich Zweige und Blätter rascheln und fuhr regelrecht zusammen, als ein schwarzer Vogel mit heftigem Flügelschlag nach oben flatterte. Nun musste sie sogar kichern, dieses Mal über ihre scheinbar unbegründete Angst: ,Sicher nur ein Rabe, der vor einer umherstreunenden Katze geflohen ist!‘

Zu ihrer Verwunderung stellte Yoko fest, dass die Tür gar nicht abgeschlossen war. Vorsichtig schob sie den Riegel zurück und ertastete mit der linken Hand einen Lichtschalter. Sie knipste das Licht an und erblickte einen chaotischen Haufen umgeworfener Regale und verstreuter Blätter. Welcher Kampf mochte hier bloß getobt haben? Einem spontanen Impuls folgend löschte Yoko das Licht und schlich ins Nebenzimmer. Schnell hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit in der Hütte angepasst, so dass sie jetzt mit dem Lichtkegel ihrer dünnen Stablampe auskommen würde, um die Umgebung zu erkunden. Doch viel Zeit sollte ihr nicht bleiben: Rechts hielt sie den Lichtkegel auf einen Kleiderschrank, links auf ein Bett, auf dem ein Haufen blutverschmierter Kleider herumlag, dazwischen abgepackte Spritzen, Nadeln und ein Päckchen Tabletten. Yoko hatte den ersten Schrecken noch nicht verdaut, als sie hörte, wie sich jemand von außen an die Hütte herantastete und sich an dem Riegel zu schaffen machte.

Blitzschnell knipste Yoko das Licht aus und schlüpfte in den Kleiderschrank, der sogar für sie zu klein war – eigentlich. Doch die junge geschmeidige Frau verfügte über die wundersame Gabe, in den Schrank regelrecht hineinzukriechen und ihre Arme und Beine wie eine Schlangenfrau zusammenzurollen. Eine Nummer, die man sonst nur aus dem Zirkus kannte – doch bei der Ausbildung von Yoko hatte man eben an nichts gespart.

Nur ein winziger Spalt blieb ihr, um hindurchzulunzen und zu erahnen , was sich nun abspielen sollte. Eine ältere etwas kräftige Frau, deren Gesicht sie nicht erkennen konnte, betrat den Eingangsraum und das Schlafzimmer, um sich nacheinander Licht zu machen. Offenbar fühlte sie sich sicher genug, nicht beobachtet zu werden. Sie hatte Gummihandschuhe übergezogen und hantierte mit einer Plastiktüte. Dann wandte sie sich dem Kleiderhaufen zu, verstaute die Teile in der Tüte und versteckte sie unter dem Bett.

Yoko kroch zaghaft aus ihrem Versteck heraus, knipste die Stablampe an und sah sich um. Sie wartete noch fast eine halbe Stunde, um sicherzugehen, dass die Frau nicht doch nochmal zurückkehren würde. Was ihr wie eine Ewigkeit vorkam, schließlich hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren. Dann schaltete sie in beiden Räumen die beiden großen Lichter an. Erst jetzt entdeckte sie an der Wand schräg gegenüber vom Bett einen großen Bolzenschneider. Im Nebenzimmer gelang es ihr, unter den zusammengesuchten und gestapelten Blättern einige unbeholfene Skizzen mit Frankfurter S- und U-Bahnlinien zu finden, die sie einpackte. Dann zog sie ihr Handy aus der Brusttasche, das sie mit einem komplizierten Sicherheitscode entsperrte, um eine lange Geheimnummer einzutippen und auf den Anrufbeantworter zu flüstern. „Ich stecke in Schwierigkeiten, muss in Frankfurt untertauchen. Bitte zieht eure Aufpasser ab!“ Dann klinkte sie sich ins Internet ein und suchte nach weltoffenen Gruppen von jungen Leuten in der Mainmetropole, an die sie sich in ihrer bedrängten Situation wenden konnte. Doch jene Gleichgesinnte, die sie brauchte, wollten erst einmal in den Chaträumen mit den nötigen Passwörtern gefunden werden. Südlich von Frankfurt schien sie fündig geworden zu sein. Schnell schickte sie ein paar E-Mails ab.

Dann ging sie zurück ins Schlafzimmer und blickte zum Bett, dort, wo Decken und Müllsäcke jenen Zwischenraum verdeckten, hinter dem sich die Kleider verbargen. Nein, hier konnte sie keinen Augenblick länger bleiben, wer wusste schon, wann die Frau zurückkommen würde. Doch wie konnte sie sich schnell und möglichst unauffällig zurück in die Stadt bewegen? Yoko hatte plötzlich eine Idee. In der Nähe zum Seckbacher Ortseingang hatte sie ein paar verwaiste Fahrräder gesehen, die nur mit billigen handelsüblichen Schlössern angekettet waren. Mit dem Bolzenschneider nebenan würde das kaum ein Problem darstellen. Schnell verstaute sie das sperrige Werkzeug, das gerade noch so in ihren Rucksack passte. Dann machte sie sich auf und davon.

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Auch der nächste Morgen brachte anregend warmes Frühjahrswetter, das aber manch einen eher in das Reich der Träume und Faszinationen schickte. Vor allem auf dem Computerbildschirm, wo ein schillernder Film mit melodiös untermalter Propagandamusik auch westliches Publikum allzugerne in die fernöstliche Welt der Manege entführte.

Die junge Artistin landete zielsicher auf den starken Schultern ihres Partners. Mit der grazilen Leichtigkeit ihres Seins federte sie den Sprung ab, verharrte nur wenige Sekunden konzentriert, um dann wie eine Elfe auf einem Bein schwebend vom luftigen Trapez in die Menge zu winken. Das Publikum klatschte frenetisch Beifall, während die Violinen immerfort lieblich-beschwingte Heldenmelodien anstimmten, als ob sie das irdische Paradies unter den großen Führern der aufgehenden roten Sonne ausmalen wollten. Doch plötzlich verstummten die Streicher, während die Trommler einen dramatischen Wirbel heraufbeschworen. Die Akrobatin setzte erneut zum Sprung an, wirbelte mit unzähligen Saltos und Pirouetten durch die Luft, während die Menge plötzlich wild und unbändig zu schreien begann- aus Faszination, Begeisterung oder Schrecken? Denn die junge Schönheit überschlug sich mehrfach, wirbelte wie ein von Hand geschleudertes Plastikpüppchen durch die Luft, die Kamera schwenkte unscharf hinterher, versuchte einzufangen, was längst nicht mehr zu greifen war, noch ein Salto, noch eine Pirouette, zwei ineinander verdrehte Schrauben, ein laut anschwellender Schlussakkord auf die Helden der Revolution, und ein Kollege fing sie auf und warf sie von seiner Schaukel durch die Luft, wo sie sich zwei weitere Male überschlug und im Tiefflug nach unten auf dem großen Trampolin landete – Applaus, Applaus, Applaus, schon vom bloßen Hinschauen konnte einem schwindlig werden.

Rote tausendfach gestrichelte und gepunktete Schriftzeichen unterstrichen noch einmal die Sensation, während der Graf tief Luft holte.

„Na, noch immer gefangen von der Faszination des Zirkuszelte?“

Graf Georg von Erbenstein drehte sich um und bemerkte die freundlich lächelnde akkurate Dame mit dem Haarknoten, die sich ihm langsam von seiner Zimmertür Richtung Garten näherte und sich fragen schien, warum ihr früherer Chef, der nun in einer Suite mit Parkblick in der Schlossresidenz auf dem Sachsenhäuser Mühlberg wohnte, nicht einfach den Blick auf das Goethetempelchen genoss, statt immerzu in die Tiefen seines Displays hinabzutauchen.

„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte wirklich nicht stören. Aber ich wollte doch vor den Feiertagen nochmal kurz bei Ihnen vorbeischauen. Haben Sie mich denn gar nicht klopfen hören, Herr Direktor?“

„Bitte nennen Sie mich nicht so, Frau Müller. Ich wusste nicht, dass Sie es sind. Bitte, kommen Sie doch herein.“

„Die beiden Herren auf dem Display haben aber wenig mit dem zu tun, was Sie gerade bewegt. Habe ich recht?“ Sekretärin Gerda Müller schaute etwas irritiert auf den Monitor, der nun eine heimelige aber wenig spektakuläre Szenerie mit zwei älteren Clowns zeigte. Zwischendurch schwenkte die Kamera nach außen, so dass man Zirkuszelt und Zirkuswagen mit der Praunheimer Zehntscheune im Hintergrund erkennen konnte.

„Ach ja“, murmelte der Graf und verstand selbst nicht, was da wieder in seinen Gedanken vor sich ging. Seine ehemalige gute Seele konnte in der Tat nichts weiter sehen als zwei drollige bunt geschminkte Kerle, die mit hörbar italienischem Akzent ihre Pferde und Kamele vorführte. Doch in seinem Kopf hatte sich eine ganz andere Zirkusszene so plastisch eingebrannt, dass sie die friedlich-lustige Szene mit dem ständigen Leitspruch „Ragazzi, vedete i cavalli“ (Jungs, seht nur die Pferde) einfach überblendete.

„Herr von Erbenstein, Sie müssen es Ihrer Frau endlich sagen.“

„Ich muss meiner Frau was sagen?“

„Na das, was damals passiert ist.“

„Sie meinen meine Geschichte von der jungen und grazilen Artistin, mit kleinen Augen und langen, glatten und schwarzen Haaren? Sie hatte sich bei einer Übung verletzt, aber nicht so schlimm, dass sie davon hätte sterben müssen. Sie wurde mit einer Blutvergiftung ins Mühlbergkrankenhaus eingeliefert. Doch ich konnte ihr nicht helfen, ich war zu jung und unerfahren. Und ich hatte eine Diebin in meinen Reihen, die die Medikamente gestohlen hatte und die ich nicht entlarven konnte, obwohl ich es besser hätte wissen müssen.“

„Aber das damals war doch etwas ganz anderes. Sehen Sie, dieses tragische Unglück vor vier Jahren, von dem Sie neulich schon sprachen, das passierte doch außen auf dem Gelände, ich meine…..“

„..meine Artistin sah dieser Zirkuskünstlerin irgendwie ähnlich, wenn sie auch europäische Gesichtszüge hatte….“

„Wie auch immer, Sie können nichts dafür. Sie dürfen sich nicht länger damit quälen. Und Sie müssen es Ihrer Frau endlich sagen!“

„Sie werden es nicht glauben, das hatte ich sogar vor. Ich wollte meine Frau dafür am Wochenende in die Zirkusvorstellung nach Praunheim einladen. Ich wollte gerade nochmal schauen, was die im Programm haben und wann genau die Vorstellung anfängt. Dabei kommen die alten Bilder immer wieder hoch. Aber was soll’s, meine Frau kann wahrscheinlich eh nicht, sie hat die Woche nach Ostern bestimmt Wochenenddienst.“ Von Erbenstein ging zum Schreibtisch, zog die Schublade auf und begann etwas herauszusuchen.

„Aber….“

„Nichts aber. Bitte nehmen Sie die Karten. Gehen Sie mit ihrem Mann hinein, oder vielleicht auch mit ihrem Enkelkind. Das wird bestimmt lustig, auch wenn es nur ein kleiner Regionalzirkus ist und nicht der große…“

„Aber Herr von Erbenstein, das kann ich nicht annehmen.“

„Doch, das können Sie. Und bitte keine Widerrede. Das ist eine dienstliche Anweisung.“ Baron von Erbenstein schmunzelte.

„Na schön, aber dann nehmen Sie wenigstens das hier.“ Gerda Müller zog aus ihrer Tragetasche eine Schachtel Pralinen hervor, dekoriert mit einem roten Schleifchen. „Zu Ostern habe ich es leider nicht mehr geschafft, bei Ihnen vorbeizukommen.“

„Ich bitte Sie, das wäre jetzt aber auch nicht nötig gewesen. Aber nun tun Sie mir bitte einen Gefallen und lassen mich noch ein bisschen alleine.“

Gerda Müller lächelte verlegen, ging hinaus zur Tür und winkte ihrem früheren Brötchengeber noch einmal zu. Kaum war die Sekretärin zur Tür hinaus, da wollte sich der Baron schon wieder in die Tiefen seines Laptops flüchten. Wie schön war es doch, sich in der virtuellen Welt zu versenken und die Realität einfach hinter sich zu lassen.

Der Morgen begann stressig und nervenaufreibend im Polizeipräsidium in der Adickesallee. Kein Zeuge zeigte sich um diese Uhrzeit besonders kooperationsbereit, wenn es um protokollarische Vernehmungen ging. Die einen wähnten sich in ständiger Angst, irgendetwas zu verpassen, wenn sie nicht frühzeitig im Geschäft auf Ordnung und Organisation achteten, ihren frühen Terminen oder Dienstbesprechungen nachgingen oder sich nicht wenigstens die frühe Morgenstunden zum Checken ihrer unzähligen Mails und SMS Zeit nahmen. Und wer frei hatte, war sowieso unleidlich, weil er einen wohlverdienten Tag zum Ausschlafen verpasste.

Nach und nach verhörten die Kommissare Pokroff, von Erbenstein und Zorbas die Beteiligten, sie sich zum Zeitpunkt des Schwächeanfalls von Nadine Engelthal rund um den Westhafentower aufgehalten hatten und versuchten erste Profile der potentiellen Täter, Mittäter oder zumindest Tatverdächtigen zu erstellen. Doch es wollten sich einfach keine passenden Zusammenhänge ergeben.

„Wenn ich diese seltsame Konstellation nur durchschauen könnte“, grübelte Pokroff angestrengt vor sich hin. „Mir ist, als wüssten die alle ganz genau, was es mit der Engelthal und dieser mysteriösen Yoko auf sich hat. Irgendwas ist hier oberfaul. Wenn ich nur wüsste, was!“ Stück für Stück ging er mit seinen Kollegen die Protokolle nochmal durch, gemeinsam ließ man die beteiligten Personen und Anhaltspunkte noch einmal Revue passieren:

Demnach war Paola Mandiani war gerade im Begriff zu gehen, als Yoko das Glas fallen ließ. Eigentlich hätte ihre Schicht gerade erst begonnen. Doch schon am Tag zuvor hatte sie Yoko gebeten, sie ab dem späten Vormittag zu vertreten – wegen einer dringenden familiären Angelegenheit, wie sie sagte. Angeblich hatte ihre Schwester Stefania sie gebeten, als Babysitterin einzuspringen, weil der Hausarzt ihr kurzfristig einen Termin für eine Routineuntersuchung angeboten hatte. Das klang zwar ziemlich herbeigeholt, konnte aber zumindest die Verärgerung des Chefs erklären, dass sein Personal ständig und ohne Rücksprache für nichts und wider nichts die Dienstzeiten tauschte.

Franco Marinelli war zum Zeitpunkt des Schwächeanfalls in der Küche beschäftigt und konnte deshalb nichts mitbekommen. Er war zusammen mit seinem älteren Bruder Salvatore vor 20 Jahren nach Frankfurt gekommen. Schon in Bologna hatte er in mehreren Cafés und Pizzerien an den „beiden Türmen“ gearbeitet, dem Wahrzeichen der mittelalterlichen Stadt. Nach ihnen benannte er seine erste Frankfurter Bar „Twin Towers“ gegenüber den ungleichen Zwillingshochhäusern „Castor und Pollux“. Dort organisierte er erstmals den Business-Stammtisch „Twin Tower Projects“. Vor zwei Jahren zog er in den Westhafenturm, wo er jetzt das „Portonuovo“ leitete.

Richard Zander saß ahnungslos draußen vor dem „Portonuovo“ , erschrak beim plötzlichen Schwächeanfall von Nadine Engelthal und konnte sich keinen Reim auf den Streit zwischen Marinelli und Yoko machen. Er wurde in Hamburg geboren und hatte wie sein Freund Alfred Kühn in den vergangenen zehn Jahren in Potsdam gelebt, bevor er nach Frankfurt kam. Er hatte sich in einem Zimmer über den Ateliers mehrerer Künstler in einer Loft in Rödelheim eingemietet und lebte sehr zurückgezogen. Mit Franco Marinelli und Alfred Kühn organisierte er gemeinsam den Stammtisch Skyline Projects im „Cider Rider“ im Obergeschoss des Westhafen Towers. Dort, so sagt er, hätten die Gäste zugleich den nötigen Weitblick für neue Pläne und Projekte.

Kellner Ahmed , aufgewachsen im Galaterviertel in Istanbul, wohnte zuletzt in Bornheim in der Nähe der Friedberger Warte, weil ihn der Wehrturm am Hang an das heimatliche Viertel am Bosporus erinnerte. Er beobachtete Nadine Engelthal, wie sie sich dem „Lido di Francoforte“ näherte, sich entspannt am Sandstrand ausbreitete und dann scheinbar urplötzlich zusammenklappte. Ahmed rief den Krankenwagen, weil die Umstehenden draußen vor Schreck wie gelähmt waren, und wies die Rettungssanitäter ein. Hinterher fragte er sich selbst, ob er den entscheidenden Moment übersehen hatte, der die Ursache für Engelhals Schwächeanfall war.

Lisa Naumann, Journalistin, plante zuletzt ein Interview mit Nadine Engelthal, von dem deren Kollegin Bella Modenbach nichts wissen durfte. Denn Bella war Nadines Erzrivalin. Ein Motiv hätte sie sicher gehabt, war jedoch ebenso wenig am Tatort gesichtet worden wie Nadines ebenfalls nicht unverdächtiger Sohn Georg. Doch auch die übrigen Augenzeugen in der Bar waren alles andere als sauber. Sie wollte die Journalistin näher unter die Lupe nehmen – ohne dabei der Polizei bei ihren Ermittlungen in die Quere zu kommen, versteht sich.

Punkt zehn Uhr lud Hauptkommissar Pokroff zur Dienstbesprechung im Polizeipräsidium. Es war eine erste Bestandsaufnahme an Indizien, die bislang allerdings mehr neue Fragen als Antworten generierte. Und doch blieb die Hoffnung, im Team zu neuen Einsichten zu gelangen und Lösungswege für jene Probleme zu finden, die jeden Einzelnen überforderten.

„Okay, Kollegen. Wir alle konnten gerade die Augenzeugen vor Ort selbst vernehmen oder wenigstens die Protokolle der anderen kurz gegenlesen. Wir haben routiniert nach Vorschrift gehandelt und unsere ganze Erfahrung und Intuition eingesetzt, um ihnen auf den Zahn zu fühlen, ihren Charakter und ihre Rolle in diesem skurrilen Fall irgendwo zwischen Unfall, Selbstmord und versuchtem Mord richtig einzuschätzen. Doch was hat es uns gebracht?“ Haben sich neue Aspekte ergeben?

Achselzucken.

„Haben die Vernehmungen wenigstens unsere eigenen Eindrücke und die ersten Ergebnisse der Spurensicherung und Rechtsmedizin bestätigt?“

Kopfnicken.

„Mann, seid ihr heute wieder gesprächig. Nur so kommen wir nicht weiter.“

„Ich frage mich, ob Ahmed uns alles erzählt hat, was er wirklich gesehen hat“, meinte Zorbas.

„Und warum die Mandiani angeblich so schnell wegmusste. Ob das mit der Schwester und dem Arzttermin nicht nur vorgeschoben war. Ob die Mandiani Lunte gerochen hatte, dass da irgendetwas im Busch war und lieber unserer Yoko nach dem plötzlichen Ableben der Designerin die Beseitigung der Spuren überlassen wollte“, ergänzte von Erbenstein. „Was meint ihr?“

„Möglich.“ Pokroff nickte. „Auch ich versuche diese fünf wie orientierungslose Schachfiguren in einem Spiel hin- und herzuschieben, dessen Regeln keiner richtig kennt. Der Zustand von Nadine Engelthal ist nach wie vor sehr kritisch. Die Ärzte können noch nichts sagen. Ihre Rivalin Bella Modenbach ist seit zwei Tagen ausgeflogen. Eine Kollegin in ihrem Atelier meinte, sie hätte gestern einen Termin in Darmstadt gehabt und sei von da aus gleich weiter zu ihren Eltern nach Karlsruhe wegen einer familiären Angelegenheit gefahren. Und ihr habt gestern Abend noch versucht, die Adresse von unserer mysteriösen Chinesin zu überprüfen. Was ist dabei herausgekommen?“

„Leider nichts Erhellendes. Wir vermuten, sie unterhält in diesem Studentenwohnheim nur so etwas wie eine Tarnadresse“, antwortete Christiane von Erbenstein. „Was ihr umso leichter fällt, da dort inzwischen offenbar ein weiterer japanischer Student mit Namen Omura wohnt.

„Und von den zuständigen Revieren gibt es keinerlei Rückmeldungen, dass gestern jemand aufgegriffen wurde, auf den die Personenbeschreibung passt?“, hakte der Hauptkommissar nach.

„Nicht wirklich. Allerdings sind die Kollegen dort auch alle ersatzgeschwächt, da sie sich mit ihren Leuten auf die Einsätze bei Occupy Frankfurt vorbereiten müssen. Das macht die Situation nicht gerade einfacher“, meinte Zorbas. „Nur ein Kollege konnte im Alleenring ein Taxi anhalten.“

„Ach ja.“ Pokroffs Augen hellten sich für einen Moment auf.

„Da drin befand sich aber nur eine braunhaarige Frau mit Namen Henny. Na ja, eigentlich heißt sie Henriette Winkler.“

„Henriette Winkler?“, fragte von Erbenstein dazwischen. Das ist doch sicher die Enkelin oder Nichte von der alten Frau Winkler, die noch bis vor wenigen Jahren ein kleines Kleidergeschäft in Alt-Niederrad besaß. Aber dann zog die kaufkräftige Kundschaft weg, überall drum herum siedelten sich billige Filialketten an und irgendwann setzte ihr der Hauseigentümer die Miete hoch. Sie musste verkaufen und half noch bis zuletzt einer Freundin, die Textil- und Haushaltswaren im Gallus verkaufte. Da ist jetzt aber ein Buchhändler drin oder so.“

Pokroff lauschte den Ausführungen seiner Kollegin, glaubte sich auch an besagtes Kleidergeschäft zu erinnern und war für einen Moment so abgelenkt, dass bei ihm der Groschen nicht fiel, als er den Namen der Enkelin hörte.„Und die Angaben wegen Frau Modenbach, Evangelos?“, wollte er schließlich wissen.

„Die Kollegin hörte sich zumindest glaubhaft an. Richtig überprüfen können wir die Angaben im Moment freilich nicht. Aber ich habe ja eine private Einladung zu diesem Network-Stammtisch von Reinhard Zander und Alfred Kühn, der sich Skyline Projects nennt. Wenn Frau Modenbach vorher nicht auftaucht, könnte ich dort hingehen und sehen, ob ich sie dort sprechen kann“, schlug Zorbas vor.

„Gute Idee“, meinte Pokroff. „Wenn es aber angezeigt ist , sie richtig zu verhören, dann gib uns vorher Bescheid.“

„Das mit dem Verhör dürfte sich erledigen, da unsere liebe Reporterin Lisa Naumann ebenfalls dort auftauchen und Frau Modenbach ausgiebig für ihr Online-Magazin interviewen wird.“ Von Erbenstein konnte sich ein vorsichtiges Grinsen nicht verkneifen. „Und dieser komische Anschlag im Grüneburgpark?“

„Das kann im Moment niemand richtig zuordnen. Am liebsten würde ich den Vorfall als falschen Alarm abtun, wenn da nicht dieses knapp am Tatort vorbeigeworfene Messer wäre.“ Pokroff zuckte mit den Achseln. „Offenbar war das doch ein missglückter Anschlag, dem wir weiter nachgehen müssen. Leider ist diese Geschichte ebenso rätselhaft wie der Vorfall am Gründonnerstag mit dem jungen Mann, der sich verfolgt und von seiner Mutter im Stich gelassen fühlte und dann irgendwo in Rödelheim verschwand.“

„Seht ihr da einen Zusammenhang?“, fragte Zorbas.

„Möglicherweise schon“, schaltete sich von Erbenstein ein. „Denn Nadine Engelthals Sohn irrt seit mehreren Wochen ohne festen Wohnsitz durch Frankfurt.“

„Außerdem sieht der junge Mann vom Gründonnerstag ihr durchaus ähnlich. Wenigstens, soweit ich mich erinnern kann. Das müssen wir auf jeden Fall im Auge behalten“, meinte Pokroff. „Aber Sorgen bereitet mir die Sache mit der Japanerin. Niemand von den Tatzeugen, die wir gerade ausführlich verhört haben, kann sie richtig charakterisieren und einordnen. Sie muss nicht zwangsläufig die Täterin sein. Aber wenn wir nicht bald aufklären, was sie genau mit der Sache zu tun hat und dass sie wirklich nur als Studentin hier lebt, dann….“

„Was ist dann?“, fragte Zorbas.

„Dann wird man uns den Fall entziehen, weil man uns für unfähig hält.“ Pokroff legte die Stirn in Falten. „Und dann wird man den Fall dem Bundeskriminalamt übertragen, weil man internationale Verstrickungen dahinter vermutet. Also los, Leute, an die Arbeit.“

Eine gute halbe Stunde später fuhren Pokroff und Zorbas vor dem Haupteingang der Frankfurter Universitätsklinik vor, wo Pokroff sogleich nach dem zuständigen Chefarzt Gustav Bornemann verlangte. Und dafür erst einmal ein mitfühlendes Lächeln und Achselzucken von Oberschwester Inge erntete.

„Tut mir leid, der Professor operiert noch.“

„Wie lange?“

„Na, so ein halbes Stündchen vielleicht noch.“

Pokroff schätzte sich glücklich, dass es bei dem hektischen Betrieb im Krankenhaus am Ende bei einem Dreiviertelstündchen blieb, bis sich der Professor endlich für ein paar Minuten Zeit nehmen konnte.

„Herr Pokroff, ich weiß, es ist tragisch, aber Frau Engelthal liegt immer noch im Koma und wir können zur Zeit nicht sagen, ob und wann sie erwacht.“

„Könnte ich sie bitte sehen?“, bat Pokroff freundlich aber bestimmt.

„Nur durch die Glasscheibe.“

Reglos lag Nadine Engelthal im Zimmer der Intensivstation. Alleine der Monitor, der die wichtigsten Funktionen anzeigte, kündigte noch von den elementaren Lebensfunktionen und ließ Hoffnung aufkommen.

„Was können Sie zur Ursache des jetzigen Zustandes sagen?“

„Das ist im Moment mehr als schwierig. Unsere Ärzte und Fachlaboranten arbeiten auf Hochtouren, aber wir bewegen uns noch im Stadium der Vermutungen und Spekulationen. Die Symptome und messbaren Blutwerte könnten für eine starke und hochkonzentrierte Substanz sprechen, die in ihrer Pharmakologie und Toxikologie dem Wirkstoff N-Methylamphetamin ähnlich ist.“

„Methylamphetamin? Der Wirkstoff von Pervitin und Crystal Meth? Das wäre doch eher eine aufputschende Droge und würde nicht gerade für einen schnellen und schonenden Tod sprechen. Wie Sie wissen, gehen wir davon aus, dass man Frau Engelthal das Mittel in einer Tasse Kaffee verabreicht hat.“

Bei ihrer chronischen Herzinsuffizienz könnte sich da eine äußerst gefährliche Wechselwirkung ergeben haben.“ Bornemann rückte sich die Brille zurecht.

„Und über die genauere Zusammensetzung dieser Substanz kann man wirklich noch gar nichts sagen?“ Pokroff blickte den Professor hilfesuchend an.

„Nicht, so lange wir keine Spuren davon in der Tasse finden oder wenigstens einen Präzedenzfall in unserer Stadt mit vergleichbaren Werten und Symptomen haben, bei dem die Substanz bekannt ist. Die genaue Untersuchung und Auswertung kann viele Tage dauern.“

„So lange können wir aber nicht warten“, insistierte Pokroff mit leicht bebender Stimme. „Es muss doch irgendeinen Anhaltspunkt geben.“

„Nun, ich habe schon mit Herrn Wolff von der Rechtsmedizin gesprochen, einem Fachexperten für psychogene Substanzen. Vor fünf oder sechs Jahren sind lediglich zwei ähnliche Fälle aus Japan bekannt geworden. Dort handelte es sich um ein neues Derivat von N-Methylamphetamin, bei dem Fluor zum Einsatz kam. Durch das Fluor passiert die Substanz die Blut-Hirn-Schranke schneller und effektiver. Aber hier handelt es sich wie gesagt um ein sehr starkes und hochdosiertes Präparat, möglicherweise auch in Kombination mit einem weiteren Wirkstoff, das in dieser Form in Deutschland völlig unbekannt sein dürfte. Deshalb müssen wir die Ergebnisse abwarten, weitere Spekulationen kämen einem Lesen im Kaffeesatz gleich.“

„Kann man wenigstens sagen, wann Frau Engelthal wieder aufwachen wird?“, erkundigte sich Zorbas.

„Wenn ihr Organismus stark genug ist und sie ohne bleibende Folgeschäden wieder zu sich kommen soll, müsste das in den nächsten Tagen geschehen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen möchten?“

„Selbstverständlich, besten Dank. Nur eine kleine Frage bitte noch?“ Pokroff schaute auf das untere Ende von Nadine Engelthals Bettdecke, aus der der rechte Fuß ein kleines Stückchen herausschaute.

„Also bitte?“

„Sie haben Frau Engelthal eingehender untersucht. Sehe ich das richtig, dass die zweite Zehe ihres rechten Fußes länger ist als die große Zehe?“

„Das ist gut möglich. Man spricht dann von einem so genannten griechischen Fuß. Aber im Moment haben wir mit Frau Engelthal wirklich andere Sorgen, Herr Pokroff.“

„Selbstverständlich. Ich frage auch nur deshalb, weil ich neulich bei einem jungen Mann in Sandalen das gleiche Phänomen beobachtet habe. Könnte es sein…“

„Ja, es könnte. So etwas ist vererbbar. Aber jetzt muss ich wirklich zurück in den OP.“ Bornemann erhob die Hand zum Gruß, während er bereits zum Laufschritt ansetzte. Pokroff lächelte kurz zurück, was Zorbas auf seine Art zu deuten wusste. Sein Chef mochte es eben, wenn man salutierte.

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Der Gangnam Style war offiziell noch gar nicht geboren, als in den Hinterhöfen der Hohenstaufenstraße die Fenster aufgerissen wurden und der K-Rap ein ganzes Quintett koreanischer Köche zu Höchstleistungen anspornte. „Wollt ihr nächstes Jahr beim großen Wettkochen auf dem Roßmarkt gewinnen oder nicht, ihr Flaschen!“, trieb der Inhaber Lee Yong-Ho seine Mannschaft an. Keine Frage: Das große Koreanische Kulturfestival warf seine ersten Schatten voraus. Und wer 230 Kilo Reis, Gemüse und scharfe Chilipaste, genannt Bibimbap, in Rekordzeit umrühren wollte, der konnte hier schon mal üben. Wenigstens 25 Kilo sollten zum 60. Geburtstag des Shikgoo-Restaurants unter das Volk gebracht werden –neben südkoreanischem Reis, Rindfleisch, Karotten, Sellerie und Broccoli aus allen Teilen West- und Ostdeutschlands vermutete man in dem riesigen Holzzuber auch einige hundert Gramm Spinatblätter aus Nordkorea – auch wenn niemand so recht wusste, auf welchen verschlungenen Wegen sie aus dem Land herausgeschmuggelt werden konnten.

Kurz nach 13 Uhr, als der Lärm auch zur anderen Seite hinausdrang, rannte Margarethe Brünner aufgeregt in die Hohenstaufenstraße. Und der Anblick, der sich ihr beim Blick in das Schaufenster des Seoul Shop bot, sorgte nicht gerade für Entspannung. Neben den dicken Glücksbuddha aus weißem chinesischen Porzellan hatte Bae eine japanische Doraemon-Katze gestellt und ihr ein Schild umgehängt: „Ja nee is klar, bin gleich wieder da.“ Offenbar liebte der Inhaber Comedyserien aus dem Ruhrpott – und „nee“ bedeutet im Koreanischen zugleich „ja“. Monoton winkte der messingfarbene Katzenroboter mit seiner rechten Tatze. Die Tür war freilich verschlossen.

„Na, dem sein Sinn für Humor möchte ich haben“, fauchte die Vermieterin. Sie schloss die Haustür auf und klingelte an der Wohnungstür. Doch auch dort öffnete niemand die Tür. Schließlich schloss sie selbst auf und stürmte in eine scheinbar leere Wohnung. Doch der Schein täuschte. Denn aus dem Zimmer hinten rechts drangen unmissverständliche Laute und schließlich Schreie an ihr Ohr.

Frau Brünner vergaß jeglichen Anstand uns riss die Zimmertür auf. Gerade noch konnte sich ein junges Mädchen unter der Bettdecke verstecken, während ihr Liebhaber mit einem Kung-Fu-Sprung aus dem Bett schoss, ins Badezimmer rannte, die Tür zuschlug und den Schlüssel herumdrehte.

„Das ist ja wohl unerhört. Hab ich’s doch geahnt. Herr Bae hat wieder untervermietet. Illegal. Ohne mit mir zu sprechen. Von Ihren Vergnügungen will ich gar nicht reden. Aber ich wette, Sie haben nicht einmal gültige Aufenthaltspapiere. Soll es wieder so kommen wie im September 2008, als man die erstochene Nordkoreanerin quasi vor der Tür meines Hauses gefunden hat? Das hat meinen Ruf schon genug geschädigt. Und nun wurde im Westhafen jemand vergiftet und wieder steckt so eine Chinesin oder Japanerin dahinter. Ich kann die Stunden zählen, bis die Polizei kommt und hier die Räume durchsucht. Ich gebe Ihnen genau eine Viertelstunde, dann haben Sie ihre Sachen gepackt und sind mit Ihrem verrückten Lover verschwunden? Verstanden?“

Das Mädchen nickte verängstigt, während die Vermieterin wutentbrannt die Zimmertür zuschlug. Frau Brünner rannte wutentbrannt die Hohenstaufenstraße hinunter, vorbei an den Arkadengängen des Towers 185, als sie sich vor der U-Bahn- Eingang Messe anders besann und umdrehte. Ihr war wieder eingefallen, dass der Inhaber des gegenüberliegenden koreanischen Lokals tatsächlich die halbe Straße zu seiner Reisschlacht eingeladen hatte. Sogar Frau Brünner, die er von einem kurzen Mittagsmenü kannte , hatte er eine Einladungskarte in den Briefkasten geworfen. Sie sprang über die Straße, riss die Lokaltür auf, kämpfte sich , den eindringlichen süßsauren Küchengeruch ignorierend, durch Heerscharen fröhlich nickender Belegschaften nebst Familien hindurch, die angeregt ihre Kimchi-Suppen schlürften und dabei in ihren Ohren wie die Wildgänse im Nakdong-Fluss schnatterten.

An der Bartheke erblickte sie Bae mit einem gelblich-grün schimmernden Sektglas- ruhig und liebevoll lächelnd, wie sie es von ihm immer gewohnt war. Ein Fels in der Brandung, der sich bei offiziellen und feierlichen Anlässen gerne wie eine Inkarnation des Dalai Lama gab. Er erhob sein Glas, als gelte es, auf das Wohl seiner Vermieterin anzustoßen.

„Guten Tag Frau Brünner. Schön, Sie hier zu sehen. Lassen Sie sich doch ein Glas bringen. Koreanischer Minzblütensirup, aufgegossen mit edlem Rieslingsekt, das wird Ihnen sicher munden.“

Frau Brünner zwang sich, die Contenance zu bewahren. „Herr Bae, dürfte ich Sie bitte einen Moment draußen unter vier Augen sprechen?“

„Aber sicher doch, liebe Frau Brünner.“ Woher hatte Herr Bae nur so gut Deutsch gelernt? Sogar den Umlaut ihres Nachnamens vermochte er nahezu fehlerfrei zu artikulieren.

Kaum hatten sich die beiden durch die Gästetische hindurchgekämpft, auf denen nun riesige Schüsseln mit fingerdicken Japchae-Nudeln, Hähnchenfleisch und stechend scharfem Ingwer serviert wurden, da fiel Frau Brünner sofort in ihren gewohnten Tonfall zurück.

„Also Herr Bae, das ist ja wohl die Höhe! Sie haben schon wieder ihr Zimmer untervermietet, und dieses Mal auch noch an so eine….

„Aber nein, ich bitte sie, das ist doch meine Nichte.“ Baes Deutsch klang weitgehend fehler- und akzentfrei, da er schon seit Jahrzehnten in Deutschland lebte und in seinem Geschäft auch den Umgang mit deutschen Kunden gewohnt war. Er nahm sein Lächeln etwas zurück, ließ es nun eher zurückhaltend und stoisch wirken. Doch sein gesamter Oberkörper blieb dabei so unbeweglich und gelassen, dass er seiner Vermieterin, die wild mit beiden Armen herumfuchtelte, wie eine schiere Provokation erscheinen musste.

„Das ist ihre was….“

„Ja, das ist meine Nichte. Sie muss gerade ein paar Tage überbrücken, bis sie in ihre neue Wohnung ziehen kann. Und da habe ich angeboten, dass sie so lange bei mir…“

„Ach ja, und ihren Lover, den hat sie auch gleich mitgebracht?“

„Sie meinen, sie hat….“ Baes Rede stockte und sein Lächeln wurde nun Teil einer leicht nickenden entschuldigenden Kopfbewegung, die mehr als tausend Worte sagen sollten. „Nein, das darf nicht sein, das gehört sich überhaupt nicht!“

„Jedenfalls, ich habe sie und ihren Typen aufgefordert, auf der Stelle die Sachen zu packen und die Wohnung zu verlassen. Und Sie sollten sich gefälligst merken, dass Sie hier noch längst nicht alles dürfen, nur weil sie 20 Jahre bei mir wohnen, immer höflich lächeln, pünktlich Ihre Miete zahlen und mir zwei Mal bei der Reparatur eines Wasserschadens geholfen haben!“

„Nein, nein, ich werde mit meiner Nichte sprechen und sie ermahnen, so etwas nie wieder zu tun. Sie kann die nächsten Tage auch bei ihren Freundinnen wohnen.“ Bae lächelte versöhnlich.

„Sie kann nicht, sie muss, Herr Bae! Sonst lernen Sie mich mal ganz anders kennen.“ Mit einem letzten bissigen Blick sprang Frau Brünner in ein Taxi, dass sie herbeigewunken hatte, und brauste davon, ehe der Koreaner sich einen neuen netten Gesichtsausdruck überlegen konnte.

**********************

„Geh zu ihr, und lass deinen Drachen steigen, geh zu ihr, denn man lebt ja nicht vom Moos allein.“ Immer wieder summte Rudolf Datschke das Lied der DDR-Band Puhdys vor sich hin, wiegte sich im Rhythmus, während er eher gelangweilt einige Kampfschriften der organisierten süddeutschen Studentenbrigaden sortierte. Seit fünf Monaten unterstützte er seinen Chef, den der freundschaftlich „Chris“ nannte, im marxistischen Buchladen „Vorwärts“, der sich eher unauffällig in einer Seitenstraße jenseits der Frankenallee versteckte. „Wohlstand für alle statt Deutschland, den kapitalistischen Ausbeutern und ihren willfährigen Staatsbütteln eins in die Fresse!“, brummte er genervt vor sich hin. „Unsere Revolutionäre könnten sich ruhig auch mal ein paar neue Slogans einfallen lassen.“ Immerhin, die ersten nunmehr antiquarischen Originalausgaben von Marx und Engels‘ Erben sowie einige seltene Feldstudien zum weltweiten Kommunismus dies- und jenseits des Atlantiks bildeten noch einen besonderen thematischen Schwerpunkt des Ladens. Doch mit diesen monotonen zunehmend sinnentleerten Kampfansagen der Arbeiter- und Studentenbrigaden, die die Eisenstange wahlweise gegen die Lokal-, Landes- und Bundespolitik oder auch gegen ortsansässige Burschenschaften und Immobilienhaie erheben wollten, konnten die revolutionären Kämpfer auf die Dauer nichts mehr reißen- dieser Einschätzung konnte sich Datschke nicht mehr verschließen. Auch wenn sie scheinbar erfolgreich auf den Occupy- und Blockupy-Zug aufgesprungen waren.

„So, jetzt reicht’s für heute.“ Datschke schaute auf die Uhr und beschloss, den Laden eine Stunde früher zu schließen. Im Laden war eh tote Hose, und sein Chef, der sich offiziell auf Geschäftsreise befand, würde es nie erfahren. Wenn die Katze nicht daheim ist , dann tanzen die Mäuse – wenn auch nicht in der Kasse, die schon seit Stunden keinen Klingelton mehr von sich gab. Datschke wollte gerade seine wenigen Tageseinnahmen überprüfen, als er vom schrillen Läuten des Festnetztelefons aufgeschreckt wurde.

„Ja guten Tag, hier spricht Evangelos Zorbas. Ich wollte gerne Herrn Christian Lockernagel sprechen. Ich habe dem Inhaber gestern eine E-Mail geschrieben, weil ich mich als Grieche für die kommunistischen Flüchtlinge in…“

„Sorry, aber der Chef ist nicht da. Reist durch die Gegend und kommt frühestens morgen abend wieder. Sie müssen schon mit mir vorlieb nehmen. Vielleicht kann ich Ihnen ja weiterhelfen.“

„Durchaus, zumindest, wenn Sie mich aussprechen lassen. Also, es geht um Fachliteratur über die griechischen Flüchtlinge, die sich nach 1945 gegenüber von Görlitz in der polnischen Grenzstadt Zgorzelec ansiedelten, weil sie im Bürgerkrieg vor dem faschistischen Regime von Papiandopoulos fliehen mussten. Sicher, in den großen Buchhandlungen findet man die üblichen Mainstream-Handbücher mit dem, was angeblich objektive Geschichtsschreibung ist. Doch was ich suche, sind die wahren Lebensläufe und Kampfansagen meiner revolutionären Landsleute, als deren Nachfahre ich mich bezeichnen kann.“ Während Zorbas seine Anfrage vom unverdächtigen Privathandy stellte, hatte er auf seinem Rechner im Polizeipräsidium die Homepage des Buchgeschäfts hochgeladen. Und wunderte sich, dass er zwar jede Menge blutrote Wappen und Fahnen erblickte, jedoch nur ein ziemlich dürftiges Verzeichnis von Fachbüchern, das er anklicken konnte – sofern die Software überhaupt schnell und zuverlässig funktionierte, versteht sich.

„Tut mir leid, Sie können gerne nochmal den Chef selbst fragen, aber ich fürchte, darüber haben wir nichts“, beteuerte Datschke.

„Sicher nicht?“

„Ich fürchte, nein. Das ist halt doch ein sehr spezielles und bislang nur ansatzweise erforschtes Thema. Trotzdem besten Dank für das Interesse an unserem Haus und an unserem Angebot.“

„Bitte sehr, gerne geschehen. Trotzdem ist es mehr als schade. Ich wünsche Ihnen dennoch einen schönen Feierabend.“

„Aber wenn ich doch….“. Wenige Sekunden später hörte es Datschke in der Leitung knacken. Sein Gesprächspartner hatte aufgelegt. „Ich hab dich trotzdem gern, Genosse“, murmelte Datschke grinsend vor sich hin. Er zählte das wenige (Wechsel)geld und wollte eben die Kasse abschließen, als ihm ein großer dunkelblonder Mann mittleren Alters mit einem kräftigen Schnauzbart auffiel. Auffällig war vor allem, dass er mit seinen graublauen Augen fixierte, was sonst niemanden zu interessieren schien.

„Verzeihung bitte, ich bin etwas verspätet dran. Ihr Chef ist nicht zufällig hier? Ich wollte ihn eigentlich heute treffen“, führte sich der geheimnisvolle Besucher ein.

„Das tut mir sehr leid, aber Herr Lockernagel ist auf Geschäftsreise“, leierte Datschke einmal mehr seine Entschuldigung herunter.

„Was für ein Jammer, dabei wollte ich mir zu gerne euer Angebot über die Literatur der chinesischen, koreanischen und vietnamesischen Revolution ansehen.“ Der Besucher verzog sein Gesicht zu einer enttäuschten Miene.

„Darüber haben wir im Moment leider nicht wirklich viel auf Lager. Das wollte der Chef wohl gerne auf seiner Geschäftsreise besorgen, wenn ich ihn richtig verstanden habe.“ Datschke blickte kurz zur Mao-Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Den vorgezogenen Feierabend konnte er nun wohl endgültig vergessen.

„Und wohin ist Lockernagel gefahren?“, erkundigte sich der Besucher.

„Nach Amsterdam, soweit ich weiß.“ Datschke zuckte mit den Achseln. „Was er da genauer will, hat er mir allerdings auch nicht verraten.“

„Schon gut, macht nichts. Aber ich sehe, mit den süddeutschen Brigaden seid ihr auch gut vernetzt?“

„Man tut, was man kann.“

„Und wenn ich diesen Stapel an Schriften durchblättere, fallen mir auch einige Fanale aus Heidelberg auf.“

„Aber hundertprozentig.“ Datschke formte seine Rechte zu einer imaginären Faust, als wolle er damit den anarchistischen Gehalt seiner Aussage besonders unterstreichen. Mochte er auch privat von den roten Socken am Neckar denken, was er wollte, Hauptsache, es war gut für’s Geschäft.

„Prima, hervorragend. Gute Kontakte nach Heidelberg können wir immer gebrauchen. Wir wollen doch mal sehen, ob wir mit unseren Kompressoren den stickigen Mief unter den Talaren von Deutschlands ältester Universität nicht mit einem kräftigen Sturm hinwegblasen können. Bitte grüßen Sie ihren Chef und sagen Sie ihm, ich komme bald wieder. Er wird sich erinnern, dass nur ein treuer Kämpfer und Stammkunde heute um diese Zeit bei ihm vorbeischauen wollte.“

Bevor Datschke die Situation richtig realisieren konnte, hatte der Schnauzbärtige bereits seine Che- Guevara-Mütze zum Gruß gezogen und sich Richtung Ausgang verabschiedet. Wobei er auch noch einen prüfenden Blick in den gegenüberliegenden Hinterhof warf. „Komischer Falke“, knurrte Datschke. Wobei er eigentlich viel mehr an den sprichwörtlichen Kauz dachte. Doch da er in seinem Gegenüber trotz aller Rätsel einen aufrichtigen Genossen sah, wollte er ihn doch eher mit dem Wappentier der linken Jugendbewegung in Verbindung bringen. Zumal er mit der untergegangenen DDR sympathisierte, in der sich einst Sozialisten und Kommunisten die Hand gereicht hatten, um die Gründung der SED zu besiegeln.

Während Datschke weiter über den rätselhaften Besucher grübelte und sich nun wirklich auf den wohlverdienten Feierabend vorzubereiten versuchte, machte sich auch Zorbas seine letzten Notizen über einen anstrengenden Arbeitstag und war eben dabei, seinen Computer herunterzufahren, als plötzlich Hauptkommissar Pokroff in sein Zimmer kam- ohne vorher anzuklopfen, wie so oft.

„Na, Evangelos, immer noch fleißig?“

„Klar, unsereins ist eben immer im Dienst.“

„Gut so.“ Pokroff klopfte seinem jungen Kollegen anerkennend auf die Schultern. „Ich hab gerade nochmal versucht, der Spurensicherung und Gerichtsmedizin ordentlich Dampf zu machen. Aber wir werden wohl bis morgen warten müssen, bis wir alle Ergebnisse beisammenhaben. Man, wenn ich bedenke, dass ich wirklich alles tue, was in meiner Macht steht, um diesen lahmen Laden auf Vordermann zu bringen, und gleichzeitig noch den Polizeipräsidenten und das Bundeskriminalamt im Nacken habe. Doch egal, wie schaut’s aus, was hast du kurz vor Dienstschluss noch herausgefunden?“

„Hm, eigentlich nichts Besonderes. Außer, dass Christiane Recht hatte. In dem alten Kleidergeschäft von Henriette Winkler und ihrer Freundin befindet sich jetzt tatsächlich so ein komischer pseudorevolutionärer Buchladen. Christiane hatte mich gebeten, das zu überprüfen. Und ich als kampferprobter hellenischer Frontsoldat habe natürlich vorgegeben, ich würde Literatur über die kommunistischen Exilgriechen in der ehemaligen DDR suchen. Also, wie gesagt, das Geschäft firmiert unter dem Namen ,Vorwärts‘. Ob das für unsere Ermittlungen wirklich etwas bringt, vermag ich allerdings noch nicht recht einzuschätzen.“

„Ich auch nicht.“ Pokroff räusperte sich, dann zwinkerte er seinem Kollegen wohlwollend zu. „Trotzdem, vielen Dank. Und nun geh nach Hause.“

„Eye, Sir. Das lass ich mir nicht zwei Mal sagen.“ Und schon hatte der Grieche seine Tasche gepackt. „Dienst ist Dienst, und Ouzo ist Ouzo“, murmelte er vor sich hin. Ein Kind seiner Zeit, das es verstand, sich abgedroschene deutsche Phrasen mit den Spezialitäten seiner Heimat zu versüßen.

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Lange hatte sich Christiane von Erbenstein auf ihren freien Abend gefreut, den sie mit ihrem Gemahl im Restaurant der Schlossresidenz auf dem Mühlberg verbrachte. Nichts sollte sie in ihrer Idylle stören – auch nicht Pokroffs und Zorbas jüngste Nachricht, dass der junge Mann vom Gründonnerstag dank seines griechischen Fußes als Nadine Engelthals Sohn Marcel enttarnt war. Doch was Christiane an diesem Abend von ihrem Gemahl erfahren würde, das konnte sie noch nicht ahnen, als sich die beiden im festlich gedeckten Speisesaal der Residenz niederließen.

Die Kommissarin staunte immer wieder, wie nobel und stilvoll sich das hauseigene Restaurant gab, ohne dabei im Geringsten aufdringlich oder gar protzig zu wirken. So war der Raum in gedeckten Cremetönen gehalten, die sich mit dem frisch abgeschliffenen Parkett und den schneeweißen Tischdecken zu einem harmonischen Gesamteindruck ergänzten. Dazu ein dunkles Piano, das Christiane an ihren Mädchennamen Bechstein erinnerte und nur darauf wartete, mit beschwingten Melodien bespielt zu werden. Eigentlich konnte dem Glück nichts mehr entgegenstehen.

Christiane und Georg von Erbenstein gönnten sich ein reichhaltiges aber doch leichtes Viergängemenü: Feines Spargelcremesüppchen als Vorspeise, gefolgt von Tagliatelle mit Waldpilzsoße und einer Taunusforelle Müllerin Art mit Butterkartoffeln. Zum Dessert gab es schließlich Obstsalat mit Vanillesoße. Das Menü wurde begleitet von leicht beschwingter Barmusik auf einem Bechstein-Flügel, der bei Christiane einen ihrer seltenen Anflüge von Sehnsucht nach ihrem alten Namen aufkommen ließ. Der Graf war derweil um das leibliche Wohl mehr als besorgt.

„Nun, meine Liebe, wie hat es gemundet?“

„Danke, es war ausgezeichnet. Sogar die Kartoffeln schmeckten so zart und knusprig, dass man merkte, dass sie der Koch fachgerecht in Butter geschwenkt hatte.“

Der Graf schmunzelte gönnerhaft. „Das möchte ich auch meinen. Ich habe das Personal schließlich entsprechend angewiesen, nachdem die Qualität beim letzten Mal nicht deiner vollen Zufriedenheit entsprochen hatte.“

„Nicht doch, nicht doch.“

„Sag mal, wie kommt ihr mit den Ermittlungen in eurem Mordanschlag voran?“, erkundigte sich Georg von Erbenstein.

„Oh, frag nicht, bislang eher mäßig. Dafür ist der Zirkus mit den Einsatzvorbereitungen für Occupy Frankfurt umso heftiger. Du bist mir deshalb sicher nicht böse, dass ich für deine liebenswürdige Einladung in die Manege zumindest in dieser Woche nicht die richtige Zeit und nicht den richtigen Raum finde.“

„Aber sicher doch, meine Liebe. Das hat ja Zeit bis später.“ Georg von Erbenstein gab sich galant wie ein Gentleman der alten Schule. Und der Barpianist kam ihm dabei mit seinem sanften Klimpern und Trällern des „Girl from Ipanema“ mehr als gelegen.

Olha que coisa mais linda mais cheia de graça
Ela, menina, que vem e que passa
Num doce balano a caminho do mar.

„Christiane, wollen wir noch etwas auf meinem Zimmer trinken. Du musst wissen, da ist noch etwas, das ich dir schon seit längerer Zeit einmal sagen wollte.“

„Oh, du machst es aber spannend. Ich bin schließlich nicht auf irgendein Geständnis von dir aus, musst du wissen.“ Christiane von Erbenstein lächelte sanft.

In Georgs Zimmer wartete bereits die Pudeldame von Nadine Engelthal sehnsüchtig auf das Paar. Der Graf hatte ihr generös ein beigegraues Hundesofa spendiert, das sich stilvoll auf dem rotbraunen Perserteppich vor dem Hintergrund der edlen Kirschholz-Möbel abhob. Christiane suchte immer noch nach einem passenden Namen, der die liebenswerten Launen des Hundes passend beschreiben würde. Einstweilen sorgte die Hundedame für eine Überraschung, als sie ihr neues Frauchen erst einmal stehen ließ und an dem Grafen hochsprang.

„Das muss dein neues Rasierwasser sein. Sie scheint auf sehr frische und kühle Düfte zu stehen“, meinte Christiane und atmete erst einmal tief durch.

Georg grinste. „In der Tat, das ist die Parfümnote Alaska.“

Erst als Christiane ein Leckerli aus ihrer Brusttasche gekramt hatte, konnte sie die Aufmerksamkeit der Hündin wieder für sich gewinnen. Das Ehepaar ließ sich, inspiriert von der Klaviermusik, noch eine Pinha Colada vom Zimmerservice in die Suite mit Blick in den Schlosspark bringen. Langsam senkte sich Abendsonne und streichelte das Goethetempelchen mit ihren letzten sanften Strahlen. Georg von Erbenstein nutzte die sanfte Abendstimmung, um zu seiner schwierigen Mission überzuleiten.“

„Weißt du, Christiane, da ist etwas, wovon ich dir noch nie erzählt habe. Etwas, das mit meinem früheren Leben zu tun hat.“

„Also komm, Georg, du bist wirklich nicht der Typ, der irgendwelche Leichen im Keller hat.“

„Das sicher nicht. Aber vielleicht gibt es da einen Menschen, für dessen Tod ich mich bis heute in irgendeiner Weise verantwortlich fühle. Und dafür muss man keinen Mord begehen.“

„Was, ..ich meine, wie meinst du das?“ Christiane schaute ihren Gatten irritiert und besorgt zugleich an.

„Nun, es ist, ehrlich gesagt, kein Zufall, dass ich vor einiger Zeit eine gewisse Neigung für den Zirkus wiederentdeckt habe. Du weißt, dass ich früher viele Jahre lang der Geschäftsführer dieses Hauses war, als es noch das Mühlbergkrankenhaus war. Und du weißt auch, dass ich ursprünglich einmal Medizin studiert habe und hier mein praktisches Jahr als Assistenzarzt abgeleistet habe.“

„Ja und weiter.“

„Das war etwa Mitte der Sechziger Jahre, als in Frankfurt der Zirkus Roncalli gastierte. Ich war eher zufällig dort, weil mich meine Schwester eingeladen hatte. Sie hatte einfach noch eine Karte übrig. Doch dann passierte es einfach.“

„Dann passierte was?“ Irgendwie konnte es die Kommissarin nicht vertragen, wenn es ihre Angehörigen nach einem anstrengenden Ermittlungstag auch noch am Feierabend zu spannend machten.

„Ich verliebte mich in eine Artistin. Sie hieß Imelda und kam von den Philippinen. Zuerst bewunderte ich nur ihre grazile Gestalt, wenn sie in der Manege ihre Kunststücke vorführte. Doch dann ging ich noch ein zweites und drittes Mal auch alleine in den Zirkus, um sie selbst zu bewundern und hinterher anzusprechen. Und so geschah es. Wir trafen uns, kamen uns näher und wurden ein Paar.“

Christiane kicherte. „Aha, mein lieber junger Georg auf Freiersfüßen. Aber daran ist doch nichts Schlimmes.“

Doch dem Grafen war absolut nicht nach Humor zumute. „Eines Tages wurde sie nach einem Sturz bei uns im Krankenhaus mit einer schweren Infektion eingeliefert. Sie hatte sich verletzt und die Wunde hatte sich gefährlich entzündet. Es drohte eine Blutvergiftung. Ich hätte sie behandeln können. Mit den richtigen Medikamenten. Aber die waren nicht da. Sie waren einfach nicht da…“

„Aber jedes Krankenhaus muss doch über ausreichend Antibiotika verfügen. Ich verstehe das einfach nicht.“

„Damals Ende der sechziger Jahre kamen die ersten Krankenschwestern aus Südkorea nach Frankfurt. Wir bekamen eine Stationsschwester, der ich von Anfang an nicht traute. Weil immer wieder Medikamente in unserem Schrank fehlten. Doch ihr war einfach nichts nachzuweisen. Auch als Imelda in jener Nacht eingeliefert wurde, waren die wichtigen Antibiotika verschwunden. Die Schwester war nach Feierabend nicht mehr zu erreichen, Ersatz so schnell nicht zu beschaffen, da es sich um spezielle Medikamente handelte, die es in der Notapotheke in der Stadt nicht vorrätig gab. Imelda musste sterben. Und die Schwester war noch in derselben Nacht verschwunden. Angeblich musste sie wegen dringender familiärer Angelegenheiten nach Korea fliegen. Sie kam nie wieder zurück.“ Georgs Hand ballte sich zu einer Faust. „Verdammt noch mal, ich konnte sie nicht einmal zur Rede stellen.“

„Aber wenn diese Schwester irgendwelche Medikamente veruntreut hat, dann ist es bestimmt nicht deine Schuld“, versuchte ihn Christiane zu trösten.

„Ist es doch. Ich hätte die Sache vorhersehen und selbst für Ersatz sorgen können. Ich hatte schließlich die Verantwortung. Wenig später sind übrigens noch andere Krankenschwestern und Medizinstudenten verschwunden. Sie wurden verschleppt, gekidnappt. Möglicherweise stecken süd- oder sogar nordkoreanische Geheimdienstleute dahinter. Möglicherweise wurden die Präparate gestohlen, weil es in der so genannten Volksrepublik schon damals mit der Versorgung in den Krankenhäusern mangelte. Die Polizei konnte damals wenn überhaupt nur sehr wenige Fälle und auch die nur sehr unbefriedigend aufklären. Und die Klinikleitung war zudem nicht an öffentlichem Aufsehen interessiert. Ich konnte und wollte aber unter diesen Umständen nicht mehr weiterpraktizieren. Da ich noch ein Wirtschaftstudium absolviert hatte, sattelte ich um und wechselte in die Geschäftsführung.“

Christiane sah ihren Ehemann mit großen Augen und einfühlendem Blick an. Und auch die Pudeldame erwies sich als äußerst mitfühlend, sie sprang sogar auf Georgs Schoß und ließ sich am Köpfchen streicheln.

Christiane hatte also richtig in ihrer Intuition gelegen, dass Georg mit der Residenz im Mühlbergschloss, das als früheres Mühlbergkrankenhaus zugleich sein Arbeitsplatz war, auch eine unangenehme Erinnerung verband. Das war also der Grund, weshalb er auf ihre erste Anfrage, ob sich dort nicht eine attraktive Seniorenwohnung erwerben lasse, erst einmal zögerlich reagiert und erwidert hatte, man müsste auch die Angebote anderer Residenzen prüfen. Erst nach und nach waren auch wieder die positiven Erinnerungen in ihm zurückgekehrt, all jene ruhigen Momente, die der Graf auf dem abseits gelegenen Mühlberg genossen und „sein“ Krankenhaus, in dem er immerhin Geschäftsführer war, mit der Schwarzwaldklinik verglichen hatte. Klar, als leitender Chef hatte er sicher auch so manches Mal zu kämpfen und das Krankenhaus verteidigen müssen, das dann doch aus wirtschaftlichen Gründen in seiner bisherigen Funktion und Gestalt nicht mehr zu halten war. Und der Faktor Ruhe hatte sich seit dem Ausbau der Landebahn auf dem Flughafen auch etwas relativiert. Aber dass auf Georg so ein schwerwiegendes persönliches Erlebnis, ja sogar ein menschliches Schicksal lastete, das hätte sie dann doch nicht gedacht. Vorerst blieb ihr nichts weiter, als ihm liebevoll durch das Haar zu streicheln.

„Mein armer Schatz. Und das hast du all die Jahre mit dir herumgetragen? Aber du darfst dir da keine Vorwürfe mehr machen. Wie konntest du schließlich ahnen, dass dich diese Krankenschwester so raffiniert hintergangen hatte?“ Christiane nahm ihren Mann tröstend in die Arme. „Aber warum sagst du, gerade in den letzten Jahren kommt die Erinnerung wieder hoch?“

„Nun, du erinnerst dich doch noch an den September 2008, als der Staatszirkus von Pjöngjang hier gastierte. Auch dort trat eine Akrobatin auf, die mich sehr an Imelda erinnerte. Und einen Tag nach der Premiere hat man sie mit durchschnittener Kehle nahe der Hohenstaufenstraße gefunden.“

„Und ob ich mich daran erinnere. Ein grauenhaftes Ereignis. Damals hat sogar das BKA ermittelt. Die Tat ist wahrscheinlich im Rotlichtmilieu anzusiedeln, weil man die Frau in eines der Bordelle im Bahnhofsviertel verschleppen wollte. Der Mörder ist jedoch bis heute nicht gefasst worden.“

„Liebe Christiane, die Vorfälle in den 60er Jahren und dieser schlimme Mord 2008 lehren uns, vorsichtig und wachsam zu sein. Ich habe mich neulich erkundigt, in Frankfurt sind etwa 150 Nordkoreaner amtlich gemeldet. Das ist sehr viel für ein stalinistisches Land, aus dem nur in wenigen Ausnahmefällen jemand legal ausreisen darf. Und niemand weiß, wie es weitergeht, jetzt, da Kim Jong Un als der große Nachfolger die Macht übernommen hat. Wie war das nochmal mit deinem jüngsten Fall? Ist da nicht auch ein junges Mädchen aus einem dieser asiatischen Länder verwickelt?“

„Ja, aber das ist nur eine japanische Studentin, von der wir sogar den Namen haben. Sie heißt Yoko Omura. Sie ist zwar flüchtig, aber wahrscheinlich ist sie nur in Panik von dieser Vinothek weggerannt, in der sie gejobbt hat. Je länger Waldemar und ich uns den Kopf über diesen komischen Fall zerbrechen, desto mehr kommen wir zu der Auffassung, dass ihr im Prinzip jedes Motiv für einen Mordanschlag fehlte. Zumal sich überhaupt kein Zusammenhang herstellen lässt, woher Yoko und Nadine Engelthal sich näher gekannt haben können.“

„Ja, da hast du im Prinzip schon Recht.“ Georg von Erbenstein runzelte nachdenklich die Stirn. „Aber komisch ist die Sache doch schon, findest du nicht?“

„Ja, wer weiß, vielleicht schon. Wir müssen das Mädchen natürlich weiter im Auge behalten. Ich werde auch in der nächsten Besprechung im Präsidium nochmal auf deine Geschichte zurückkommen und von den verschwundenen koreanischen Krankenschwestern in den 60er Jahren berichten. Das war natürlich lange vor unserer Zeit und wir müssen uns die nötigen Kriminalakten dazu erst beschaffen.“

„Ja, aber sei bitte so gut und lasse meine persönliche Geschichte mit Imelda und er Stationsschwester dabei raus. Ich habe ja damals schon in Frankfurt gelebt und kann die Information auch von einem Kollegen und den damaligen Zeitungsberichten haben.“

Christiane versprach es ihm. „Wenn sich das irgendwie vermeiden lässt, werde ich dich nicht erwähnen. Und jetzt versuche dich einfach ein wenig zu beruhigen und entspannen.“

Christiane und Georg von Erbenstein kuschelten sich noch enger aneinander. Es würde sicher ein sehr langer und intensiver Abend werden.

********************

Evangelos Zorbas hatte sich extra in Schale geworfen und seine dunkelblaue Clubjacke mit den vergoldeten Messeknöpfen angezogen. Damit nicht genug, an seinem linken Handgelenk prangte freilich eine ebenso goldene Rolex – letztere hatte er sich freilich von Pokroff geliehen, denn als junger Kommissar hätte es ihm sein Gehalt nicht erlaubt, eine auch nur annähernd so teure und edle Armbanduhr zu kaufen . Nun kam er am Westhafentower vorbei, den viele seiner Freunde in Mainmetropole nur noch unter dem Namen „Geripptes“ kannten. Geradeso, als seien Rippchen und Ebbelwei das Maß aller Dinge.

Umso mehr staunte Zorbas nun, als er im klaren Nachthimmel das goldene Emblem des Cider Riders an der Glasfassade der oberen Etagen leuchten sah. Von der Farbe her entsprach es etwa der Nachtbeleuchtung des Commerzbankturms. Vielleicht einen Tick goldgelber, wenn auch nicht ganz so goldig wie die Rolex an seimen Arm, dachte Zorbas und schmunzelte. Witzig war jedoch die Gestalt des Reiters: Entfernt erinnerte sie an den Carolusreiter, den die Sachsenhäuser Brunnen- und Kerbegesellschaft einst am Wendelsplatz aufgestellt hatte: Eigentlich sollte dort ein Brunnen sprudeln, doch weil die Anlage immerzu defekt und die Kassen der Gesellschaft ebenso leer wie das Brunnenbecken waren, hatte die Stadt ihn irgendwann zu einem kaiserlichen Blumenkübel umfunktioniert – schließlich stellte die Figur keinen Geringeren als Karl den Großen dar. An diesen Regenten erinnerte nun der goldene Cider Rider mit der dreigezackten Krone. Nur mit dem feinen Unterschied, dass das Profil sehr expressionistisch ausgefallen war, ähnlich wie man es von den gekrönten Häuptern der niederländischen und luxemburgischen Euromünzen kannte. Ein Zugeständnis an die moderne und internationale Metropole, zweifellos.

Zorbas betrat die Eingangstür, wo ihn der Kellner schon erwartete. „Der Skyline Projects-Stammtisch beginnt aber erst in einer guten halben Stunde“, nahm er ihn in Empfang. „Vor viertel nach acht kommt da kaum jemand. Aber vielleicht nehmen Sie schon einen Schoppen? Oder darf es eine Pinte sein? Unser südafrikanischer Cider ist besonders zu empfehlen.“

„Oh, als Grieche habe ich’s eher mit den Spaniern. Die haben einen ähnlich temperamentvollen Charakter und Akzent in ihrer Sprache. Ihr habt nicht zufällig einen Sidra?“

„Oh doch, ein delikater Apfelwein aus Asturien, den kann ich empfehlen. Ein preisgekröntes Stöffche auf dem Festival in der Innenstadt.“

Zorbas beobachtete den Kellner, der doch eher an einen Bartender erinnerte, beim Zapfen. Die Zapfanlage erinnerte eher an ein englisches Pub, allerdings mit dem Unterschied, dass der messingbeschlagene Zapfhahn nicht von Hand heruntergedrückt, sondern mit dem Touchscreen eines Computers gesteuert wurde. Worauf der Strahl Sidra peinlich genau bis zum Maßstrich der Pinte floss und dann aprupt stoppte.

Zorbas grinste. „Sehr ordentlich und korrekt. Das lobe ich mir. Die Anlage muss euch emsigen Kellnern viel Arbeit abnehmen, der schmiedeeiserne Faulenzer sieht dagegen richtig alt aus.“ Womit er freilich das Drehgestell für die Riesenbembel in den Apfelweinlokalen meinte.

Der Kellner lächelte verlegen. Hatte er das Wortspiel verstanden? „Zum Faulenzen haben wir eh keine Zeit, sind wir doch immer bemüht, die Wünsche unserer Gäste zu erfüllen. Aber haben Sie gewusst, dass die oberschlauen und visionären Bierbrauer in Belgien bereits von natürlichen Bieraromen träumen, die von künstlicher Intelligenz ausgetüftelt und gesteuert werden? “

Zorbas schüttelte den Kopf.

Genau in diesem Moment kam die Chefin des Hauses durch die Hintertür und reichte dem jungen Kommissar herzlich die Hand.

„Hallo und guten Abend, ich grüße Sie. Sie sind Evangelos, nehme ich an. Ich darf Sie zu unserem Stammtisch willkommen heißen.“

„Sehr erfreut. Und Sie sind also Frau Fassbender?“

„Sagen Sie ruhig Freddy zu mir, das tun hier alle. Ich sehe, Sie haben schon einen Begrüßungsschluck genommen?

„Oh ja, ich war so durstig. Ich habe mir sagen lassen, Freddy kommt von Friederike?“

„So ist es. Wissen Sie, mein Vater, der Friedel Fassbender, war einer der letzten Küfermeister im Sachsenhäuser Ebbelweiviertel. So klein und wendig wie er war, konnte er regelrecht in die von meinem Großvater gebauten Fässer hineinkriechen, um sie zu reinigen. Ja, so war das damals dribbdebach. Doch die Zeiten haben sich geändert. Kaum noch einer keltert selbst, und das Stöffche kommt immer mehr aus modernen Tanks. Na, und da dachte ich….“

„Da dachten Sie, warum nicht gleich mit der Zeit gehen.“ Zorbas schaute sich prüfend um, blickte auf das funkelnde Leuchtbild mit einem Gerippten, das über der Bar hing. Und an die zünftigen Bilder an den Wänden, die ihm bekannt, aber doch merkwürdig verfremdet vorkamen. „Mein antrainiertes Kunstverständnis sagt mir, dass es sich hier um farbenfrohe Gouachen als neue Interpretationen eines traditionellen Malers handeln muss. Ich tippe auf Lino Salini.“

„Man kann ja durchaus Tradition und Moderne miteinander verbinden. Aber auch das sogenannte Frankfurter Nationalgetränk braucht ein zeitgemäßes Outfit, um im 21. Jahrhundert zu bestehen. Aber eine Tradition pflege ich weiterhin: Wie in den geselligen Sachsenhäuser Kneipen können wir uns gerne duzen.“

„Von mir aus spricht nichts dagegen.“ Evangelos nahm Freddy nochmal genauer unter die Lupe. Die mittelblonde Frau mit den hellen Strähnchen und dem körperbetonten Oberkleid hatte zwar durchaus etwas Attraktives, durfte aber mindestens drei bis fünf Jahre älter sein als er. „Wann beginnt denn nun unsere gesellige Runde?“

„Komm mal mit rüber, ich glaube, die ersten sind schon da.“ Freddy nahm den Kommissar beim Arm und führte ihn zum Tisch schräg gegenüber. „Darf ich bekannt machen?“ Das ist Evangelos, Karl und Franco sind sozusagen die Leiter unserer Gruppe.“

Bald darauf schüttelte er an sie sieben weitere Hände, darunter auch die von Bella Modenbach, ihren Freundinnen Elvira Breithaupt und Susanne Heilkötter, die dem Namen nach zweifellos aus dem Münsterland kommen musste. Dann kam Emil Zander, der Freund von Karl Kühn.

„Ah, unser Grieche, wie schön, dass es geklappt hat“, empfing ihn Zander. „Darf ich bekannt machen: Evangelos Zorbas und Karl Kühn.“

Als letzter gab ihm schließlich ein Event Manager mit Namen Kim Schmidt die Hand. „Sehr erfreut, ich organisiere Karaokeabende mit K-Pop-Songs aus Korea.“

„Prima, ich bin Evangelos und sammle fotorealistische Bilder. Ich habe gehört, Lisa Naumann kommt heute abend auch. Die ist doch als Journalistin von Art of Frankfurt die Expertin in der Kunstszene. Und jetzt, nach dem Vorfall mit Nadine Engelthal…“

„Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen. Lisa hat gestern bereits einige O-Töne auf unseren Internetforen eingesammelt. Die Interviews mussten gestern ja noch fertig werden, um aktuell zu sein. Zumal sie heute schon wieder einen Termin hat“, erklärte Franco Marinelli sehr zur Enttäuschung von Zorbas. Nach einigen Plaudereien zum Warmwerden eröffnete der Organisator Karl Kühn die Runde.

„Guten Abend, liebe Freunde. Schön, dass ihr alle zu unserem heutigen Treffen gekommen seid. Obwohl ein sehr tragischer Vorfall unsere Frankfurter Kunstszene erschüttert hat. Die Kunstdesignerin Nadine Engelthal ist gestern unten an unserem Strandcafé zusammengebrochen. Einige von euch werden schon davon gehört haben, nehme ich an?“

„Wie bitte, nein, das glaube ich nicht!“, rief Susanne Heilkötter entgeistert in die Runde. Allen Teilnehmern stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Zorbas beobachtete genau die Reaktionen. Selbst Bella Modenbach rang sich zu einem betroffenen „Ach herrje!“ durch.

„Deine Anteilnahme ist zwar schön, aber nicht aufrichtig!“ Schmidt warf Modenbach einen misstrauischen Blick zu. „Dass ihr euch nicht gerade gut verstanden habt, ist nun mal stadtbekannt.“

„Was willst du damit sagen? Ich meine….“

„Entschuldigung, auch ich kannte Nadine, und ich finde, wir sollten diesen Argwohn beiseitelassen. Wie gesagt, mein Name ist Evangelos Zorbas, ich sammle fotorealistische Malereien. Bella, sind wir uns nicht heute Vormittag im Mandala Studio für indischen Schmuck begegnet, als ich nach einem Ring für meine Freundin suchte?“

„Nein, ausgeschlossen, ich hatte einen Termin bei meinem Anwalt in der Goethestraße. Was guckt ihr mich so an? Ich habe Nadine trotz allem als Kollegin und als Mensch geachtet. Aber ich musste nun mal ein paar Dinge regeln, ich meine, das mit dem silber-azurfarbenem Schmuck, das war doch offensichtlich, oder?“

Zorbas wagte einen Vorstoß. „Sie meinen, dass….“

„Ja, genau dass meine ich. Die Ähnlichkeit ist nun mal nicht zu übersehen. Ob in der Wissenschaft oder in der Kunst, überall wird wieder abgekupfert.“

„Nicht doch, nicht doch“, versuchte Kühn zu besänftigen. „Wir wollen über Nadine jetzt keine schlechten Dinge reden. Wie gesagt, Herr Zorbas ist neu in der Runde, und er möchte unsere liebe Elvira gerne näher kennenlernen. Ihr wisst noch, ihr Bild ,Il Nuovo Duomo‘. Da hat sie doch in einem futuristischen Bild den geplanten Campanile am Hauptbahhof mit diesen andächtig schauenden und betenden gemalt, echter und realistischer, als es jede Simulation hätte darstellen können.“

„Karl, jetzt übertreibst du aber, auch wenn ich mir bei unserer Kathedrale des Verkehrs natürlich besonders viel Mühe gegeben habe. Für welche fotorealistischen Künstler interessieren Sie sich, Herr Zorbas?“

„Nun, meine Lieblingsmalerin stammt aus meiner griechischen Heimat und ist noch nicht besonders berühmt. Sofia Koutoumanis hält in ihren Bildern dramatische Szenen der Wirtschaftskrise fest. Vor allem die vielen Demonstranten, die mit lauten Protestrufen vor das Parlament in Athen ziehen.“ Innerlich atmete der Grieche auf, dass ihm diese rettende Idee gekommen war. Sofia war eine alte Schulfreundin, die seit vier Jahren in der Hauptstadt lebte und leidenschaftlich gerne fotografierte. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass sie auch einige der dramatischen Szenen seiner aufgebrachten Landsleute gebannt hatte.

„Na, das ist doch mal eine Ansage. Jedenfalls realistischer als dieser komische Steinadler, den der koreanische Freund von Kim in seinem Bilderbuch über die Kontinente fliegen lässt. Zeig doch mal, Kim!“, rief Susanne Heilkötter dazwischen.

„Na, bestimmt nicht, das will ich überhört haben“, entgegnete Kim Schmidt gereizt. „Du kennst genau den Grund. Aber wo wir es gerade von den Tieren haben. Karl, eine Freundin von mir in Frankfurt braucht Werbung und Kontakte. Sie malt auf Bestellung fotorealistische Porträts von Hunden und Katzen und möchte ein Atelier in der Innenstadt oder in Sachsenhausen eröffnen. Weißt du da was?

„Sicher doch. Ich maile dir morgen die Adresse von einem Galeristen in der Schulstraße zu, der in die Fahrgasse zieht und einen Nachmieter sucht. Der ist übrigens ein begeisterter Struwwelpeter-Fan und sucht für seinen kleinen Sohn nach kreativen Bilderbüchern. Der kauft dir bestimmt ein Buch von deinem Freund ab, auch wenn der Adler nicht so ganz getroffen ist, na ja. Aber sehen Sie, Herr Zorbas, genauso und nicht anders funktioniert Networking.“ Kühns Augen leuchteten. „Wenn Sie sich so effizient mir Ihren Kollegen vernetzen, hat die Unterwelt bald keine Chance mehr!“

Nach einer guten halben Stunde klopfte Kim Schmidt dem jungen Kommissar auf die Schulter. „Gehen wir mal für einen Moment raus?“

„Wieso?“

„Mir ist ein bisschen warm hier. Außerdem will ich gerne mal eine rauchen.“

Evangelos schmunzelte. „Na gut, wen’s den Atemwegen hilft.“

Am Ende freuten sich beide über die extra Portion Sauerstoff, die der laue aber angenehm frische Frühsommerabend für sie bereithielt. Einige Minuten später, nachdem Kim seine Zigarette in ruhigen und tiefen Zügen zu Ende geraucht hatte, blickte er Evangelos ernst und besorgt an.

„Sagen wir Du, okay? Ich bin der Kim. Deutscher Vater und koreanische Mutter, die mir den häufigsten Namen Koreas als Vornamen gab. Hier schau mal. Ist doch eine Schweinerei, mit dem Bilderbuch oder? Es stammt aus Peking von einem Freund, der aus Nordkorea geflohen ist. In Pjöngjang gibt es weder einen Steinadler im Zoo noch anständige Tierbücher. Also musste er etwas improvisieren.“

„Ist irgendwas? Ich sehe dir doch an, dass dich außer deinem koreanischen Freund in Peking noch was bedrückt“.

„Du bist Polizist, nicht wahr?“

„Na ja, sagen wir mal, ein kunstinteressierter Polizist in privater Mission. Wieso?“

„Ich weiß nicht, wie soll ich sagen, ich meine, ich mache mir Sorgen um einen weiteren koreanischen Freund hier aus Frankfurt, der heute Abend eigentlich hier sein sollte.“

„Von welchem Freund sprichst du?“

„Von Park Il Sung aus Seoul. Ich konnte ihn heute nicht erreichen. Er geht nicht an sein Handy, eigentlich schon seit zwei Tagen nicht.“

„Aber das muss ja nichts bedeuten. Vielleicht ist er einfach mal weggefahren, wollte seine Ruhe haben und hat sein Handy ausgeschaltet.“ Evangelos kicherte. „Ein kluger Mann , ich sollte mir ein Beispiel an ihm nehmen.“

„Du, ich fürchte, die Sache ist ernst. Zumal Sung und ich ein Hobby haben, das nicht ganz ungefährlich ist.“

„Und das wäre?“

„Zusammen mit drei weiteren Freunden unterstützen wir unsere Landsleute in Nordkorea. Du weißt vielleicht, dass dort viele Menschen noch immer unter Hunger oder zumindest Unterernährung leiden, während das Regime immer weiter aufrüstet. Das ist leider auch unter dem neuen Diktator Kim Jong Bumm nicht besser geworden, auch wenn der sich mit seiner Schwäche für Micky Maus und westliche Bands gerne etwas weltoffener gibt.“

„Ja, davon habe ich schon gehört. Evangelos dachte einen Moment lang nach. Wie sieht eure Hilfe konkret aus?“

„Also pass auf, zusammen mit Geschäftsleuten und Mitgliedern südkoreanischer Gemeinden sammeln wir Spenden und Lebensmittel. Natürlich müssen wir aufpassen. Viele unserer Leute sind echt hilfsbereit und zuverlässig, egal ob sie nun von christlichen oder buddhistischen Gemeinden kommen. Aber wir wissen nie, ob und wo der NIS gerade mithört.“

„Der NIS?“ Evangelos ging sein Abkürzungsverzeichnis in der Festplatte seines Hirns durch, jedoch ohne greifbares Ergebnis, wie sein Gegenüber feststellen musste.

„Ich meine den National Intelligence Service, den südkoreanischen Nachrichtendienst. Sehr schwierig sind zudem diese neuen spirituellen Charismatiker einzuschätzen, die sich gerne auf irgendwelche falschen Propheten aus Ostasien berufen. Woher genau die kommen und was sie predigen, weiß niemand so ganz genau. Aber es wird gemunkelt, dass manche von ihnen nur eine göttliche Fassade wahren und in Wirklichkeit mit den autoritären kommunistischen Machthabern sympathisieren.“

Evangelos stutzte. „Spirituelle Charismatiker? Geht das auch etwas konkreter?“

„Na ja, sagen wir mal Richtung UEK. Genauer kann ich es nicht benennen.“

„Du meinst, die Universelle Einheitskirche? Vor drei Jahren haben wir zwei bedeutende Hintermänner festgenommen, die in illegale Geschäfte verwickelt waren. Darauf musste sich die Gemeinschaft auflösen und ist nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten.“

„Was nicht ausschließt, dass sie im Untergrund oder auch als kommerzielle gut getarnte Briefkastenfirma weiterexistiert, die sich von keinem in die Suppe spucken lässt. Außerdem konnten die einige Leute der deutsch-deutschen Friedens- und Einheitsbewegung der Wendezeit gewinnen. Zusammen mit denen treten sie wohl auch unter dem Namen World Unity Mission auf. “

„Oh, ich glaube, ein paar von denen sind meinem Chef neulich begegnet. In der Tat, da muss man sehr vorsichtig sein. Aber wir brauchen konkrete Indizien. Und du glaubst wiederum, dass die hier in Frankfurt ihre Aufpasser haben, die deinen Freund am liebsten mundtot machen würden?“

„Schon möglich. Du musst wissen, wir belassen es mit unserer Hilfe nicht bei den Lebensmitteln. Wir betreiben auch Aufklärungsarbeit. Wir unterstützen die Südkoreaner, die an der Grenze Flugblätter abwerfen. Oder wir schicken an zuverlässige Kontaktleute Mails und berichten ihnen, was die Medien in Europa über die Situation in Korea verbreiten. Oft hört man selbst hier noch Informationen, die den Landsleuten im Norden vorenthalten werden. Aber mittlerweile müssen wir befürchten, dass Pjöngjang seine Spione direkt nach Deutschland geschickt hat. Besonders an der Mainmetropole mit ihren weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen und dem Protest der Occupy-Bewegung dürften die sehr interessiert sein.“

Evangelos überlegte eine Weile. „Okay, wir machen folgendes: Ich verständige meine Kollegen privat, noch heute Abend. Wo wohnt dein Freund?“

„In Zeilsheim.“

„Wenigstens im freien Westen von Frankfurt.“ Evangelos grinste und stieß seinen neuen Freund mit dem Ellenbogen an.

„Sehr komisch. Nur dass ich leider nicht darüber lachen kann.“

Evangelos klopfte Kim noch einmal tröstend auf die Schulter. „Ich verstehe dich ja. Aber mach dir auch nicht zu viele Gedanken. Wahrscheinlich sind deine Sorgen unberechtigt. Machen wir es doch so. Du gibst mir seine Adresse, und wir warten noch bis morgen Vormittag. Wenn er sich dann immer noch nicht meldet, schicken wir einen Streifenwagen vorbei.“

„Hm“, brummelte Kim. „Wenn du meinst. Dann lass uns erst mal wieder nach oben gehen. Sonst wird es zu auffällig. Überhaupt, das Gespräch bleibt unter uns, klar? So gut kenne ich die da oben in der Lounge nicht, dass ich für jeden von ihnen die Hand ins Feuer legen möchte.“

„Das versteht sich ja wohl von selbst.“ Die beiden nahmen den Fahrstuhl, schwebten hinauf zur Lounge, wo sich Zorbas noch eine knappe halbe Stunde in der Runde aufhielt, bevor er sich verabschiedete. Er stieg in seinen Wagen und wählte seinen Chef an.

„Ja, hallo Waldemar ich bin’s. Es gibt Neuigkeiten.“

„Na los, dann erzähl mal.“

„Zu diesem Stammtisch Skyline Projects gehört ein Halbkoreaner mit Namen Kim Schmidt, der eine Freiwilligengruppe leitet. Eine Gruppe von Helfern, die Nordkorea mit Nahrung und Politschriften mit den neuesten westlichen Nachrichten über ihr eigenes Land versorgt. Und von dieser Gruppe wird ein gewisser Park Il Sung vermisst, der heute Abend eigentlich kommen wollte aber seit Tagen nirgendwo erreichbar ist.“

„Nun, das ist immerhin bemerkenswert“, räumte Pokroff in seiner gewohnten nüchternen Art und Weise ein. „Wer hat dir das genau erzählt? Und wie hast du reagiert?“

„Schmidt selbst hat es mir unten bei einer vorgeschobenen Zigarettenpause anvertraut. Natürlich habe ich versucht, ihn zu beruhigen und gesagt, sein Kumpan hat sich vielleicht nur mal eine Auszeit von ein paar Tagen genommen. Aber ich habe ihm versprochen, dass ich euch noch heute Abend privat unterrichte und dass wir morgen wenigstens einen Streifenwagen vorbeischicken.“

Pokroff räusperte sich. „Das ist ja gut gemeint, aber du weißt auch, dass wir da etwas vorsichtig sein müssen. Nur wenn jemand sein Handy ausschaltet, ein Treffen verpasst und ein paar Tage nicht gesehen wird, können wir nicht gleich eine Großfahndung einleiten. Da braucht es schon mehr Indizien. Zumal wir auch die Privatsphäre jener Leute respektieren müssen, die auch mal nicht erreichbar sein wollen. Aber irgendwie ist es schon komisch, dass im Umfeld unseres Falls plötzlich so viele Schlitzaugen auftauchen. Das kann eigentlich kein Zufall sein. Andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, dass wir nun überall von Spionen und Entführern umgeben sind. Aber wir müssen auf jeden Fall dranbleiben.“

Pokroff legte auf, Zorbas ließ den Motor an und fuhr die wenigen Straßen entlang Richtung Gallus, wo er vor kurzem in eine kleine Wohnung in der Nähe der Ludwigstraße gezogen war und sich auf eine gemütliche Restnacht vor dem Fernseher vor dem Schlafengehen freute. Jedenfalls hoffte er, sich darauf freuen zu können.

Gegen Mitternacht torkelte eine Gruppe jugendlicher Halbstarker schon reichlich angetrunken von der Mainzer Landstraße Richtung Main-Neckar-Brücke. Die zwei Kräftigsten der Bande hatten den Jüngsten am Oberarm gepackt und zerrten den Unwilligen, der sich immer wieder zu wehren suchte, nun grob über die Emser Brücke. „So Wölfsche, jetzt bist du dran. Wir haben dich zwar schon mal getauft. Doch wenn du so überhitzt zur Polizei laufen willst, dann brauchst du wohl nochmal eine Abkühlung“, sagte der Leithammel, den man gemeinhin unter dem Spitznamen „Siggi, der Rabe“ kannte. Als ein Passant vorbeikam, zog er rasch den Ärmel seines Pullovers herunter, damit man das auftätowierte runenähnliche Abzeichen nicht erkennen konnte.

Der Passant ging tatenlos vorüber, und Wölfchen sagte gar nichts, verzog nur scheu und angewidert das Gesicht, während er immer wieder versuchte, sich aus dem Klammergriff seiner Peiniger zu befreien.

„Hey, du machst dir ja vor Angst fast in die Hose“, lachte Kurti höhnisch und packte den Oberarm mit seiner fleischigen Pranke noch härter an. Dann blickte er hinüber zu Knut, der Wölfchen von der linken Seite umfasste, und brüllte einer entgegenkommenden Clique zu: „Hey Jungs, schaut doch mal, ich glaub, unser Frischling hat eine Blasenentzündung. Oder warum bist du schon wieder so feucht unter dem Hosenbund, wir waren doch vorhin erst zusammen hinter dem Busch und haben unseren Alk verklappt.“

Die Jungs der Clique schauten irritiert, glaubten an einen schlechten Scherz. Wölfchen meinte, er müsste gleich losheulen, aber er zwang sich, die Tränen zurückzuhalten. Nein, so schwach wollte er sich auf keinen Fall zeigen. Die Jungs gegenüber liefen nun an seiner Gruppe vorbei, warum traute er sich nicht, sie um Hilfe anzurufen? Doch was würde das schon bringen? Würden sie wirklich helfen? Die eigenen Kumpane würden ihm den Mund zuhalten, ihn gewaltsam zum Schweigen bringen, wenigstens einer von ihnen hatte bestimmt sein Butterfly-Messer dabei, glaubte er. Also biss Wölfchen die Zähne zusammen, ließ mit sich geschehen, was scheinbar nicht mehr zu verhindern war. So schlimm würde es vielleicht doch nicht werden, hoffte er.

Keiner der Passanten tat etwas. Nicht die Jugendclique, die an ihnen vorbeilief, nicht das Ehepaar im reifen Alter und auch nicht der Radfahrer auf der Gutleutstraße. Und die einsame Oma an der Bushaltestelle schon mal gar nicht. Junge Leute, die angeheitert uff de Gass laufen, sich markige Sprüche zurufen und sich dabei schubsen und festhalten, das gab es doch immer wieder. Das konnte doch alles nur Spaß sein. Oder nicht?

Siggi schritt wie ein stolzer Gockel vorneweg, dahinter folgten Ansgar und Kurti, die Wölfchen wehrlos durch die einsame Gasse vorbei an den gespenstig wirkenden Fabrikanlagen zur Main-Neckar-Brücke schleiften. Eigentlich sollte hier längst die Fahrradroute über den Main Richtung Niederrad verlaufen, aber die Mühlen im Amt für Straßenbau und Erschließung mahlten bekanntlich langsam aber kräftig. Wölfchen spuckte und hustete ununterbrochen, zeigte aber sonst kaum noch eine Willensregung. Kurz vor dem Aufgang zur Main-Neckar-Brücke kam ihnen Schorsch entgegen, der Wirt vom Restaurant im alten Pumpwerk am Westhafen. Angewidert drehte er den Kopf weg, als ihm ein Mischgeruch von Erbrochenem und scharfem Korn in die Nase stieg. Wie gerne hätte auch er weg geschaut. Doch dann quälte sie ihn wieder, die Erinnerung an die beiden dunkelhaarigen Schläger, die vor vielen Jahren ein benommenes Mädchen durch den Hauptbahnhof gezerrt hatten. Das sind harmlose Junkies, und die Kleine hat nur etwas zu viel erwischt, das gibt sich schon wieder, hatte er damals geglaubt. Einige Wochen später hatte Aktenzeichen XY gezeigt, was wirklich passiert war: Die beiden Männer hatten das Mädchen mit Whisky und K.O.-Tropfen gefügig gemacht und hinterher brutal vergewaltigt. Danach hatten sie noch einen vierzigjährigen Mann zusammengeschlagen und ausgeraubt. Und das nur, weil Schorsch damals nicht die Courage gehabt hatte, die damals noch eigenständige Bahnpolizei am Eingang an der nächsten Ecke zu informieren.

Nein, dieses Mal sollte es anders kommen. Man lernt schließlich aus seinen Fehlern. Zunächst ging der Wirt in Deckung, verstaute seine Frikadellen, die nackte Angst überkam ihn. Er wartete zunächst, bis die Gruppe etwa die Mitte der Brücke erreicht hatte, von wo er die Wortführer noch immer stolz grölen hörte. Dann fiel ihm ein vierter junger Mann auf, der die Brücke etwas unsicher und mit Verzögerung betrat und sich immer wieder umschaute, als ob er sichergehen wollte, dass seinen Kumpanen niemand folgte. Ein letztes Mal kam Wölfchen zu sich, blickte hinab auf den spiegelnden Fluss mit der Einfahrt zum Westhafenviertel. Ganz weit im Hintergrund ließ sich der Domturm erahnen. Derweil nestelte Schorsch mit zittrigen Fingern sein Uralt-Handy unter der ärmellosen Weste hervor, was ihn bestimmt einige gefühlte Minuten kostete. Endlich betätigte er den Notruf, schon kurze Zeit später machte es Tatütata und die Freunde und Helfer rückten an – nichts davon ahnend, dass ein Kollege schon an Ort und Stelle war, während die Täter jenseits den Mains das Weite suchten. Nur dass besagter Kollege keine Zeit für den Notruf hatte, sondern spontan an Ort und Stelle zum Lebensretter wurde.

***********************

Am nächsten Morgen blendete sie Sonne Evangelos Zorbas ins Gesicht, als er gerade nach wenigen Stunden Schlaf vorsichtig die Augen aufgeschlagen hatte. Zum Glück war es schon fast Sommer, dachte er. Andernfalls müsste er sich nun krank melden, da sein Körper so viel unfreiwilligen Wassersport bei kalten oder gar eisigen Temperaturen mit einer gehörigen Erkältung quittiert hätte. Halb benommen sah Zorbas die verschwommenen Bilder vergangener Epiphaniaszeremonien am nördlichen Mainufer vor sich. Am 6. Januar, wenn andere orthodoxe Gemeinden gerade mal die Geburt des Herrn feierten, pilgerten die Griechen an ihre Fluss- oder Seeufer, um nach dem westlichen Kalender bereits die Taufe zu feiern. Klar, dass im südländischen Hellas immer ein paar junge Burschen in die Fluten sprangen, um nach einem versenkten Kreuz zu tauchen, dass die Priester weihrauchschwenkend in die Tiefe warfen. Doch in Frankfurt waren solche Rituale freilich undenkbar. Dafür ließen es sich die heimischen Stadträte nicht nehmen, als starke Schirmherren den griechischen Priestern Geleitschutz zu geben, wenn diese das an einer langen Sicherheitsleine befestigte Kreuz aus dem Main am Land zogen, um es dann abermals zu versenken. Die Presseleute freuten sich dann immer wie die Schneekönige, wenn sie in der ereignisarmen Zeit kurz nach Neujahr von einem integrativen Kirchen- und Volksfest berichten durfte. Und manchmal, abhängig von Petrus Zugeständnissen im Zeichen des Klimawandels, trieben dann auf dem Main sogar ein paar Eisschollen, so dass es eher den wirklich hart gesottenen orthodoxen Russen in den Schwimmhäuten juckte – nur feierten die bekanntlich nach einem anderen, nämlich dem julianischen Kalender.

Zorbas stieg vorsichtig aus dem Bett, beschloss erst einmal den Kleiderhaufen in seinem Zimmer zu ignorieren und eine erfrischende Dusche zu nehmen. Unter dem gebündelten Wasserstrahl begann sein Kopf zunehmend klarer zu werden. Er hatte zu seinen Rinds-, Blut- und Feuerwürstchen, die man ihm im Cider Rider zu drei Varianten Kraut, Brot und Püree als Main Tappas kredenzt hatte, nach dem Sidra zum Aperitif nur einen zusätzlich gespritzten australischen Apple Light getrunken, weil er mit dem Auto unterwegs war. Nach der Unterredung mit Schmidt hatte er Pokroff verständigt. Bis dahin war wenigstens bei ihm noch alles im grünen Bereich. Zuhause hatte er noch nach der Post geschaut, wozu er vorher nicht gekommen war, und in der Wohnung eine Flasche Retsina geöffnet. Besser herzhaft und harzig als herzhaft und essigsauer, hatte er dabei noch gedacht. Doch gegen Mitternacht war er zur Main-Neckar-Brücke getrabt, und dort war es dann passiert – doch was tat dort eigentlich zu so später Stunde?

Als Zorbas die noch immer klatschnasse Jeans von seinem Stuhl angelte, hatte er das Bild endlich wieder klar vor Augen: Von der Mitte der Fußgängerbrücke hatte man eine hilflose Person wie einen Kleidersack in den Fluss geworfen. Und er hatte keinen Moment gezögert, als er sah, dass das Opfer nicht mehr die Kraft zum Auftauchen hatte. Statt auf den Rettungswagen zu warten, der sich in der Ferne mit seinem Martinshorn bemerkbar machte, war er gleich selbst in den Main gehechtet, hatte Wolf Schahl herausgezogen und nach vorsorglicher Beatmung und Herzdruckmassage in stabile Seitenlage gebracht. Inzwischen waren Polizei- und Krankenwagen gekommen, die drei Peiniger Siegfried Hohenstein, Kurt Dellbrück und Ansgar Fritzsche wurden zuletzt auf Sachsenhäuser Seite gesehen, waren aber weiterhin flüchtig. Sie würden sich mindestens wegen schwerer und lebensgefährlicher Körperverletzung verantworten müssen, während sich Wolf im Krankenhaus erholte. Eigentlich konnte sich Evangelos als Held fühlen. Doch Helden sahen irgendwie anders aus.

„So ein Mist“, schimpfte der junge Grieche, während er in die leere Tasche seiner klitschigen Hose langte. Dann fiel es ihm wieder ein: Er hatte den Zettel gar nicht mitgenommen, sondern in Gedanken auf seinen Schreibtisch gelegt und vergessen. Wahrscheinlich, weil er sowieso nur an einen dummen Scherz glaubte und vermutlich leicht beschwipst in einer Mischung aus Pflichtgefühl und Abenteuerlust losgelaufen war. Was er nun gleich doppelt bereute. Denn nach dem Anblick der Alkoholleiche, die er aus dem Main gezogen hatte, würde er so schnell keinen Tropfen mehr anrühren.

Endlich hatte Zorbas den gesuchten Zettel gefunden. Darauf stand mit der ungelenkigen Handschrift eines Teenagers geschrieben:

Evangelos, du wohnst doch am Main, oder? Sei um Mitternacht an der Main-Neckar-Brücke, muss dich dort dringend treffen.

Jetzt reicht’s aber, dachte der Grieche. Ohne viel nachzudenken, stieg er in seinen Wagen und rauschte an der Grenze der zulässigen Höchstgeschwindigkeit direkt am Industriepark Höchst vorbei auf den Stadtteil Sindlingen zu, wo er noch bis vor vier Wochen gewohnt hatte. Unterwegs fing er eine SMS von seinem Chef auf:

„Das Kommissariat dankt dir für deinen mutigen und tatkräftigen Einsatz. Dank deiner Hilfe bleibt unsere Statistik dieses Jahr weiterhin frei von Morden.“

„Blödmann“, dachte Zorbas. Er erreichte die Ortseinfahrt von Sindlingen, passierte die evangelische Kirche, bei deren Anblick er mit Schaudern an das Attentat einer geistesgestörten Frau an Heiligabend 1996 denken musste, und parkte den Wagen in einem Seitengässchen des alten Ortskerns. Dann lief er auf jenes geduckte Haus zu, das bis vor kurzem sein Wohnhaus war, und klingelte wie wild neben dem Türschild von „Krämer“.

„Also Tammy, das finde ich nun wirklich überhaupt nicht lustig. Bei allem Verständnis für deine Pubertät, hier hört der Spaß auf!“, brüllte er wütend. Dabei überhörte er fast das Surren des Türöffners, der nach einigen Minuten betätigt wurde.

„Was ist denn hier los, das ist ja wohl die Höhe? Was bitte, Herr Zorbas, soll meine Tochter schon wieder ausgefressen haben?“, hallte ihm die wütende Mutterstimme von Cornelia Krämer entgegen.

„Das weiß Tamara ganz genau!“, knurrte Zorbas zurück und spürte, dass er sein Temperament nur mit Mühe zügeln konnte. Dann zog er den Zettel hervor: „Hier die typische Handschrift einer Fünfzehnjährigen. Im Gutleutviertel wohnen keine Backfische, und außer Tamara und Ihnen kennt hier niemand meine neue Adresse!“

Mittlerweile kam die Fünfzehnjährige verschlafen und mit struppeligen Haaren an die Haustür getrottet. „Man, was soll der Scheiß, diese blöden Verdächtigungen! Wir hatten gestern schulfrei und ich war den ganzen Tag hier bei der Bea, meiner besten Freundin. Ich hab die Skyline nicht mal von weitem gesehen. Natürlich wird die Bea jederzeit mein Alibi bestätigen, Herr Inspektor!“

„Und woher kommt dann diese Teenieschrift auf meinen Zettel“, erwiderte Zorbas und versuchte, einen Gang runterzuschalten.

„Man, das weiß ich doch nicht. Zigtausende Mädels in meinem Alter haben eine solche Krakel, Evangelos.“

„Herr Zorbas“, korrigierte ihre Mutter mit strenger und aufgebrachter Stimme. „Nach diesem Auftritt sind die Zeiten des nachbarschaftlichen Du ein für alle Mal vorbei . Seien Sie froh, wenn ich von einer Dienstaufsichtsbeschwerde absehe, Herr Kommissar. Aber auch nur dann, wenn Sie augenblicklich die Kurve kratzen.“

„Schon gut, schon gut, ich glaube euch ja“, lenkte Zorbas endlich ein. „Aber was soll ich denn bitte machen, wenn mir jemand in meinem neuen Wohnviertel, wo mich noch kaum einer kennt, solch einen Zettel in den Kasten schmeißt, um mich rauszulocken und dann statt einem romantischen Date ein Mordversuch vor meinen Augen stattfindet, nur weil ich mal auf gut Glück am Main flaniere und nichts Böses ahne?“

„Mordversuch?“ Cornelia blickte Evangelos irritiert und ungläubig an.

„Ja, eine Jugendclique hatte versucht, einen jungen Mann um Mitternacht sturzbetrunken in den Main zu werfen. Wie sonst soll man das nennen? Das könnt ihr spätestens in einer Stunde online lesen. Und ich weiß verdammt nochmal nicht, was es mit diesem Zettel auf sich hat. Offenbar hat sich nicht nur jemand einen üblen Scherz mit mir erlaubt, sondern wollte mich sogar bewusst an den Tatort locken. Ich muss zugeben, dass ich immer noch nicht ganz klar sehe, was das zu bedeuten hatte. Am Ende galt der Anschlag vielleicht sogar mir, und der Falsche wurde an meiner Stelle von der Brücke gestoßen. Es tut mir echt absolut leid, aber ich hab sogar etwas Angst, weil mich da irgendeiner ins offene Messer laufen lassen will. Ich weiß, es klingt absurd, aber ein schlechter Jugendscherz wäre da sogar noch das geringere Übel.“

Cornelia wollte es noch immer nicht fassen. „Na ja, ich weiß ja nicht, was die ganze Geschichte soll. Aber so schnell kommen wir nach diesem tyrannischen Auftritt nicht wieder zusammen, das ist ja wohl klar.“

„Also gut, nochmal, ich muss mich nicht nur in aller Form bei euch entschuldigen, sondern auch noch von ganzem Herzen um die Absolution bitten. So heißt das, glaube ich, in der katholischen Kirche.“ Evangelos schmunzelte.

Cornelia schüttelte irritiert den Kopf. „Was soll der Blödsinn? Du weißt ganz genau, dass wir mit der Kirche nix am Hut haben.“

Tamara war zwischenetwas munterer geworden und hatte sich ihre Strähnen aus dem Gesicht gestrichen. „Sagen wir doch mal so, wir beide, wir haben jetzt echt was gut bei dir, Alter.“

„Tamara, bitte.“ Die Mutter musterte ihre Tochter scharf. „Ob wir diesem Mann verzeihen, habe ich längst noch nicht entschieden. Aber das gibt dir noch längst nicht das Recht, ihn respektlos mit ,Alter‘ anzureden.“

Evangelos schluckte. „Okay, ich biete euch einen echt fairen Deal an. Am Samstag muss ich eh mal bei meiner Ex in Höchst vorbeischauen. Dann erledige ich dort euren Wochenendeinkauf, weil Conny doch samstags Schicht in der Klinik hat uns nicht dazu kommt. Und abends lade ich euch beide ganz schick bei einem Griechen eurer Wahl ein. Wollte ich sowieso mal machen.“

Cornelia lächelte versöhnlich, während ihre Tochter die Lage peilte: „Hey man, Alter, is voll gebongt.“

Zorbas reichte beiden die Hand, „gab Check“, wie es in der modernen Jugendsprache heißt, und verabschiedete sich. Er war gerade auf halbem Weg zurück nach Höchst, als er in der Ferne bereits blaue Einsatzfahrzeuge sah und Sirenen heulen hörte. Er wollte eben das Präsidium anfunken, als ihm Pokroff bereits mit einem Anruf zuvorkam.

„Mensch, Evangelos, wo steckst du eigentlich?“

„Gerade kurz hinter der Jahrhunderthalle Richtung Innenstadt. Dass ich nach meinem Sondereinsatz gestern Nacht etwas später zum Dienst kommen würde, hatte ich dir ja gemailt. Und du hattest in deiner Antwort heute Morgen nichts zu beanstanden. Ich wollte gerade ins Präsidium fahren.“

„Okay, Einzelkämpfer, neuer Einsatz und neue Marschrichtung. Du wendest an der nächsten Ecke und drehst um Richtung Zeilsheim. Das ist eine dienstliche Anordnung.“

„Eye, Sir. Aber wieso Zeilsheim?“

„Weil dort Spaziergänger heute Morgen eine Leiche gefunden haben. Genauer gesagt im Zeilsheimer Wäldchen.“

„Na, dann haben wir ihn ja jetzt endlich, unseren ersten Mord.“

„Von wegen, das Wäldchen liegt nicht mehr auf Frankfurter Gemarkung. Die Kollegen von der Polizeidirektion Main-Taunus haben uns aber hinzugerufen. Nun müssen wir erst mal ermitteln, wann und wo genau die Tat passiert ist.“

Der junge Hellene gab Gas, dass ihm dabei fast die Pferde durchgingen. Zum Glück gab es weder großen Gegenverkehr noch eine Kontrolle durch Kollegen, die ihn zurecht wegen des überdrehten Tachometers belehrt hätten. Das Zeilsheimer Wäldchen lag nördlich des gleichnamigen Stadtteils wie eine Insel im offenen Feld. Wenngleich das Unterholz an einigen Stellen so dicht war, dass es kaum verwunderlich schien, dass man da leicht einen Toten verstecken konnte, der erst einmal unentdeckt blieb. So wie auch in diesem Fall: Offenbar war die Leiche nur oberflächlich verscharrt worden, so dass die Hunde der Spaziergänger wenig Mühe hatten, sie wieder auszugraben. Gert Liebhardt von der Spurensicherung kam Zorbas bereits im weißen Overall entgegen, während Pokroff noch das Ehepaar Hans und Luise Schecker vernahm.

„Wie lange ist es genau her, dass Sie den Toten gefunden haben?“

„Etwa vor fünfzehn Minuten. Unser Bodo war wie immer nicht zu halten, wenn es darum geht, in irgendwelchen Erdhaufen im Wald zu wühlen. Dann buddelte er mit den Pfoten die Erde weg, und schon blickten wir dem Mann in sein kreidebleiches Gesicht. Sie ahnen ja gar nicht, wie sich meine Frau erschrocken hat“, berichtete Hans Schecker, noch immer vom Schock gezeichnet.

„Was denken Sie Herr Liebhardt, wie lange der Mann schon tot ist?“, erkundigte sich Pokroff, während sein fünfköpfiges Team noch immer den Tatort inspizierte und sicherte. Vor allem suchten die Experten dabei nach Munition.

„Der Mann wurde wahrscheinlich durch einen kleinen Pfeil oder ein ähnliches Geschoss getötet, das durch eine Art Armbrust abgeschossen wurde. Eine typische Wunde ist am unteren Hals zu erkennen, eine weitere im Rücken, rechts oberhalb des Gesäßes. An dieser Stelle wurde wohl nur ein Betäubungsschuss abgegeben. Knapp ein bis eineinhalb Tage ist das her, vermuten wir. Keine Papiere. Und so, wie er da lag, war der Fundort wohl kaum der Tatort. Genaueres wird die Obduktion ergeben.“

„Aber dafür trägt der Tote die typischen Gesichtszüge eines Asiaten, der aus Korea kommen könnte“, stellte Zorbas fest. „Seit zwei Tagen ist er tot, und seit zwei Tagen wird ein Koreaner vermisst, der offenbar in gefährlicher Missionen für seine Heimat tätig war.“

„Du meinst den Koreaner, von dem du mir gestern Abend erzählt hast?“

„Genau den.“

„Hm, denkbar wäre das. Dann müsste der Tote irgendwelchen Machenschaften der Geheimdienste oder der Unterwelt in die Quere gekommen sein. Was denken Sie, Liebhardt, mit welcher Waffe dieses Geschoss abgefeuert wurde?“ Einen Pfeil konnte man immerhin lautlos abschießen, dann wäre ein schneller und klammheimlicher Angriff aus dem Hinterhalt möglich, ohne viel Aufsehen zu erregen.“

„Vermutlich von einer modernen Armbrust. Für diese Waffen verwendet man heute eine Art von Bolzengeschosse“.

„Und die sind schlagkräftig genug, um einen Menschen zu töten?“

„Unter Umständen schon. Oder die Geschosse sind mit einem Gift präpariert, um die nötige Wirkung zu erzielen.“

Noch bevor der Leichnam abtransportiert wurde, nahm Pokroff das Handgelenk und die Armbanduhr genauer in Augenschein. „Ein billiges asiatisches Imitat mit 24-Stunden- und sehr kleiner retrograder Datumsanzeige. Aber die vierzigstündige Gangreserve und die Stellung der Zeiger bei 8 Uhr morgens lassen doch eher darauf schließen, dass der Tod vor zwei Tagen eingetreten ist.“

Liebhardt verzog pikiert das Gesicht darüber, dass ihm dieser Uhrenfetischist von Pokroff in genau diesem Punkt bei der Auswertung der Spuren zuvorkam. „Wie schon gesagt, dass sind alles nur erste und ungenaue Vermutungen“, rechtfertigte er sich schließlich etwas verlegen.

„Schon gut, die genaueren Ergebnisse brauche ich dann freilich so schnell wie möglich.“ Pokroff klopfte dem Experten für die Spurensicherung auf die Schulter und hielt nach seinem jungen Kollegen Ausschau. „Komm, Evangelos. Die Spusi kommt hier, glaube ich, auch ganz gut alleine klar. Wir müssen die Identität des Toten ermitteln und sein Lebensumfeld so genau wie möglich rekonstruieren. Dafür müssen wir alle Hinweise aus dem Umfeld unserer koreanischen Mitbürger, die uns in den vergangenen Tagen begegnet sind, nochmal genauesens unter die Lupe nehmen. Außerdem sollten wir Christiane so schnell wie möglich im Präsidium treffen und die neue Lage besprechen.“ Derweil spulte auch Pokroff einige Bilder und Erinnerungen in seinem Gehirn vor und zurück. Stammte der Tote wirklich aus Korea, dann könnten sich ganz neue Zusammenhänge und Konstellationen ergeben. Welche, das galt es nun mit aller gebotenen Strategie und Logik zu analysieren,

Zorbas griff in die Hosentasche, zog einen Zettel heraus und reichte ihn Liebhardt. „Wenn Sie den bitte auch einmal analysieren könnten. Den hat mir jemand gestern abend in den Briefkasten geworfen und mich somit erst an die Main-Neckar-Brücke gelockt.“

Liebhardt warf einen flüchtigen Blick über den Text. „Typische Mädchenschrift, wahrscheinlich von einer Zwölf- bis Fünfzehnjährigen. Genaueres über die Zusammensetzung der Tinte dann später.“

Liebhardt tütete den Zettel ein und wandte sich mit seinen Kollegen wieder der Sicherung des Tatorts zu. Pokroff und Zorbas veranlassten die Überführung der Leiche ins Institut für Rechtsmedizin in der Kennedyallee, dann erteilten sie den Kollegen letzte Anweisungen und verabschiedeten sich.

„Wie sagtest du nochmal, heißt der Koreaner, den dein Freund gestern als vermisst meldete?“, erkundigte sich Pokroff auf der Rückfahrt ins Präsidium.

„Park Il Sung. Und wenn ich die Andeutungen von Kim Schmidt richtig verstanden habe, war er in Kontakt zur World Unity Mission oder gehörte ihr sogar selbst an. Am Ende fühlte er sich wohl von ihnen beobachtet, wenn nicht sogar verfolgt.“

„Umso wichtiger, dass wir das jetzt auf der Rückfahrt gleich überprüfen. Hattest du nicht gestern noch herausgefunden, dass die ein Büro in Höchst unterhalten?“

„Ja, allerdings unter dem klangvollen Namen ,Gleichrichter‘. So heißt die PR-Agentur von dem Missionssprecher Eckhard Richter, über die er seine verschiedenen religiösen und kulturellen Aktivitäten in Frankfurt kommuniziert.“

Besagtes Büro befand sich in einem Seitenweg der Bolongarostraße, Zorbas drückte auf den Klingelknopf und musste zunächst einige Minuten warten, bevor geöffnet wurde. Eckhard Richter war ein mittelblonder akkurat gescheitelter Mann Anfang Dreißig, der sich die Designerbrille etwas überrascht zurechtrückte, als er Pokroff zusammen mit seinem jungen Kollegen vor seiner Haustür erblickte.

„Guten Morgen, unser Büro ist eigentlich noch gar nicht geöffnet. Um was geht es denn? Von irgendwoher kenne ich Sie doch?“

„Allerdings. Ich bin Hauptkommissar Waldemar Pokroff, neben mir ist mein Kollege Evangelos Zorbas. Wir sind uns am Gründonnerstag vor der Cyriakuskirche begegnet und Frau Bergmann hat Sie uns als Mitglied der World Unity Mission vorgestellt. Nun geht es um ein potentielles Mitglied Ihrer Organisation, das seit mehreren Tagen vermisst wird.“

„Na, dann kommen Sie mal rein.“

Zorbas öffnete das Digitalfoto, das er zuvor am Tatort gemacht hat. „Kennen Sie diesen Mann?“, fragte er. „Wir haben ihn leider heute morgen tot im Zeilsheimer Wäldchen aufgefunden.“

„Das ist ja schrecklich. Aber ich glaube eher nicht, dass ich ihn kenne.“

„Schauen Sie bitte genau hin.“

„Nun ja, mein Personengedächtnis ist auch nicht immer das beste. Und ein bisschen besser könnte das Foto vielleicht noch sein, ohne dass ich das unhöflich meine. Aber es handelt sich zumindest um einen jungen Koreaner, aber die sehen sich auch alle recht ähnlich.“

„Gestern wurde Park Il Sung von einem Freund als vermisst gemeldet. Die Frage stellt sich, ob der Tote diesen Namen hatte und Mitglied der World Unity Mission war“, hakte Pokroff nach.

Richter setzte ein verdutztes Gesicht auf und versuchte dem direkten Blick des Hauptkommissars auszuweichen. „Moment, mal, wir hatten einen Herrn Park, der ist aus persönlichen Gründen ausgetreten. Aber das muss schon länger her sein, ich bin ja erst seit einem knappen Dreivierteljahr hier.“

„Und Sie können wirklich ausschließen, dass es sich dabei um ein und dieselbe Person handelt?“ Pokroff fixierte sein Gegenüber nochmals.

„Eigentlich ja. Obwohl natürlich auch die koreanischen Namen alle sehr ähnlich klingen.“

„Danke, das war es für den Moment.“ Pokroff und Zorbas verabschiedeten sich kurz und höflich, versuchten das Gespräch auf der Rückfahrt zu rekapitulieren. „Glaubst du ihm?“, fragte Zorbas.

„Eher nicht“, antwortete Pokroff. „Sicher ist Park bei dieser Missionsgemeinde in Ungnade gefallen und wurde ausgeschlossen. Und nun will ihn keiner mehr kennen.“

Nun aber hieß es für die beiden Kommissare, keine Zeit mehr zu verlieren. Denn im Polizeipräsidium wartete weit mehr auf sie als nur eine interne Dienstbesprechung mit Christiane von Erbenstein.

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„Ladies and Gentlemen, the toilet is full. Sorry, please.”

Christian Lockernagel wurde von der Durchsage in unbeholfenem Englisch und kurz darauf von einem Wasserschwall der Autoreinigung aus seinem Nickerchen geweckt. Er rieb sich die Augen und versuchte , noch halbverschlafen, einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster zu erhaschen. Er war in irgendeinem Betriebshof gelandet, offensichtlich in Köln. Zumindest folgerte er das aus den beiden Turmspitzen, die er irgendwo schemenhaft im Hintergrund erkennen konnte. Ob sie zum Kölner Dom oder aber doch zu irgendwelchen Fabrikschornsteinen gehörten, war nicht genau auszumachen.

„Wann kommen wir in Amsterdam an?“, fragte Lockernagel eine Mitreisende in der Sitzreihe gegenüber, die ihr Kopftuch offenbar zur Schlafmaske umfunktioniert hatte.

„So etwa zur Mittagszeit“, kam es müde und kaum verständlich hinter dem Kopftuch hervor.

Lockernagel rieb sich verschlafen die Augen. Begonnen hatte seine mehrtägige Tour mit einem Gutschein seines Vermieters. Frankfurt-Prag am Wochenende für’n Appel und’n Ei, einschließlich Stadtrundfahrt und Übernachtung. Mal wieder so ein verlockendes Angebot für einen kleinen Buchhändler, der sich von seinem mageren Erlös kaum eine Städtereise leisten konnte. Und dann setzte der Hausherr noch einen drauf: Nochmal zwei Tage Amsterdam mit Grachtenfahrt und Shopping-Ausflug in eine Bücheroase für standhafte linke Revolutionäre, so hieß es. Einzige Bedingung: Lockernagel sollte in Prag in einer Apotheke etwas abholen und es in Amsterdam übergeben. Dieses Mal sollte er Packungen mit Medikamenten, die in den Niederlanden und über das Internet schwer erhältlich wären, bei einem Kurier am Amsterdamer Hauptbahnhof abgeben. Der Vermieter hatte noch ein paar große Scheine draufgelegt und mit der Aussicht auf zusätzliche tschechische, chinesische und koreanische Revolutionsliteratur Lockernagel endgültig überzeugen können.

Im Laufe der Zeit hatte Lockernagel immer mehr verdrängt, wie es zu diesen Fahrten ursprünglich gekommen war. Natürlich hatte man zunächst versucht, ihm günstige Reisen schmackhaft zu machen. Doch bekanntlich gibt es nichts im Leben ohne Gegenleistung. Gewisse Medikamente, vor allem Psychopharmaka, sollte er zunächst zwischen Prag und Frankfurt transportieren. Der Hausherr wusste, dass Lockernagel aufgrund seines etwas exzessiven Vorlebens früher selbst in Behandlung war und noch immer gelegentlich Rezepte ausgestellt bekam. Das machte die Angelegenheit einfacher und unauffälliger. Und er wusste, dass Lockernagel ständig auf der Suche nach neuen Titeln war, die es vor allem in ausländischen Antiquariaten günstig zu kaufen gab. Futter für seine marxistische Buchhandlung „Vorwärts“, die er in einer Seitenstraße der Mainzer Landstraße betrieb. Denn mit seiner Sonderbuchhandlung war das Überleben nicht gerade einfach. Die Miete konnte Lockernagel gerade so zahlen. Eine richtige Buchhandlung im Gallus mit so aparten Spezialgebieten- das war eh kaum darstellbar. An Druck- und Lockmitteln fehlte es somit nicht. Nun aber auch noch Amsterdam?

Der junge Buchhändler strich sich über seinen Vollbart, der noch seine vollendete Form irgendwo zwischen Stoltze und Marx suchte. Schließlich hatte sich Stoltze auch immer gegen die preußische Obrigkeit aufgelehnt. Und das Stoltzedenkmal, das in ein paar Jahren vom gleichnamigen Platz südlich der Hauptwache an den Hühnermarkt in der sogenannten neuen Altstadt umziehen sollte, erinnerte irgendwie auch an Marx. Lockernagel versuchte nachzurechnen, wann er etwa an seinem Zielort eintreffen könnte. Das kleine Restaurant mit Ausstellungsraum befand sich nicht in der so genannten Chinatown nahe der Altstadt, sondern einige Kilometer außerhalb in einer westlichen Vorstadt. Hier, so hatte man ihm versprochen, sollte es eine stattliche Auswahl seltener kommunistischer Schriften von Mao bis Ho Chi Minh geben. Auch solche, die man in der westlichen Welt nicht ohne weiteres erhalten konnte.. Schließlich waren die Genossen von heute nicht mehr mit Null-Acht-Fuffzehn-Ausgaben des „Kapitals“ zufriedenzustellen, wie man sie in jeder Filialbuchhandlung manchmal schon zu Ramschpreisen erhalten konnte.

Lockernagel versuchte gerade, krampfhaft eine neue halbwegs bequeme Sitz- und Schlafposition einzunehmen, als die Stimme aus dem Lautsprecher erneut ertönte.

„So, Ladies and Gentleman, the toilet is clean. Wir foahr’n jetzt weiter und erreichen Amsterdam so gegen viertel zwölfe. Vorher, so kurz hinter Arnheim, mach’mer nochmal a kleine Veschperpause. Also, break short after Arnhem.“ Verwundert blickten einige der wachen Mitfahrenden zum Busfahrer mit seinem graublonden Zwirbelbart. Wer schon aufnahmefähig genug war, konnte sich ein Kichern über das franko-bajuwarische Deutsch-Englisch mit dem in der Kehle gerollten “r” nicht verkneifen. Nun fiel es auch Lockernagel wieder ein: Der Busfahrer hatte sich entschuldigt, er hätte kurzfristig aus Nürnberg für einen erkrankten englischen Kollegen einspringen müssen. Aber er würde eben sonst nur Tagesfahrten nach Frankfurt oder München ausrichten und hätte deshalb nur einen sehr minimalen englischen Grundwortschatz, zu dem neben „hello“, „bye“ und ein paar Zahlen und Präpositionen auch die Verstopfung der Sanitärräume gehören würde.

Lockernagel drückte wenigstens pro forma die Augen zu und versuchte noch ein wenig abzuschalten – an Schlaf war eh nicht mehr zu denken.

Etwa drei Stunden später traf der Bus im zentralen Busbahnhof in Amsterdam an. Wie eine Trutzburg ragten die Türme des gründerzeitlichen Bahnhofsgebäudes in den Himmel, tatsächlich wurde sie auch von einigen Polizisten belagert. Christian Lockernagel stieg aus und überquerte vorsichtig die Hauptstraße. Dort, wo einem sonst schon mal dunkelhäutige Dealer vorsichtig Briefchen mit Kokain anboten, drang nur dezent aber völlig legal ein Hauch von Cannabis in seine Nase. Etwa so, wie in den italienischen Großstädten die Reisenden am Hauptbahnhof der Duft von Espresso oder Cappuccino empfing.

Am Smiets Koffiehuis wartete der Kontaktmann aus Amsterdam, der sich mit dem Namen Pieter Tempelaers vorstellte. Ein leicht ergrauter und korrekt gescheitelter Herr, der im Straßenbild nicht weiter auffiel und Lockernagel in ebenso korrektem fast akzentfreiem Deutsch empfing.

„Guten Tag. Sie sind Herr Lockernagel? Hatten Sie eine angenehme Reise?“

„Besten Dank, die Straßen waren weitaus weniger verstopft als das WC.“ Lockernagel konnte sich den kleinen Scherz nicht verkneifen.

Tempelaers schmunzelte. „Haben Sie das Medikament dabei?“

„Sicher.“

Lockernagel griff in die Jackentasche und kramte eine Packung Subutex hervor. Typisch tschechische Verpackung für ein Präparat, dass dort legal für die Substitution bei Drogen verschrieben wurde. Ob sich darin auch die zugehörigen Tabletten befanden, schien mehr als fraglich.

Tempelaers bat Lockernagel in seinen Wagen, einen wenig auffälligen beigen Toyota. Zur Verwunderung Lockernagels verließen sie die Innenstadt schon relativ bald und bewegten sich auf der Ausfallstraße durch moderne aufgelockerte Gartenstadtviertel Richtung Westen.

„Wo fahren wir hin?“, wollte Lockernagel wissen.

„Osdorp“, antwortete Tempelaers knapp. „Zum Heiligen Berg.“

„Zum was?…“

„Lassen Sie sich einfach überraschen und genießen Sie die Aussicht. Ich muss mich jetzt auf den Verkehr konzentrieren.“ Damit war jede weitere Nachfrage erledigt.

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Am späten Vormittag hatten Zorbas und Pokroff Kim Schmidt zur Identifizierung der Leiche in die Rechtsmedizin einbestellt. Schmidt hatte sofort zugesagt, kam dann aber doch eine Viertelstunde später, was er mit einer unerwarteten Begegnung mit Ermittlern des Bundeskriminalamtes vor seiner Wohnung erklärte.

„Was wollten die Kollegen denn von Ihnen?“, erkundigte sich Pokroff.

Schmidt schaute etwas verdutzt. „Außer meinen Personalien wollten sie einige Informationen über mein Engagement für meine koreanischen Landsleute in Frankfurt. Sie sagten, das bräuchten sie für einen Fall, in dem sie nun ermitteln würden.“

„Und wie hieß der Chef dieser Abteilung?“

„Krosch , Kruscher oder so ähnlich. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Er selbst war leider nicht anwesend.“

„Schon sehr seltsam“, stellte Pokroff fest und führte Schmidt in die Leichenschauhalle. Was mussten sich die Kollegen bereits jetzt im Vorfeld in seinen Fall einschalten? Als Parks Leiche enthüllt wurde, rang Schmidt schockiert um Fassung, bestätigte dann aber die Identität des Toten und bat, nach draußen gehen zu dürfen.

„Und Park Il Sung hat wirklich keine näheren Angehörigen oder Freunde, bei denen man sich über sein plötzliches Verschwinden erkundigen könnte“, erkundigte sich Zorbas nochmals.

„Angehörige sicher nicht, und weitere Freunde sind mir zumindest nicht bekannt. Park gehörte auch nicht zu den Menschen, die ständig Gesellschaft um sich herum brauchen.“

„Und war er Mitglied bei der World Unity Mission?“, wollte Pokroff weiter wissen.

„Wenn überhaupt, dann früher einmal. Seit ich ihn kannte, hatte er höchstens noch lose Kontakte. Die Verflechtungen mit evangelikal-charismatischen Kirchengemeinden gingen ihm wohl zu weit.“

„Sie meinen mit Sekten?“

„Ich weiß nicht, ob man das so direkt sagen kann. Es sind eben andere Glaubensrichtungen, die in eigener Weise verkündet werden.“ Schmidt lächelte. Der koreanische Teil in ihm kam zum Vorschein, gab ihm ein, sich lieber freundlich, aber auch höflich-distanziert auszudrücken.

„Ich verstehe. Ich danke dir, wir bleiben auf jeden Fall weiter in Kontakt.“ Als Zorbas die Hand zum Abschied reichte, mischten sich bereits weitere Bedenken und Befürchtungen in die traurige und angespannte Stimmung. Pokroff hatte Zorbas nämlich noch um eine Unterredung in seinem Büro vor der Dienstbesprechung mit dem Polizeipräsidenten gebeten. Zorbas fühlte sich unsicher, verstand nicht recht, was der so kurzfristig angesetzte „private“ Termin bei seinem Chef zu bedeuten hatte. Mit gemischten Gefühlen betrat er das Dienstzimmer, wo ihm sein Chef kurz darauf eine durchaus bekannte und vertraute Melodie vorspielte.

„Na, erkennst du das?“, wollte Pokroff wissen.

Auf seinem Computermonitor waren Bilder von der Amsterdamer und der Utrechter Altstadt und dem Keukenhof zu sehen, der größten Gartenanlage der Niederlande mit 4 500 000 Blumenzwiebeln. Dazu ertönte sanft die Melodie „Wenn der Frühling kommt, dann schenk ich dir Tulpen aus Amsterdam“, begleitet von einer südländischen Mandoline, die direkt aus Griechenland hätte kommen können.

„Das ist ja die Werbung für meine Busreise nach Amsterdam am Gründonnerstag.“ Zorbas lachte kurz auf und schüttelte den Kopf.

„In der Tat. Die Firma Dutch Spring Tours verwendet diese Melodie. Hat sich besonders auf Holland spezialisiert. Wusstest du, dass sie seit vergangenen Herbst ein Fall für die Steuerfahndung ist? Die haben wohl allzusehr in die eigene Tasche gewirtschaftet. Ich weiß, das Leben ist voller Zufälle, aber wenn ein Kommissar der K 11 mit diesem Unternehmen zu Schnäppchenpreisen fährt und dabei seine Abenteuer erlebt, dann sollte uns das schon näher interessieren.“

Zorbas verspürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. „Aber ich versichere dir, ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass die etwas mit Steuerbetrug zu tun haben.“

„Darum geht es auch nicht, wenigstens nicht vorrangig. Spannender ist schon die Frage, wie die ihr Programm organisieren, dass du dort Gelegenheit hattest, mit einer chinesischen Schönheit anzubandeln. Okay, damals habe ich das nicht sonderlich ernst genommen. Aber inzwischen tauchen die Asiatinnen und Asiaten in unserem Umfeld etwas zu häufig auf, findest du nicht? Da kann und will ich langsam nicht mehr an komische Zufälle glauben. Also erzähl bitte nochmal, wie ihr euch begegnet seid.“

„Ja, das war in einer Hauptstraße der sogenannten Chinatown in der Amsterdamer Altstadt. Das Mädchen war alleine und fragte mich, ob ich es zu seiner Reisegruppe an den Hauptbahnhof zurückbringen konnte. Das konnte ich zwar nicht, weil dann doch ein Anruf von der Gruppe kam. Aber so kamen wir zumindest kurz ins Gespräch. Ein bisschen haben wir wohl auch geflirtet. Ich erzählte ihr dann, dass ich aus Frankfurt komme und bei der …

„..und dass du bei der Polizei arbeitest, du Held. Deinen Dienstausweis hast du ihr aber nicht gezeigt?“

„Na ja, das mit der Polizei habe ich nur so angedeutet. Ich war ja schließlich im Urlaub.“

„Wie auch immer, wie sah die Kleine aus? Es drängt sich die Frage auf, ob sie nicht doch eine Ähnlichkeit mit unserer Japanerin hatte.“

„Na ja, vom Typ her war sie zumindest nicht unähnlich. Aber die Haarfrisur und die Oberweite haben nicht so ganz gestimmt, aber da kann man ja bekanntlich auch nachhelfen. Aber die in Amsterdam war sicher eine Chinesin, sie hat mir doch ihre Heimatstadt Ghuangzhou ganz genau beschrieben.“

„Ganz genau bei eurem kurzen Flirt. Auch da kann man bekanntlich nachhelfen. Also wie sah sie genau aus?“

„Wie schon gesagt, Körpergröße vielleicht 1,65 und schlank, aber auch etwas athletisch. Etwas erinnerte sie schon an Yoko. Aber ich habe dir doch damals das Video geschickt!“

„Das habe ich natürlich später wieder gelöscht, um Platz auf meinem Handy zu schaffen. Ließ sie sich eigentlich freiwillig filmen?“

„Na ja, so ganz begeistert war sie nicht. Auch nicht, als der Begleiter kam. Sie sind dann auffallend schnell um die Ecke gegangen und in einen dunklen BMW eingestiegen.“

„Und der Begleiter, wie sah der aus?“

„Etwa 1,80 groß, kurzes schwarzes glattes und gescheiteltes Haar, etwa 35 bis 40 Jahre alt und wahrscheinlich auch ein Chinese, so weit ich sehen konnte.“

„Na gut, also pass auf. Diese Chinatown ist auch nicht gerade weit vom Rotlichtviertel entfernt, so weit ich weiß. Auf Touristen ist man dort eingestellt. Aber ich werde die Kollegen in Amsterdam verständigen und nachfragen, ob dort eine Chinesin bekannt und auffällig geworden ist, die auf die Beschreibung unserer Yoko Omura passt. Aber weil das alles nur vorsichtige Vermutungen sind, sagst du auf unserer Chefvisite gleich noch nichts davon. Wenn überhaupt, werde ich das kurz erwähnen. Verstanden?“

„Eye, Sir. Und jetzt entschuldige mich bitte für einen Moment.“ Zorbas verließ das Dienstzimmer und verspürte noch immer ein komisches Gefühl in der Magengegend. Wollte sein Chef ihn etwa verhören und traute er ihm am Ende zu, vorsätzlich bei einem zwielichtigen Busunternehmen seinen Kurzurlaub zu buchen? Das konnte einfach nicht wahr sein.

Der so genannte Große Sitzungssaal des Präsidiums in der Adickesallee erinnerte eher an das Bundeskabinett als an einen dienstlichen Besprechungsraum der Frankfurter Polizei. Und wer die Hierarchien der Ermittlungsbehörden im Land Hessen kannte, konnte sich nur allzu bildhaft vorstellen, wer sich auf dem Sessel mit erhöhter Rückenlehne gemütlich eingerichtet hatte: Heinrich Sawinsky, der dank seiner vielen Verdienste um die effektivere Aufklärung in seinen Einsatzkommissionen inzwischen zum Kriminaldirektor befördert worden war. Klar, dass dafür auch Zorbas, von Erbenstein und Pokroff etwas nach oben gerückt waren und sich nun mit dem Rang des Kommissars, der Oberkommissarin und des Hauptkommissars schmücken durften. Doch dass die Presse und das Fernsehen vor allem den obersten Chef als den großen Aufklärer lobten und die tagtägliche Arbeit seiner Untertanen dabei eher in den Hintergrund treten ließen, war vor allem Pokroff ein Dorn im Auge.

Punkt elf Uhr war die offizielle Dienstbesprechung der gesamten Mordkommission K11 mit dem Kriminaldirektor angesetzt. Sawinsky musterte vor allem jenes Führungstrio, das sich in den vergangenen Jahren durch seine erfolgreichen aber zuweilen etwas unkonventionellen Ermittlungen hervorgetan hatte. Wozu auch ein Schlag gegen die Frankfurter und die Moskauer Unterwelt zählen durfte, der sich aus der Tötung eines größenwahnsinnigen Museumsdirektors ergeben hatte. Dabei war der Täter eher ein kleines Licht und wäre womöglich wegen Totschlag verurteilt oder sogar wegen Notwehr freigesprochen, hätte nicht ein heimtückischer Blutkrebs seinem Leben vorab ein Ende gesetzt. Doch der neue Fall, zu dem nun neben einem Anschlag im Westhafen und auf der Main-Neckar-Brücke noch ein zweiter vollendeter Mord gehören dürfte, zog nun abermals internationale Kreise, die mehr als undurchdringbar erschienen.

„Meine Damen und Herren, in einer halben Stunde haben wir unsere Pressekonferenz angesetzt und müssen den Medienvertretern zu zwei Anschlägen an einem jungen Erwachsenen, einer berühmte Frankfurter Designerin und einem Mord an einem unbekannten Koreaner Rede und Antwort stehen. Man wird uns damit bedrängen, einen Zusammenhang zwischen den drei Taten herzustellen und erste Ergebnisse zur baldigen Aufklärung zu liefern.“ Sawinsky wählte einen sehr strengen, formalen aber auch pathetisch klingenden Tonfall. Klar, dass Pokroff darin schon den nächsten imaginären Orden sehen würde, den sich Sawinsky an Brust heften wollte. Aber der Zweck heiligte nun mal die Mittel. „Also, wie stehen Ihre aktuellen Ermittlungen? Ich höre!“

Pokroff gab seine vorbereitete Erklärung ab: „Es fehlen weiterhin die Papiere des Ermordeten. Doch sein Freund Kim Schmidt konnte ihn inzwischen als Park Il Sung identifizieren. Möglicherweise gehörte er der World Unity Mission an, was ein führendes Mitglied uns leider nicht bestätigen konnte oder wollte. Ein Zusammenhang mit dem Mordanschlag auf Nadine Engelthal ist ohne weiteres nicht zu erkennen. Außer, dass auch in diesen Fall eine Person aus Asien verwickelt ist, die aber nach dem Stand unserer bisherigen Ermittlungen aus Japan kommt und Yoko Omura heißt.“

„Es spricht aber viel dafür, dass es sich bei Park Il Sung um jenen Koreaner handelt, der nach den Aussagen eines Joggers morgens im Grüneburgpark von einem Geschoss getroffen wurde. Man konnte die Leiche im Park nicht finden, da sie der Mörder offenbar schnell weggeschafft und in das Zeilsheimer Wäldchen gebracht hat“, ergänzte von Erbenstein.

Sawinsky stutzte einen Moment. „Das klingt auf den ersten Blick ganz einleuchtend. Aber würde ein Mord an einem Koreaner nicht viel besser in den Anlagenring passen. Schließlich steht doch dort diese …wie heißt sie…Gartenanlage….“

„Ohne unhöflich sein zu wollen, aber ich glaube, sie verwechseln da etwas“, erklärte Zorbas. „Im Anlagenring nahe des Abgangs zur Berger Straße liegt der Chinesische Garten. Im Grüneburgpark hingegen liegt der Koreanische Garten, ein Geschenk zur Buchmesse 2005, bei der Korea das Gastland war. Vom Koreanischen Garten aus ist man in wenigen Schritten bei den hinteren Gebäuden des Uni Campus Westend. Und der direkte Weg durch den Park führt nach etwa hundert Metern zum Abgang zur Bundesbank.“

„Dort wiederum gibt es viele Sträucher, hinter denen sich ein potentieller Täter verstecken kann“, ergänzte von Erbenstein. „Sträucher, die deshalb nebenbei gesagt bald vom Grünflächenamt entfernt werden müssten.“ Pokroff warf seiner Kollegin einen dankbaren Blick zu. „Außerdem gibt es dort in der Nähe eine Haltebucht an der Miquelallee. Dort kann der Täter seinen Wagen geparkt haben, um seine Leiche schnell fortzuschaffen.“

„Hm, klingt nachvollziehbar.“ Sawinsky runzelte die Stirn.

„Auch von mir gibt es noch etwas Neues“, meldete sich Zorbas zu Wort. „Ich habe eben eine SMS aus der Uniklinik bekommen. Wolf Schahl, der junge Mann, der letzte Nacht vom Eisernen Steg gestoßen wurde, hat mittlerweile das Bewusstsein erlangt. Er stammelte etwas von Kumpeln, die ihn wohl loswerden wollten, weil er der Polizei etwas zu melden hatte. Aber richtig vernehmungsfähig ist er noch nicht. Die wenigen Zeugen, die die Täter kurz vor der Tat oder während der Flucht zumindest kurz gesehen haben, berichten mal von drei, mal von vier jungen Männern, von denen einer offenbar etwas unfreiwillig mitgeschleift wurde und etwas dunkelhaariger und schlechter als die anderen rasiert war.“

„In Ordnung, Sie bleiben natürlich auch an diesem Fall und dieser Spur weiter dran. Sonst noch etwas?“

„Ja, wir müssen überprüfen, ob es einen Zusammenhang zu dem bis heute unaufgeklärten Mord an der nordkoreanischen Zirkusartistin nahe der Mainzer Landstraße vor vier Jahren gibt“, erklärte Pokroff.

„Und zu einer ganzen Reihe von koreanischen Entführungen, die sich zwischen Frankfurt und Heidelberg in den 1960er Jahren ereignet haben“, fügte von Erbenstein hinzu. „Mein Mann hat mich vor allem auf einen Fall aufmerksam gemacht, in dem es offenbar um den Schmuggel von einem Stoffkörbchen mit Gold ging…“

„Na, das liegt aber nun doch sehr weit zurück, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten“, unterbrach sie Sawinsky.

„Und doch haben damals wie heute süd- und nordkoreanische Geheimdienste mehr verdeckte Operationen in unserem Land geleitet, als wir das jemals wissen möchten. Ich habe im Internet recherchiert, viele Fälle sind inzwischen in Fachbüchern und Autobiographien dokumentiert“, insistierte von Erbenstein. „Bis hin zu einem nordkoreanischen Geheimdienstchef, der im Auftrag der Präsidenten Kim Il Sung und Kim Jong Il Handfeuerwaffen und persönliche Luxusgüter im Ausland eingekauft und sich während einer Dienstreise in Österreich abgesetzt hat, weil er die Schikanen im eigenen Land einfach nicht mehr ausgehalten hat.“

„Gut, wenn das so ist, dann werden wir sehen müssen, was die Akten im Bundeskriminalamt Wiesbaden dazu hergeben. Womit wir schon bei dem nächsten Punkt sind.“ Sawinsky räusperte sich und musterte das Trio der K 11 mit eindringlichem Blick. „Da dieser Fall offenbar wirklich internationale Dimensionen annimmt, werden wir um die Zusammenarbeit mit einem Spezialisten vom Bundeskriminalamt nicht herumkommen. Ich dachte da an Klemens Krösch, der auch als Koryphäe in Sachen Geheimdienste gilt.“

Diese Vorstellung war Pokroff nicht grundsätzlich unsympathisch. Er kannte Krösch von gemeinsamen Seminaren, Sport- und Schießübungen und hatte bei dem ein oder anderen Feierabendbier einen ganz guten Draht zu ihm entwickelt. Trotzdem missfiel es ihm, dass Sawinsky wie so oft ihn vorab nicht über seine Pläne der Kooperation unterrichtet hatte. Und genauso missfiel ihm, dass Kröschs Team sich bereits hinter seinem Rücken in den Fall eingeschaltet hatte. Er wusste nicht recht, wie er nun reagieren sollte.

„Gut, wenn Sie das für angezeigt halten. Krösch und ich sind bereits bekannt, alles Weitere wird sich finden.“ Pokroff gab sich Mühe, die Nachricht als normale Routineweisung aufzunehmen und jegliche Gefühlsregung zu unterdrücken.

„Das denke ich auch. Aber von unserer Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt muss die Presse im Moment noch nichts erfahren.“

Doch bei der anschließenden Pressekonferenz war es alles andere als einfach, die richtigen Formulierungen zu finden und um die heiklen Angelegenheiten herumzureden. Während sich vor allem die anwesenden Lokaljournalisten auf die städtische Dimension der Fälle konzentrierten und die penetrante Frage stellten, wie am hellichten Tag jemand am Westhafentower vergiftet oder morgens im Grüneburgpark mit einem Geschoss tödlich niedergestreckt werden konnte und wie lange der oder die irren Täter noch frei herumlaufen werden, konzentrierte sich Lisa Naumann von „Art of Frankfurt“ auf die, wie sie hoffte, augenscheinlichen weltweiten Verwicklungen, die dieser Fall aufzeigen würde. Selbst von den Verschleppungen der 60er Jahre und dem kunstvollen Goldschmuck schien sie schon irgendetwas gehört zu haben – auch wenn sie das nicht so offen durchblicken ließ. Die Frage nach der Zusammenarbeit mit übergeordneten Ermittlungsbehörden blieb vereinbarungsgemäß unbeantwortet. Schon am Abend würden jedoch die neuesten Sensationsbilder über den Anschlag auf die Schmuckdesignerin und das unscharfe Foto von Yoko über die Fernsehschirme flimmern- inzwischen hatte es die Polizei zur Ausstrahlung freigegeben.

Nach der PK wartete Naumann an der Eingangstür zur Kantine, um von Erbenstein abzupassen. „BKA?“, fragte sie und schien auf ein Kopfnicken der Oberkommissarin zu spekulieren. Die aber zog nur angestrengt die Augenbrauen hoch. „Wer und wie auch immer, Sie haben in unseren Speiseräumen nicht das Geringste verloren? Ist das klar?“ Nun nickte Naumann, etwas verlegen und entschuldigend, bevor sie sich von dannen trollte.

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Durch den hellen mit paradiesischen Landschaftsbildern geschmückten Raum waberte der penetrante Duft von Vanille und Sandelholz, während drei blutjunge fernöstliche Elfen wie entrückte Nymphen im milden Neonlicht schwebten und ihre elysischen Gefilde ähnlich wie einst die berüchtigten Sirenen priesen, die Odysseus auf seinen Irrfahrten ins Verderben locken wollten.

Nach einer kurzen Atempause hob der helle liebliche Gesang wieder an:„Trinken wir auf das Wohl unseres Landes, auf die diamantenen Berge, die anmutig schönen Blumen und die helle Sonne, die unserem großen Führer leuchtet, damit er unser Volk zur Erlösung führt.“

So oder so ähnlich ließ sich Christian Lockernagel die paradiesischen Verse der Feen von einem Vertreter des nordkoreanischen Konsulats übersetzen. Und während die eine von drei Karaokesängerinnen, die er in ihrer zierlichen Grazie kaum voneinander unterscheiden konnte, das rubinrote Weinglas erhob, ließ die andere den süßlichen Hauch besagter Blumen durch das Restaurant Paektusan wehen- Kim-Il-Sungien und Kim-Jong-Ilien, wie der Vertreter erklärte und in Kurzversion gleich noch die zugehörige Legende dazulieferte: „Die Blumen wurden extra für den Großen Führer und Ewigen Präsidenten und den Geliebten Führer gezüchtet. Kim Jong Il wurde auf dem Heiligen Berg Paektu geboren .“

„Und bald werden dann auch die Kim-Jong-Unien gezüchtet?“, fragte Lockernagel mit einem mühsam unterdrückten Grinsen.

Keine Antwort, aber dafür eine eindeutige Geste. Solche Fragen stellte man hier nicht. Und Witze über die großen Staatsoberhäupter gingen schon mal gar nicht.

„Sorry“, meinte Lockernagel und versuchte seine Unsicherheit mit einem nervösen Augenzwinkern zu zu überspielen. Dann blickte er an die gegenüberliegende Wand, wo monumentale Gemälde und Propagandavideos das Gastgeberland wie eine heroische Kulisse aufzubauen versuchten. Hell und klar schien die Sonne auf die Skyline der Metropole mit ihren breiten Boulevards, die an den Nationaldenkmälern vorbei strahlenförmig durch das Zentrum führten. Im Geist glaubte Christian Lockernagel den Arc de Triomphe zu erkennen. Kein Zweifel, es war das Paris des Ostens, das stolz und unwirklich auf dem breiten Panoramabild prangte. Alleine es fehlte die Lebendig- und Quirligkeit auf den Straßen entlang der Seine. Statt dem prallen Leben konnte man auf den Boulevards höchstens ferngesteuerte Marionetten erahnen, die an den Straßenrändern Spalier standen, um dem großen und geliebten Führer zu huldigen. Pjöngjang, die Hauptstadt Nordkoreas, glich vielmehr einer mächtigen und blutleeren Monumentalstadt, entrückt bis zur Unwirklichkeit, ebenso wie der große und mit strahlenden Soldaten und Helden der Arbeit geschmückte Saal des Lokals, wo die Gäste von den elfenhaften Kellnerinnen umschwärmt und bewirtet wurden. Mit ihrem puppenhaft entrückten Lächeln wirkten die jungen Feen auf westliche Besucher fast wie japanische Geishas, was umso abwegiger erschien, wo doch Japan, einst die Kolonialmacht Koreas, in der nördlichen Volksrepublik immer noch wie Feindesland behandelt wurde.

Lockernagel hatte gerade seine kalte aber durchaus pikante Pjöngjang Noodle Soup gelöffelt und dazu ein helles überschäumendes Ryongsong-Bier getrunken. Erneut schwebten die Elfen herein und servierten den Hauptgang, mehrere Reisschälchen mit frittiertem Barsch, mariniertem Rindfleisch, genannt Bulgogi und dem obligatorischen fermentierten Chinakohl, besser bekannt als Kimchi. Dazu schenkten sie, zuckersüß lächelnd und in demutsvoller Verbeugung, Cheongju ein, milden nordkoreanischen Reiswein. Lockernagel gab sich alle Mühe, nach der pikanten Suppe und dem säuerlichen Kimchi durch fachmännisches Schlürfen noch etwas Aroma aus dem feinen Cheongju für seine Geschmacksnerven herauszukitzeln. Als könnte sie Gedanken lesen, brachte eine weitere Nymphe mit hochgestecktem Haarknoten noch eine Karaffe kristallklares Mineralwasser vom Berg der Berge und kredenzte schließlich Yagkwa, eine mehrstöckige Etagère voller Sesam- und Honigkekse, dekoriert mit Mandel-, Pinien- und Pistazienkernen. Dazu ein Gläschen Himbeerlikör, während der Paektusan auf der Leinwand im Hintergrund nun mit Zuckerguss bestreut wurde – schneeweiße Winterromantik auf Nordkoreanisch.

„Wenn Sie sich so lange unsere Bücherausstellung im ersten Stock ansehen möchten? Der Chef hat jetzt Zeit.“ Die Servierdame, die die geleerten Gläser abräumte, wies huldvoll und mit einladender Geste die richtige Richtung.

Lockernagel begab sich in die Hand der zauberhaften Elfe, der sich auf dem Weg zum Fahrstuhl eine zweite nicht weniger charmante Schönheit mit etwas länglichem Gesicht anschloss. Lockernagel genoss es, auch wenn es ihm sichtlich schwer fiel, die beiden Hostessen mit ihren glänzend schwarzen geknoteten Haaren und ihrem hellen elfenbeinartigen Teint, die sich permanent nach seinem Wohlergehen erkundigten und ihn dabei keinen Moment aus dem Auge zu lassen schienen, voneinander zu unterscheiden.

Im ersten Stock angekommen erblickte Lockernagel sogleich einen eleganten Herrn im dunklen Anzug mit mittelblonder Halbglatze, der ihm höflich aber mit würdevoller Distanz die Hand entgegenstreckte. Mit der anderen Hand bedeutete er den allgegenwärtigen Elfen, sich unauffällig in den Hintergrund zu entfernen und weitere Anweisungen abzuwarten.

„Goedendag, Mijnheer, mein Name ist Willem de Vries, pardon, aber mein Deutsch is niet so gut.“

„Guten Tag, Christian Lockernagel aus Frankfurt.“ Kurzes Schweigen, ein irritierter Blick. Wieso war der Geschäftsführer Niederländer? „Ich interessiere mich für Lehr- und Kulturbücher der Demokratischen Volksrepublik Korea, die ich sammle und in meiner Stadt weiterverkaufe. Außerdem würde ich gerne ein paar ihrer schönen Bilder für eine Ausstellung mitnehmen.“

„Bitte, schauen Sie sich nur um. Dort drüben haben wir eine Serie von jungen Brigadistinnen, die für ihre harte und ertragreiche Feldarbeit gerade ihre Orden von einem Major empfangen.“ Kein Lächeln, nur verhaltene Höflichkeit drang aus dem Blick des Geschäftsführers, der im Vergleich zu den schwebenden Elfen wie eine starre Statue wirkte.

Lockernagel stutze. „Man sagt, es gibt in Teilen des Landes noch immer Engpässe in der Versorgung mit Lebensmitteln? Die westlichen Medien sprechen sogar von Hungersnöten. Aber ich sehe, bei ihnen siegen Fleiß und Fortschritt, weil die jungen Leute an die Überlegenheit des Systems und die Kraft ihrer Führer glauben, sich selbst aus der Not zu befreien und auch ohne westliche Hilfe….“

„Vorsicht bitte, mit politischer Propaganda haben wir in unserem Haus nichts zu tun. Wir öffnen ein Schaufenster in ein immer noch verschlossenes und wenig bekanntes Land, das im Norden über wenig fruchtbare Anbaufläche verfügt und in den vergangenen Jahren von Dürre heimgesucht wurde. Der Ertrag aus unserem Restaurant soll helfen, den Aufbau zu unterstützen.“ De Vries wirkte distanziert und belehrend fast wie ein Hochschuldozent, nur fehlte ihm dazu die nötige akademische Aura.

„Schön, schön.“ Lockernagel nickte anerkennend mit dem Kopf. „Aber ich sehe hier doch die wichtigsten Leerschriften von der Militär-Zuerst-Doktrin und der Yuche-Philosophie über die nationale und wirtschaftliche Selbstständigkeit Nordkoreas, sein eigenes sozialistisches System ohne fremde Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft aufzubauen. Wunderbar. Und dann haben wir hier noch je eine Biographie von Kim Il Sung und Kim Jong Il und diese ganz neue und hervorragend aufbereitete Geschichte der Volksrepublik. Gibt es das auch in deutscher Sprache?“

„Ja, dort weiter links liegen die Schriften auch in deutscher Übersetzung. Die Geschichte habe ich nur in Englisch und Niederländisch, aber eine deutsche Übersetzung kann ich direkt über den staatlichen Verlag bestellen und ihnen nachschicken.“

„Gut, dann bestelle ich die Geschichte, nehme die drei Schriften hier und die drei großen Bilder von den Brigadistinnen, dem Nationalmuseum auf dem Diamantberg und der Silhouette der Hauptstadt. Wenn Sie sie mir bitte einpacken würden.“ Lockernagel zog ein paar Scheine aus dem Portemonnaie, bis De Vries Einhalt gebot.

„Niet doch, Mijnheer. Sie bleiben noch bis heute Abend , da haben unsere Damen nochmal einen besonders schönen Auftritt….“

„Nein, ich fürchte, ich muss noch am späten Nachmittag zurückfahren.“

De Vries schaute geschäftig auf seine Armbanduhr. „Und ich muss Sie jetzt leider auch alleine lassen. Wenn sie den Serviererinnen bitte folgen mögen. Man wird Ihnen unten noch einen Kaffee servieren.“

Lockernagel lächelte verlegen. Bitte, Herr De Vries, ich möchte mich noch ein wenig hier oben umschauen.“

„Nein, tut mir leid, ich muss ein wichtiges Telefonat erledigen und später in die Stadt fahren. Es hat mich sehr gefreut. Tot ziens –wie sagen Sie?- auf Wiedersehen.“ De Vries streckte ihm wenigstens jetzt die Hand zur Verabschiedung entgegen und enteilte mit einer angedeuteten höflichen Verbeugung nach draußen.

Sogleich befand sich Lockernagel wieder in der reizenden Gesellschaft der Elfen, die ihm mit liebevoller Bestimmtheit den Weg wiesen. Gemeinsam gingen sie durch den schmalen Korridor Richtung Fahrstuhl. Lockernagel fragte nach einer Toilette. Der Blick der Damen war liebevoll und bestimmt. „Downstairs, Sir.“

Die Aufzugtüren hatten sich soeben geschlossen, als Lockernagel aufgeregt in seine Hosentasche griff.

„I forgot something. Ich glaube, ich habe oben etwas vergessen.“

Die beiden Damen lächelten ihn und sich gegenseitig an und taten, als würden sie nichts verstehen. Im Parterre angekommen öffneten sich die Türen, und die Damen gingen voran, um den Weg zu weisen. Doch kurz vor dem Restaurant vernahm Lockernagel plötzlich ein lautes Zischen und aufgeregte Schreie. Ein Mann mit weißer Kochmütze stürmte hinaus und redete auf die Elfen ein, die ihm aufgeregt folgten. Kein Zweifel, dachte Lockernagel, ein Küchenunfall. Dann sah er seine große Chance. Für einen Moment war er unbeobachtet- fast jedenfalls. Denn hinter dem Lüftungsschacht glaubte er eine Kameralinse zu entdecken und kauerte sich vorsichtig an die Wand. Schnell lief er zurück und sprang in den Fahrstuhl hinein, bevor sich die Türen wieder schlossen. Er drückte den ersten Stock. Oben angekommen, sicherte er kurz und ging zurück in den Ausstellungsraum. Nein, hier hatte er nichts vergessen. Dann lukte er um die Ecke, wo die Tür zum Büro des Chefs offenbar unbemerkt einen Spalt offenstand. Er hörte, wie de Vries telefonierte. Und zwar in einer Sprache, die ihm fremd und vertraut zugleich vorkam. Lockernagels Mutter kam aus der Gegend von Emden, von der Großmutter kannte er noch etwas Plattdeutsch. Und eben diese Sprache glaubte er nun in einer seltsamen Mischung mit Englisch und Niederländisch zu hören.

„Okay, Baas. Dann lat ons mal kieken. All right. De Heer ut Frankfurt is gerade benieden, mal lekker Koffie drinken. Nee, alles okay, hij verstaat niets, wat hier gebeurt –ich meine, er versteht gar nix. Onze Girls laten hem niet uit die Augen.“

Lockernagel drehte erschrocken den Kopf herum, vergewisserte sich noch einmal, dass ihn niemand beobachtete, und näherte sich dann vorsichtig dem Aufzug. Er hörte ein leises Surren des Motors, woraus er folgerte, dass der Aufzug gerade nach oben fuhr. Doch dann ging die Tür auf, ein stämmiger Bodygard in schwarzem Anzug lächelte ihm entgegen – und bevor er richtig erfassen konnte, wie ihm gerade geschah, wurde er auch schon mit einem Handkantenschlag gepackt und hineingezogen. Der muskulöse Mann hielt ihn so fest umklammert, dass es ihm fast die Luft abdrückte, und stieß ihn mit einem heftigen Tritt aus der Tür.

„Out!! And no police!“, schrie er ihm hinterher.

Damit wurde die Tür zugeschlagen.

Lockernagel war immer noch ganz benommen. Er schaute in die Tüte mit den Büchern und Bildern, die er immer noch in der Hand trug, und versuchte erst einmal, einen klaren Gedanken zu fassen. Plötzlich hörte er ein Motorengeräusch im Hintergrund. Er schaute auf die Uhr. Verdammt, schon so spät. Um diese Zeit wollte ihn Tempelaers mit dem Auto abholen. Plötzlich wurde ihm klar: Die mussten alle irgendwie unter einer Decke stecken. Instinktiv rannte er los, übersah auf der Straße einen anderen Wagen, der ihn um ein Haar erfasst hätte. Er rannte weiter, stieß auf den Hintereingang eines Gemeindehauses, öffnete die Tür und lief weiter bis in den Gemeindesaal.

„Sorry, wo geht es zur Straßenbahn in die Innenstadt? Tram to Centrum, Centraal Station?“

Eine der alten Damen, die gerade einen Kaffee für Bedürftige aus der großen Kanne gezapft hatte, wandte sich erschrocken um. „Tram is steeds rechtdoor, Mijnheer. Immer geradeaus.“ Dabei zeigte sie den Straßenverlauf vom Ausgang aus an und meinte flüsternd zu einer Kollegin: „Een Duitser van dit noordkoreaanse restaurant.“

Lockernagel rannte, wie vom Leibhaftigen getrieben, glaubte einige Meter hinter ihm immer noch den wohl vertrauten Motor der Honda zu hören. Endlich konnte er eine Straßenbahn am Horizont erkennen und irgendwann auch den Namen der Endstation in der westlichen Gartenvorstadt: „Dijkgrafplein“, zu deutsch „Deichgrafplatz“. Lockernagel musste an seinen alten Deutschlehrer denken, der gebürtig aus Husum stammte und im Lehrerkollegium dadurch auffiel, dass er Theodor Storms „Schimmelreiter“ den Vorzug vor Goethes „Erlkönig“ gab und dabei vor allem die Rolle des Hauke Haien von seinen Schülern charakterisieren ließ.

Lockernagel warf einen letzten Blick in die moderne gartenstadtähnliche Landschaft, bevor er in die Bahn stieg, die augenblicklich anfuhr. Es dauerte keine drei Stationen, ehe der neue Fahrer scharf bremste, mit der flachen Hand auf das Schaltpult haute und ein durchdringendes „Godverdomme“ durch den Wagen fluchte. Nicht zu Unrecht, wie Zorbas augenblicklich feststellen konnte. Nur um ein Haar wäre er mit einem rücksichtslosen Auto zusammengestoßen – ein Taxi in Form eines Kombis mit abgedunkelten Scheiben, das sich wenige Meter vor ihm einfach die Vorfahrt genommen hatte.

„Na, das kann ja heiter werden.“ Diesmal blieb Lockernagel seinem Vorsatz treu, nur leise und nicht laut zu denken. Nicht so der Straßenbahnfahrer, der noch so manches Mal seine Fahrgäste per Lautsprecher aufforderte, die Türen nicht zu früh zu öffnen und nicht zu spät zu schließen.

Der Fahrer hatte sich offenbar in Fahrt geredet, denn er schien an Geschwindigkeit zu gewinnen, je mehr er sich der Innenstadt näherte. Lockernagel blickte aus dem Fenster, glaubte das besagte Taxi immer wieder zu erspähen. Oder war es doch ein anderes Taxi? Irgendwie sahen die ja doch alle gleich aus. Schon passierte die Tram den Westmarkt mit Blick auf die Westerkerke. In der Nähe dieser Kirche, genauer gesagt in der Prinsengracht, stand das Anne-Frank-Haus, sozusagen das Amsterdamer Pendant zur Ganghofer Straße 24 im Frankfurter Dichterviertel, wo die kleine Anne aus dem Dornbusch ihre Kindheit verbrachte. Die Türen gingen wieder zu, die Bahn ratterte weiter, überquerte Brücken und Kanäle, bevor sie eine Station vor der Endhaltestelle stoppte. Hier erblickte er endlich sein wohlbekanntes Taxi, dem ein bärtiger Fahrer entsprang, um die übrigen Türen zu öffnen. Zum Vorschein kamen nicht weniger als sieben Leute, besser gesagt fünf Gestalten, gekleidet in dunkle Hosen, blaue Einheitsjacken und bedeckt mit roten Einheitskappen. Die Gestalten wirkten klein bis mittelgroß, eher etwas grazil und bewegten sich wie im Gleichschritt hinter einem etwas größeren und stämmigeren Typ her, der offenbar ihr Anführer war. Lockernagel schüttelte den Kopf, verängstigt und zugleich erheitert. Endlich hatte die Tram ihr Ziel erreicht, die Centraal Station, den Amsterdamer Kopfbahnhof.

Lockernagel stieg aus und vergewisserte sich, dass ihm das Taxi nicht mehr folgte. Zumindest im Augenblick war nichts zu sehen, doch Lockernagel würde noch oft zusammenzucken, wenn ihm ein dunkler Kombi verdächtig nahe zu kommen schien. Er versuchte sich die letzten anderthalb Stunden vor der Rückfahrt einfach treiben zu lassen. Er schlenderte auf die alte Stadtkirche zu, genannt Oude Kerk und blickte geradezu in eines jener rot beleuchteten Schaufenster, in dem eine braun gebrannte exotische Schönheit kurz und einladend ihr Oberteil öffnete. „Andere Länder, andere Sitten“, murmelte er vor sich hin und ging etwas verirrt weiter, vorbei an mehreren Coffee Shops, ehe er eine schmale Gasse durchquerte, in der gleich mehrere wohl geformte Damen aufdringlich ihre Türen aufrissen. Keine Frage, das war Amsterdam. Lockernagel lief noch die ein oder andere Runde, ehe er mit seinen Büchern und Bildern zum Busbahnhof zurückkehrte, um den vorgesehenen Bus nach Frankfurt zu nehmen. Alleine hinter dem europäischen Busunternehmen witterte er noch keine verdächtigen Komplizen. Und einmal zurück in Frankfurt würde er sich ohnehin sicher fühlen.

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Nach der eher schlecht wie recht eingeschobenen Mittagspause und einigen Ermittlungstelefonaten mit den Landes- und Bundesbehörden sowie den städtischen Polizeirevieren summte Pokroffs Smartphone, und die SMS von Liebhardt klang hoffnungsvoll: Die ein oder andere verwertbare Spur des Anschlags auf Wolf hatte man am Tatort Eiserner Steg offenbar sichern können. Zuversichtlich ging Pokroff hinunter ins Labor, wo ihn Liebhardt, der Experte für die Spurensicherung in Empfang nahm.

„Schauen Sie bitte, Herr Pokroff, wir konnten auf der Brücke Fußabdrücke mit Resten von Gartenerde sicherstellen. Mittlerweile liegen die Ergebnisse der Untersuchungen vor.“

„Und? Wo kommen die Abdrücke her?“

„Wahrscheinlich aus einer Kleingartenanlage, die sich hier im Umfeld der Stadt befinden muss. Wahrscheinlich aus einer etwas hügeligen Gegend im Nordosten der Stadt, Richtung Berger Hang, wenn Sie mich fragen. Denn an den dortigen Hängen kommt der kalkhaltige Boden für diese Art von Erde vor.“

„Hm, aber wo genau könnte das sein?“ Pokroff sah sich die Erdproben mit prüfendem und auch etwas skeptischem Blick an. „Gibt es da keine genaueren Hinweise?“

„Doch, da ist noch etwas.“ Liebhardts Augen leuchteten. „Aber nur für Leute, die sich in der germanischen Mythologie auskennen.“

„Lassen Sie bitte diese Scherze, Liebhardt.“ Pokroff sah seinen Kollegen missbilligend an. „Wir haben hier einen Mordanschlag aufzuklären, der womöglich auch mit unserem Mord im Zeilsheimer Wäldchen in Zusammenhang steht. Also machen Sie es nicht so spannend.“

Liebhardt holte einen zweiten Beutel hervor, in dem sich eine Anstecknadel mit einem seltsamen Zeichen befand. „Hier, das muss einer von den Tätern kurz vor der Main-Neckar-Brücke verloren haben. Oder Wolf hat es dort fallen lassen, um einen Hinweis auf das Quartier seiner Kumpels zu geben.“

„Hm, sieht aus wie eine Rune, die möglicherweise spiegelverkehrt ist. Könnte aber auch ein Geheimzeichen oder ein Wappen sein.“

„Vermutlich eher letzteres. Ich würde genauer gesagt auf Bornheim oder Seckbach tippen. Die sehen sich beide recht ähnlich. Die grüne Farbe und die beiden Haken rechts oben und links unten sprechen jedoch eindeutig für Seckbach. Dort gibt es auch eine Kleingartenkolonie, die dieses Wappen im Logo führt. Und die Erde wiederum passt ziemlich gut zum Lohrberg.“

„Na, das ist doch mal eine hoffnungsvolle Nachricht. Danke erst mal, wirklich gute Arbeit, Liebhardt.“

Mit einen nunmehr gefälligen Nicken verabschiedete sich Pokroff und ging hinauf in sein Büro. Er bat seine Sekretärin Claudia Diemer, die seit kurzem ihre neue Stelle angetreten hatte, um einen Kaffee und ließ Zorbas und von Erbenstein hineinkommen.

„Na, Waldemar, was haben unsere Spezis von der Spurensicherung zutage gefördert?“, fragte Christiane von Erbenstein neugierig.

„Hier, seht euch das an. Auf der Brücke wurden Erdproben und ein verlorenes Abzeichen gefunden, die offenbar zu den Kleingartenanlage am Lohrberg in Seckbach gehören. Wir müssen das Gebiet dort mit der Spusi durchkämmen und wenn es sein muss, jeden Stein umdrehen. Ich bin sicher, die Jungs haben dort oben so eine Art Quartier.“

„Ja, das kann durchaus sein.“ Zorbas überlegte einen Moment. „Letztes Jahr hatten wir eine Polizeikontrolle in Sachsenhausen, wo ein Junge mit so einem Zeichen auf seinem T-Shirt auffiel. Der Streifenpolizist dachte wohl, es würde sich um eine SS-Rune oder etwas Ähnliches handeln. Doch dann konnte der Junge glaubhaft erklären, dass er nur das Wappen seines Stadtteils im Logo seines Kleingartenvereins trug.“

„Aha. Und weißt du auch, wo diese Kleingartenanlage liegt?“

„Im östlichen Seckbach, oben auf dem Lohrberg, schon an der Grenze zu Bergen-Enkheim.“

„Na, los, worauf warten wir dann noch?!“ Pokroffs Stimmlage war augenblicklich in Kasernenhofton umgeschlagen. Zorbas und von Erbenstein wussten bereits, was das zu bedeuten hatte. „Eye, Sir.“ Die Bestätigung der dienstlichen Anordnung kam wie aus einem Mund. Doch Zorbas wurde sogleich in seinem Eifer gebremst.

„Halt, mein Freund! Einer muss ja hier die Stellung halten. Du telefonierst mit Wagner nochmal sämtliche Polizeireviere ab, ob sich sonst noch irgendwo verdächtige junge Männer oder unsere gesuchte Asiatin gefunden haben. Und noch was.“ Pokroff nahm einen Zettel vom Abrissblock und kritzelte eine mehrstellige abstrakte Kombination von Buchstaben und Zahlen darauf. „Mit diesem Code kannst du im Zentralcomputer sämtliche internen Berichte und Einsatzpläne im Raum Frankfurt abrufen, die dir mündlich so schnell niemand erklären kann. Klar, dass das sonst den oberen Dienstgraden vorbehalten ist. Aber da ich nun mal selbst an die Front muss, darfst du ausnahmsweise ein bisschen Chef spielen. Aber von mir hast du den Code natürlich nicht erhalten.“

Zorbas zuckte indifferent mit den Achseln. Man sah seiner Miene an, dass sich die Enttäuschung über den entgangenen Einsatz in den Seckbacher Gärten mit der heimlichen Freude über den vorübergehenden „Chefposten“ im Präsidium vermischte. Zorbas bewahrte Haltung, kicherte jedoch in sich hinein, als Pokroff seinen Kopf wegdrehte. Die beiden Kommissare und Liebhardt wollten soeben das Büro verlassen, als ihnen die Sekretärin Claudia Diemer hinterherrief. „Halt, warten Sie, Chef! Da ist noch ein Anruf für Sie in Leitung 2.“

„Dafür hab ich jetzt keine Zeit. Kann das nicht bis nachher warten?“

„Oh, ich fürchte nein. Es ist das Bundeskriminalamt. Und es ist offenbar sehr dringend.“

„Na, dann geben Sie schon her.“ Noch bevor Diemer das Gespräch in Pokroffs Büro durchstellen konnte, riss der Kommissar der verdutzen Sekretärin den Telefonhörer aus der Hand.

„Hauptkommissar Pokroff hier.“

„Klemens Krösch vom Bundeskriminalamt. Wir kennen uns, und Sie wurden mir zugeteilt.“

„Moment mal, wenn überhaupt, dann wurden Sie mir zugeteilt.“ Pokroff räusperte sich mit leicht verärgerter Stimme.“

„Lieber Herr Kommissar, lassen wir doch bitte die Eitelkeiten. Ich bin derzeit noch dienstlich unterwegs und werde Ihr Team ab übermorgen unterstützen. Sie wissen, dass ich ostasiatische Sprachen studiert und ein paar Jahre in China und Südkorea gearbeitet habe.“

„Na prima, dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Aber Sie hätten mich ruhig informieren können, wenn Ihre Leute bereits in den Fall eingreifen und einen Deutschkoreaner mit Namen Kim Schmidt zuhause aufsuchen. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Wir haben noch einen Polizeieinsatz auf dem Lohrberg. Auf Wiederhören.“

Pokroffs Ton klang nicht gerade freundlich, als er auflegte. Derweil versuchte Christiane von Erbenstein die Sekretärin zu trösten. „Nein, liebe Frau Diemer. Das vorhin hat er bestimmt nicht unhöflich oder gar böse gemeint. Aber manchmal hat unser Chef eben so seine Launen. Vor allem, wenn er unter Strom steht.“

Angespannt fuhr von Erbenstein mit Pokroff und Liebhardt über den Alleenring. Der Hauptkommissar wies per Funk die zuständigen Polizeireviere an, die umliegenden Gartenhäuschen am Lohrberg abzusuchen – zwar effektiv und erfolgreich, aber auch nicht so aufsehenerregend, dass Seckbach und Bergen-Enkheim in helle Aufregung versetzt würden. Wie immer war der Verkehr dicht, forderten Baustellen und Ampelpausen ihren Tribut. Pokroff konnte nur hoffen, dass die Streifenbeamten vor Ort rechtzeitig ihren nötigen Einsatz leisten würden, ehe er mit seiner Mannschaft hinzukommen konnte.

Der Kommissar atmete erst mal durch, als er am Horizont den Turm der Johanniskirche sah. Die „Zwiwwelkerch“, das war Bornheim, das war wenigstens dem Namen nach das lustige Dorf, wo die Leute noch ihre Kerb, ihre Fassenacht und ihre Sportfeste feierten, ohne sich von der großen bösen Welt der Banken, Börsen und Bordelle allzu sehr die Laune verderben zu lassen. Doch dann hörte er sein Funkgerät piepen und wurde schnell in die Realität zurückgeholt. Es war Wagner.

„Chef, soeben ist ein Anruf vom Polizeirevier 1 eingegangen. In der Drogenhilfe der Niddastraße brennt förmlich die Hütte. Und draußen ist die ganze Szene außer Rand und Band.“

Pokroff wurde sofort hellhörig. „Wieso, was ist denn da schon wieder passiert?“

„Eine Abhängige mit Namen Lucy ist da völlig überdreht und aufgelöst hineingerannt. Sie meinte nur, so ein komischer Dunkelhaariger mit Dreitagebart habe ihr gestern wohl überdosierte Ecstasy-Tabletten angedreht. Dann ist sie zusammengebrochen und musste ins Krankenhaus. Aber Lebensgefahr besteht wohl nicht. Inzwischen müssen die Kollegen wohl das Gelände um die Drogenhilfe räumen, damit die Lage nicht außer Kontrolle gerät. Dafür konnten wir den besagten Dealer an der Taunusanlage schnappen. Er heißt Marcel Engelthal.“

Bei diesem Namen leuchteten Pokroffs Augen auf. Endlich ein Erfolgserlebnis! „Danke, sehr gut, und mit der Lage vor Ort kommen die Kollegen schon klar“, antwortete er rasch. Denn eben summte sein älteres Diensthandy mit einer SMS von Zorbas, er werde gleich eine E-Mail mit Karte von der „Aktion Wallgraben“ auf sein neues Smartphone mit extra großem Display bekommen. Das war auch nötig, denn dieses Privatgerät hatte Pokroff meistens abgeschaltet. Der Hauptkommissar fuhr es hoch und empfing auf dem Display aus dem Polizeicomputer den Frankfurter Stadtplan mit markierten Punkten an der Staufenmauer, dem Anlagenring sowie einigen Bahndämmen und –brücken. Eben dort, wo die Polizei Treffpunkte von kleinen Drogendealern, Wohnsitzlosen, Graffitisprayern, Occupy-Aktivisten oder sonstigen potentiellen Ruhestörern samt Verstecken und Rückzugsmöglichkeiten in abbruchreifen Häusern und Türmen verzeichnete. „Sehr gut und strategisch wichtig“, simste er Zorbas zufrieden zurück.

Von Erbenstein fuhr gerade über die Autobahnbrücke Richtung Seckbach, als der Hauptkommissar eine hoffnungsvolle Botschaft über Funk erhielt.

„Herr Pokroff, es sieht so aus, als haben wir die passende Gartenhütte gefunden. Die Lage und Beschreibung passen recht genau, aber vorgefunden haben wir nur eine ältere Frau, die uns völlig verzweifelt geöffnet hat und von drei jungen Männern berichtet, die sich hier bis vor kurzem dort noch versteckt hielten.“

„Sehr gut. Habt ihr ihren Namen?“

„Ja, sie heißt Anna Bergmann.“

„Anna Bergmann?“ Diesen Namen musste der Hauptkommissar erst mal verdauen. Auch seine Kollegin von Erbenstein schaute ihn mit großen und erstaunten Augen an. Was hatte die engagierte Gemeindehelferin und Friedensaktivistin aus Rödelheim mit drei Rowdys von Seckbach zu tun, die einen ihrer reuigen Kumpanen nächtens in den Main werfen wollten? Pokroff holte kurz Luft. „Alles klar, wir sind in fünf Minuten da. Dann werden wir selbst mit ihr reden.“

Als Pokroff, von Erbenstein und Liebhardt das Gartenhaus betraten, sahen sie eine alte, gebrochene und in sich zusammengesunkene Frau auf einem Schemel sitzen und leise in sich hineinweinen. Sie wollte einfach nicht fassen, dass etwas geschehen war, das nicht sein konnte, weil es nicht sein durfte. „Wir haben seit langem einen Zweitschlüssel für dieses Haus. Karl Dellbrücks Eltern sind unsere Freunde. Aber gell, mein Sohn, der Uwe, der hat doch nix damit zu tun, oder? Der war mit dem Wolf viel besser befreundet als mit dem Siggi…“

Pokroff nahm die besorgte Mutter scharf ins Visier. „Ich hätte gewünscht, dass wir uns unter glücklicheren Umständen wiedersehen. Aber erst mal langsam. Aufgrund der Täterbeschreibungen von Zeugen konnten wir bislang lediglich Siegfried, Knut und Ansgarl sicher identifizieren. Und Ihr Uwe war nun auch dabei?“

„Nein, das heißt ja, aber doch nicht richtig. Und auch nicht bis zum Schluss. Der ist bis zur Galluswarte mitgelaufen und dann gegangen, weil es ihm angeblich schlecht war. Aber in Wahrheit wollte er da nicht mitmachen. Aber er konnte Wolf auch nicht helfen, weil er alleine gegen die anderen drei nicht angekommen wäre. Aber statt zur Polizei zu gehen, hat er Siggi heute Mittag angerufen und ihm gesagt, dass ich Sie an Gründonnerstag kennengelernt habe, Herr Pokroff. Und dass Sie irgendwann die Adresse rausfinden würden. Was passiert jetzt mit Uwe?“

„Das kommt ganz drauf an, wie weit er an diesem Abend wirklich beteiligt war und wie er sich gegenüber den Ermittlungsbehörden nun verhält. Wo sind die Jungen jetzt?“

„Ich weiß nicht, wie soll ich sagen. Wenn ich weiß, dass dem Uwe nix passiert…“

„Wo sind sie jetzt?“ Pokroff blickte Anna Bergmann mit glühenden Augen an. „Wenn Sie ihrem Sohn wirklich helfen wollen, dann sollten Sie ihn so schnell wie möglich vom schädlichen Einfluss der anderen vier befreien.“

„Wieso der anderen vier?“

„Weil Marcel Engelthal bestimmt auch mit zur Gang gehört, auch wenn er an besagtem Abend wohl nicht beteiligt war. Habe ich Recht?“ Pokroff vertraute ganz auf seine Intuition, als er diese Vermutung aussprach. „Den haben wir allerdings bereits verhaftet.“

Anna Bergmann zuckte ratlos mit den Schultern

„Was hatten Uwe, Marcel, Ansgar und Knut für ein Geheimnis, das die Polizei von Wolf nicht erfahren durfte?“

„Das weiß ich nicht.“

„Aber wir werden es bald wissen. Irgendwie gehörten die vier zu einer Gang, die die Anstecker des Kleingartenvereins als Erkennungszeichen missbrauchten, das man sich tätowieren kann.“ Pokroff zeigte kurz das sichergestellte Abzeichen und schaute sich erneut in der Hütte um. „Die Spuren von aufgerissenen Tütchen und Packungen sind unübersehbar. Daran kann man erkennen, was die vier so trieben. Und ein paar Blutflecken von irgendwelchen Experimenten mit Spritzen lassen sich bestimmt auch noch finden. Klar, dass die vier..“

„Also, die sind keine Nazis, auch wenn die mit tätowierten Runen herumlaufen.“

Pokroff seufzte tief. Stellte sich die Frau nur so naiv und ahnungslos, oder war sie es wirklich? „Ich weiß, das ist nur das Seckbacher Stadtteilwappen. Marcel war vielleicht noch neu in der Runde und trug deshalb noch kein solches Abzeichen. Wie auch immer, diese Embleme sind natürlich nicht strafbar. Aber das allzu extensive Konsumieren oder Weitergeben gewisser Drogen hingegen schon.“

Anna Bergmann zuckte abermals mit den Achseln.

„Nun gut, wir werden die vier selbst zur Rede stellen. Wo sind sie, zum Kuckuck? Reden Sie endlich!“

„Keine Ahnung.“

„Das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind seit gestern Nacht verschwunden, denn die im Kompostmüll versteckten Packungen gehören zu Batterien, wie man sie typischerweise für Taschenlampen verwendet. In die Rödelheimer Kleingärten können sie kaum geflüchtet sein, aber Sie haben telefoniert, als die Kollegen von der Streife reinkamen.“

Anna Bergmann versuchte, jegliche Regung zu unterdrücken, aber die Angst und das Zittern in ihren Knochen waren nicht zu übersehen.

„Verdammt nochmal , reden Sie, wenn Sie Ihrem Sohn helfen wollen. Sonst müssen wir sein Handy orten lassen.“

Anna Bergmann begann wieder zu schluchzen. „Im, im… ich weiß nicht und ich kann nicht. Mein Sohn würde mich dafür hassen.“

„Er wird Ihnen später dafür dankbar sein, wenn wir ihn dank Ihrer Hilfe jetzt finden und vor weiterem Unheil bewahren“, gab Pokroff zu bedenken.

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Es war gegen 14 Uhr, als Irina mit ihrem Fahrrad die Idsteiner Straße entlangfuhr. Den beiden Polizeiwagen am Straßenrand schenkte die junge angehende Amazone nur einen kurzen Moment Beachtung. Ebenso dem freundlich lächelnden Autofahrer, der ihr entgegenkam und in seinem silbergrauen BMW so unauffällig wirkte, dass sie ihn allen Warnungen zum Trotz für einen normalen Geschäftsmann oder Anwohner aus einer Stadtvilla im Europaviertel hielt.

Die junge Russin war in Gedanken längst am Zielort, wo sie ihren Job zu erledigen und sich dabei auch nicht den geringsten Fehler erlauben durfte. Denn sie wollte ihre neue Freundin Tanja nicht enttäuschen. Sie kannten sich kaum zwei Tage lang, da wusste Irina schon, dass sie ihr neues großes Vorbild gefunden hatte. Tanja kam aus Jakutsk, irgendwo gefühlt ganz in den nordöstlichen Weiten Sibiriens, wo die Menschen schon sehr asiatisch und manchmal auch etwas, pardon, schlitzäugig aussahen. Irina sprach inzwischen ziemlich gut Deutsch, hatte aber gelernt, dass man mit gewissen sensiblen und vielleicht nicht ganz so korrekten Begriffen sehr vorsichtig umgehen musste. Doch „Schlitzohr“, dieses deutsche Wort mochte Irina sehr. Es passte zu Tanja, die stets clever und dabei auch gerissen war, sich jeder Situation spontan anzupassen wusste. Und dazu sprach sie mehrere Sprachen, neben Russisch, Deutsch und Englisch freilich auch Jakutisch, das dem Türkischen so ähnlich sein soll, dass man sich gegenseitig beim langsamen Zählen von eins bis zehn durchaus verstehen kann. Sogar etwas Koreanisch sollte Tanja angeblich beherrschen- immerhin haben Russland und die Demokratische Volksrepublik Korea sogar ein gemeinsames Stück Grenze, wenn auch gerade mal 17,3 Kilometer am Dreiländereck mit der Volksrepublik China.

Diese Tat – und Kampfeskraft, gepaart mit Disziplin und einer ordentlichen Portion Scharfsinn und Kombinationsfähigkeit war genau das, was sie brauchte. Gut, Tanja war manchmal schon fast etwas zu perfekt und tugendhaft. Etwas mehr weiblicher Charme und Liebreiz könnte auch ihr nicht schaden, dachte Irina. Aber gut, sie hatte Charisma und viel Erfolg mit allem, was sie anpackte. Und Erfolg macht ja bekanntlich auch sexy. Vor allem aber hatte sie starke Freunde, die ihr stets zur Seite standen und sogar fähig waren, sich mit gestohlenen Daten, Zugängen und Identitäten in alle möglichen Internetplattformen und sogar Polizeicomputer einzuloggen, um aktuelle Dienstberichte und Einsatzpläne auszuspionieren. Nichts mehr war sicher heutzutage, und um dies zu wissen, brauchte man kein Hackergenie zu sein.

Irina bog an der Verwaltungszentrale der Deutschen Bahn vorbei in die Europa-Allee ein und erreichte nach ein paar Minuten den schmalen staubigen Weg an der Großbaustelle nahe des Bahndamms im Europaviertel. Doch am Eingang kam ihr ein stämmiger Bauarbeiter entgegen und musterte sie mit misstrauischem Blick. So wie er aussah und eben noch mit seinen Kollegen gesprochen hatte, musste er aus Polen kommen.

„Strastwutje!“, grüßte Irina, setzte ihr freundlichstes Lächeln auf und versuchte sich samt Rad an dem stämmigen Herrn vorbeizuschieben.

„Dzien dobry!“, grüßte der Pole wenig höflich zurück. „Hier nix Weg für dich, junges Fräulein. Hier Baustelle. Gesperrt, verstanden!“

„Vor einer Stunde war der Weg aber noch nicht gesperrt. Da habe ich mit meinem Freund am Turm getroffen und meinen Schlüssel dort verloren. Ach bitte, ich muss nur schnell….“

Der Mann wollte ihr eben den Zutritt mit seinem mächtigen Körper versperren und ihr eine Standpauke halten, als er von einem seiner Kollegen weiter hinten in hektischem Polnisch zurückgerufen wurde. Irgendetwas musste mit dem Betonmischer passiert sein. Der stämmige Pole drehte sich herum, gestikulierte, versuchte wie ein kleiner Chef irgendwelche ungeschickten Anweisungen zu erteilen.

Irina sah ihre Chance gekommen und lief instinktiv weiter.

„Hey, zurück! Hier kein Weg“ Ich rufen Polizei!“, schrie ihr der Pole nach.

„Ich glaube, das ist keine gute Idee“, sagte Irina und wies mit scharfem Blick auf zwei weitere Kollegen am Rande des Bauplatzes hin. Der eine von ihnen zückte gerade seinen Geldbeutel, während der andere seinen Rucksack öffnete und eine Stange schlecht verpackter Zigaretten herauszog. Die Nummer machte Eindruck. Der stämmige Pole knurrte noch einmal böse in sich hinein, ließ die junge Russin jedoch weiterlaufen.

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Pokroff sah Anna Bergmann mit eindringlichem und glühendem Blick an, als sei ihm jeglicher Instinkt für eine sorgende aber auch eingeschüchterte Mutter völlig abhanden gekommen. „Also verdammt nochmal, wo sind die Jungen? Geben Sie uns endlich ihr Versteck preis!“

Anna Bergmann blickte den Hauptkommissar hilflos an, dann schossen ihr erneut Tränen aus den Augen. Jeglicher Widerstand schien gebrochen. „Im Rödelheimer Wasserturm.“

„Völlig unmöglich“, schaltete sich von Erbenstein ein. „Der Rödelheimer Wasserturm ist seit Jahren vermietet.“

„Irgendeiner dieser Türme im Nordwesten ist es aber“, insistierte Anna Bergmann. „Dann wahrscheinlich der bei der S-Bahnstation und der Großbaustelle bei der Messe.“

„Also der Wasserturm der Deutschen Bahn im Gallus?“, fragte die Kommissarin skeptisch nach.

„Vermutlich, ja“, schluchzte Anna Bergmann.

„Hoffen wir’s. Und noch etwas: Was hat es mit dieser Friedensinitiative auf sich, der Sie angehören?“, hakte Pokroff nach.

Anna Bergmann kramte ein Taschentuch aus ihrer Tasche hervor und trocknete ihre Tränen. „Die haben wir Ende der 80er Jahre gegründet, als die ersten Teilnehmer der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche nach der Maueröffnung in die Katharinenkirche und später auch zu uns in die Cyriakuskirche kamen. Und dann haben wir uns mehr und mehr mit gleichgesinnten Christen aus aller Welt vernetzt und zusammengeschlossen. Die modernen Medien machen’s möglich.“

„Die internationale und virtuelle Weltfriedensgemeinde, ich weiß. Bis Sie dann von der World Unity Mission übernommen wurden.“

„Auch die haben sich uns nur angeschlossen.“

Pokroff guckte die Mutter ungläubig an. „Aber wir haben allen Grund zur Annahme, dass die World Unity Mission einer evangelikalen und ziemlich charismatischen Religionsgemeinschaft aus Südkorea angehört oder ihr zumindest nahesteht. Wissen Sie darüber Näheres?“

Anna Bergmann seufzte. „Das möchte ich nicht ausschließen. Aber jeder in unserer Bewegung ist in seiner Herkunft und in seinem Bekenntnis frei. Wichtig ist uns nur, dass er unsere Ziele unterstützt.“

„Und wie sieht es mit Park Il Sung aus, den wir heute morgen tot im Zeilsheimer Wäldchen aufgefunden haben? Gehörte er auch dieser Bewegung an?“

„Ja, aber der ist schon vor längerer Zeit ausgetreten, glaube ich. So genau weiß ich das nicht.“

„Hatte Herr Park Feinde in dieser Organisation?“, fragte von Erbenstein.

„Keine Ahnung, viele Freunde hatte er wohl nicht.“ Anna Bergmann schaute weg und versuchte die Gunst des Augenblicks zu nutzen, als sie merkte, dass sich die Tür öffnete.

„Sie glauben nicht, was ich gefunden habe“, platzte Liebhardt dazwischen. „Da sind Fingerabdrücke an der Wand, die mit ziemlicher Sicherheit zu einer kleinen asiatischen Hand passen. Da muss jemand gestolpert sein und sich abgestützt haben.“

„Sehr gut, Liebhardt“, lobte Pokroff. „ Wir werden die Kollegen im Gallus informieren und uns auf den Weg zum Wasserturm machen. Langsam und unauffällig, die laufen uns bestimmt nicht davon. Und wir sprechen uns später wieder, Frau Bergmann. Ich muss Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten.“

„Sie sagt uns nicht die volle Wahrheit“, insistierte der Hauptkommissar auf der Autofahrt zurück. „Vier junge Leute, unsere Morde oder Mordanschläge, Drogen und Korea? Wie passt das zusammen? Es muss da einfach eine Verbindung geben.“

Christiane von Erbenstein nickte wortlos, offenbar fiel ihr auch keine passende Erklärung ein.

Irina näherte sich derweil wieder etwas langsamer und behutsamer der Treppe, die hinunter zur Eingangstür am Wasserturm führte. So ruhig, wie das denkmalgeschützte Industriebauwerk neben der Gleisanlage lag, konnte sie sich nicht wirklich vorstellen, dass sich da drinnen jemand verkrochen hatte. Vorsichtig hielt sie ihr Ohr an die Tür, drückte die Klinke auf und ab und versuchte sie leicht an sich heranzuziehen. Besonders schwer fühlte sich das nicht an. Wahrscheinlich war es so, wie Tanja es vorausgesehen hatte: Die Tür zum Wasserturm war von der Bahn gar nicht oder zumindest nur ungenügend gesichert worden, was einer der Jungs schon vor längerer Zeit beobachtet hatte. Deshalb hatte es auch genügt, das Schloss mit einem Vierkantschlüssel, den man in jedem besseren Baumarkt kaufen konnte, zu öffnen und wieder zu verschließen. Ein solches Werkzeug packte nun auch Irina aus ihrer Jackentasche aus, steckte es mit viel Fingerspitzengefühl ins Schloss, drehte ein paar Mal geschickt hin und her, bis sich die Tür aufdrücken ließ.

Der Wasserturm war das einzige denkmalgeschützte Bauwerk des ehemaligen Güterbahnhofs, das immer noch etwas verlassen und mutterseelenallein in der wachsenden Stadtlandschaft des modernen Europaviertels herumstand. Irgendwie hatte dieses trutzige Bollwerk der Industriegeschichte offenbar den seltsamen Charme eines Rapunzelturms, was immer wieder Fantasten und alternative Träumer anzog: Erst entstand dort die abenteuerliche Idee, ähnlich wie bei einem Turm der Nürnberger Stadtmauer einen magischen Zauberturm einzurichten. Was abgesehen von astronomischen Umbaukosten auch ein Problem des Brandschutzes wegen einer zweiten, externen Feuertreppe war. Dann entdeckten alternative Künstler und Designer das Gemäuer, wollten dort Obdachlose einquartieren, planten kuriose Events- bis es den Eigentümern dann doch zu bunt wurde und sie das Gelände um den Turm absperrten. Alleine der Ortsbeirat 1, das zuständige Stadtteilparlament, tüftelte immer noch weitere Ideen aus, wünschte sich Ausstellungsräume zur Frankfurter Bahn- und Industriegeschichte, wollte das Gelände in der Nachbarschaft zu neu geplanten Hochhäusern durch eine großzügige Grünanlage mit geeigneter Bepflanzung und Durchwegung neu erschließen. Entsiegelung, Begrünung, Schwammstadt- das waren schließlich die wirklich wichtigen Zauberworte in einer dicht bebauten Großstadt, die sich durch den Treibhauseffekt immer weiter aufheizte.

Auch drinnen im Wasserturm schien es zunächst still zu sein. Rechts von der Wendeltreppe, die in die erste Etage führte, standen zwei leere Korbflaschen, Billigrotwein aus Italien oder Spanien, der offenbar dabei half, die langen Stunden in diesem trostlosen Versteck besser zu überstehen. Irina sah sich etwas irritiert um und wollte schon wieder umkehren, als sie endlich zwei laute Stimmen und einen polternden Holzstuhl hörte. Ganz so, als ob da oben jemandem gerade eine Sicherung durchgebrannt wäre. Irina wollte soeben die Klinke von innen öffnen, als sie Schritte hörte und kurz darauf einen blonden Hühnen die Treppe herunterkommen sah.

„Halt, stehen bleiben! Wohin des Wegs, schöne Frau? Ich glaube, du hast dich in der Adresse geirrt.“ Langsam schritt er auf sie zu, die blauen Augen, die eigentlich schön anzusehen waren, drückten nun nur noch eine starre Kälte aus. Irina war vor Schreck so gebannt, dass sie sich nicht traute, die Tür zu öffnen und einfach davonzulaufen.

Ihr Gesichtsausdruck schaltete sofort von charmant lächelnd auf weinerlich jammernd um. „Murat! Wo ist Murat? Ich will sofort zu meinem Freund Murat!“

Der Blonde grinste und fuhr sich mit der Hand durch das gegelte Haar. „Wer ist Murat? Den gibt’s hier nicht. Ich bin nur der Kurti.“

„Ich suche meinen türkischen Freund. Wir sind hier verabredet. Murats Eltern sind sehr streng. Sie würden ihm nie erlauben, sich öffentlich mit einem russischen Mädchen zu treffen. Murats Familie ist sehr religiös, sie gehen alle in die Taqua-Moschee…“

„In die Taqua-Moschee? Dahin gehen doch nur die Marokkaner, soviel ich weiß. Bist du wirklich alleine?“ Kalle streckte seine Hand aus, Irina hielt sich mit der linken Hand zitternd an der Türklinke fest. Eben wollte er sie an der Taille packen und an sich reißen, als er von oben ein gellendes „Finger weg!“ hörte. Jemand schien Kalle zurückzupfeifen, sie konnte aber nicht verstehen, was er sagte.

Noch einmal drehte sich Kalle um: „Los, hau ab! Und wenn du draußen die Bullen siehst, dann mach ihnen gefälligst schöne Augen und lenke sie ab. Ist das klar?!“

Irina nickte stumm, lief hinaus, schloss die Tür hinter sich und atmete erst mal erleichtert auf. Sie wäre geradewegs auf den staubigen Platz hinausgerannt, sah aber in letzter Sekunde ein Polizeiauto, das rechts aus dem östlichen Gallus auf der Europa-Allee vorbeifuhr. Sie duckte sich und wartete im Schutz der Treppe ein paar Minuten ab, ehe sie erneut die Allee nach beiden Seiten abschaute. Nun näherte sich ein Fahrzeug von links. Es war der graue BMW, an dem sie schon auf der Herfahrt vorbeigefahren war. Er fuhr bedeutend langsamer als der Polizeiwagen, stoppte kurz, als wollte er etwas überprüfen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Hier konnte es sich nur um einen Ermittler in Zivil handeln. Im Schutz der Treppe und der Turmwand tastete sich Irina nach rechts vor, sicherte kurz, ehe sie hinüber zur Böschung rannte und sich im Schutz der Sträucher langsam am Bahndamm emporarbeitete. Vor wenigen Monaten hatte man damit begonnen, die für die Anwohner vorgeschriebenen Schallschutzwände zu bauen. Das Fahrrad ließ sie einfach stehen. Einige Meter waren schon zugebaut, doch zwischen zwei Wandteilen fand die Russin eine schmale Öffnung, durch die sie hindurchschlüpfen konnte. Sie lief einige Minuten an den Gleisen entlang, kauerte sich ängstlich an die mit Graffiti beschmierte Mauer, als ein Regionalzug zum Glück mit reduziertem Tempo an ihr Richtung Hauptbahnhof vorbeifuhr. Kaum war er vorüber, da kam eine S 3 aus der Gegenrichtung. Man, wie konnten Züge doch so unbarmherzig laut werden, wenn man ihnen so gefährlich nahe kam! Irina ließ auch diese Bahn passieren. Inzwischen hatte sie die Station Galluswarte erreicht und sprang behände über die Gleise, wobei sie die kopfschüttelnden Blicke einiger Pendler ebenso ignorierte wie eine Durchsage, sie solle sich gefälligst von den Schienen entfernen. Irgend jemand musste sie gesehen haben. Sie jedoch konnte niemanden entdecken und beschloss, die Stimme einfach zu ignorieren.

Irina blickte auf die Anzeigentafel und stellte erleichtert fest, dass ihr die durch Verzögerungen im Betriebsablauf verursachten Verspätungen ausnahmsweise zu Pass kamen. Erst jetzt kam die S 6 Richtung Friedberg, die sicher schon längst in Bad Vilbel hätte sein müssen. Sie sprang in den dritten Waggon und suchte sich einen Sitzplatz. Alles war wie normal. Vier Stationen später beschloss sie kurzerhand, am Frankfurter Berg wieder auszusteigen. Sie benutzte die stinkende Unterführung, kam auf der anderen Seite wieder heraus und blickte auf das Bahnhofsgebäude, an dem einst schon Kaiser Wilhelm auf dem Weg zur Sommerfrische nach Bad Homburg Station gemacht haben soll. Schon seit einiger Zeit hatte die Bahn das Haus an eine Immobilienfirma verkauft, die neue zahlungskräftige Mieter suchte. Dann ging das Fenster auf und ein junger Mann mit bunter Mütze und Brustband blickte kurz der Sonne entgegen. Da fiel es ihr wieder ein. Von Kommilitonen hatte sie gehört, dass sich hier zwischenzeitig eine Studentenverbindung einquartiert hatte. Dort würde man ihr vielleicht weiterhelfen können.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie darum bitten sollte, sich hier zumindest einige Stunden lang versteckt halten zu können. Doch dann besann sie sich anders. Sie wollte schließlich noch Teil zwei ihres Auftrags erledigen. Also klingelte sie nur kurz, machte dem jungen Mann die schönsten Rehaugen, die sie in ihrem Repertoire hatte, erklärte ihm ihre Notlage, zog zwei kleine Scheine aus dem Portemonnaie, bittete nochmals kurz und heftig und konnte schließlich eines der umstehenden Fahrräder erstehen. Auf dieses schwang sie sich und radelte über Bonames und Preungesheim auf einigen Nebenstraßen zurück Richtung Innenstadt.

Etwa eine Dreiviertelstunde später schaute Irina in der Buchhandlung „Vorwärts“ vorbei, kaufte dort eine alte Kampfschrift von Lenin, bestellte auf gut Glück eine Sonderausgabe der Maobibel und fragte ganz nebenbei nach einer sonst nur schwer erhältlichen Schrift über die Yuche-Ideologie. Diese schwatzte sie dem Händler für zwei Euro ab, verwickelte ihn in ein scheinbar belangloses Gespräch über niederländische Busreisen und verabschiedete sich mit einem rehbraunen Augenzwinkern. Auch über Teil zwei ihrer Mission würde sie mit Erfolg berichten können.

***********************

Mit Blaulicht waren Pokroff, Liebhardt und von Erbenstein durch die Stadt gerast. Die Kollegen vor Ort konnten die vier jungen Männer dingfest machen, alleine eine junge Frau, die sich nach Angaben der Bauarbeiter zuvor im Wasserturm aufgehalten hatte, war flüchtig.

„Wann sind die Männer in den Wasserturm gekommen?“, wollte Pokroff von den Bauarbeitern wissen. „Sie müssen Sie doch irgendwie bemerkt haben. Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?“

„Weiß nicht, habe nicht gesehen, sind wohl irgendwann bei Nacht gekommen und haben Schloss aufgebrochen.“, antwortete der stämmige Vorarbeiter, der sich als Adam Boniek vorstellte.

Pokroff fragte sich, ob das stimmen konnte. Anna Bergmann konnte angeblich nicht genau sagen, ob die Täter nach ihrem Anschlag direkt in den Wasserturm geflohen waren oder sich noch einige Stunden in der Gartenanlage aufgehalten hatten. Um bei Nacht die Tür aufzubrechen, hätten sie sich vorher noch das nötige Werkzeug besorgen müssen. Pokroff betrachtete die Wodkaflaschen, unter denen sich ein bis zwei Flaschen unbeschrifteter selbstgebrannter Schnaps aus heimischen Gefilden befanden und erinnerte sich wieder, wo er den Namen Dellbrück, Kurts Nachnamen, schon einmal gehört hatte: Eine Sachbearbeiterin im Hauptzollamt in Darmstadt hieß so. Ob die vier wohl gedroht hatten, die Arbeiter dort als Schwarzarbeiter zu verpfeifen, falls sie sie der Polizei melden würden? Pokroff nahm die Personalien auf, redete den Arbeitern noch einmal eindringlich ins Gewissen, beschloss dann aber abzuwarten, was die Vernehmungen auf dem Präsidium ergeben würden.

Als die Beamten die drei abführten, verzogen die zunächst keine Miene. Nur Siggi Hohenstein ließ sich dazu hinreißen, den Stinkefinger zu erheben und in den Staub zu spucken. Auf dem Präsidium wurden sie getrennt voneinander in verschiedenen Büros vernommen.

„Erzähl schon, wie genau war euer Plan, ihr wolltet Wolf umbringen, weil er zur Polizei gehen und euren Irrsinn mit den Drogen endlich beenden wollte?“ Pokroff sah Siggi Rabe eindringlich an, versuchte ihn, aus seiner regungslosen Starre zu lösen.

„Hey, so’n Quatsch, das Ganze sollte ein Spaß sein, so eine Art Maintaufe…“

„Spaß? Ihr wusstet genau, dass Wolf, abgefüllt mit Alkohol, sterben würde, weil er eh nicht viel verträgt und ertrinkt, noch bevor er wieder richtig das Bewusstsein gewinnt. Verdammt nochmal, was ist da in euren Spatzenhirnen nur vorgegangen? Denkt ihr wirklich, ihr werdet reich mit dem Scheißzeug und ist euch das wirklich ein Menschenleben wert? Verdammt, antworte gefälligst, wenn ich mit dir spreche!“

Siggi zeigte sich von dem Wutausbruch wenig beindruckt. „Nee, der sollte nicht sterben, wir waren ja da, wollten auch den Rettungsdienst rufen….“

„Ja, ja, den Rettungsdienst. Wer’s glaubt, wird selig. Wann seid ihr in den Wasserturm eingedrungen?“

„Noch in derselben Nacht.“

„Wohl eher am nächsten Morgen. Und die Bauarbeiter habt ihr auch noch bedroht oder zumindest bestochen.“

Siggi schüttelte den Kopf.

„Und wer hat euch diese verflixten Drogen überhaupt zum Weiterverteilen gegeben?“

„Das war der Marcel. Damit hat sonst keiner was von uns zu tun.“ Siggi blieb bei dieser Aussage. Auch als ihm Pokroff noch so eindringlich versicherte, dass er ihm nicht glauben würde.

Marcel Engelthal musste sich ein Büro weiter vor der Kommissarin von Erbenstein verantworten. Etwas ruhiger und feinfühliger, wie es sich aus ihrem Gemüt und ihrer Intuition heraus ergab.

„Marcel, ich muss Sie das fragen, aber wo waren gestern Abend und am vergangenen Montag um zehn Uhr?“

„Wo war ich, man, ich muss überlegen, bei Carsten im Occupycamp in der Taunusanlage. Der kann das bezeugen, wirklich.“

„Aber Sie haben inzwischen schon mitbekommen, dass Ihre Mutter im Krankenhaus liegt und niemand weiß, ob sie jemals wieder erwacht?“ Die Kommissarin fragte sich ernsthaft, ob der junge Mann vor ihr überhaupt zu einer mitfühlenden Gefühlsregung fähig war, mochte er auf sie auch noch so verwirrt wirken.

„Ja, das tut mir leid.“ Besonders betroffen sah Marcel bei dieser Aussage allerdings nicht aus. Da waren keine Tränen, die er hätte zurückhalten müssen.

„Hatte Ihre Mutter irgendwelche Feinde? Überlegen Sie bitte genau“, fragte die Kommissarin und suchte den Blickkontakt zu dem jungen Mann.

„Keine Ahnung.“ Marcels Blick schien ins Leere zu gehen.

„Marcel, trifft es zu, dass Sie am Gründonnerstag meinen Kollegen Pokroff in Rödelheim getroffen haben und dann in Panik davongerannt sind?“

„Das weiß ich nicht mehr.“

„Aber Sie müssten meinen Kollegen doch erkannt haben, als wir Sie vorhin im Wasserturm festgenommen haben.“

„Ja, schön, er war es. Jeder kennt ihn doch aus den Fernsehnachrichten oder dem Internet. Man, dachte ich, was macht der denn dort?“ Nun kam wenigstens ein verunsichertes Grinsen über Marcels Gesicht.

Christiane von Erbenstein schöpfte Mut. „Er war dort als Privatmann, auch das kommt vor. Hatten Sie zu dieser Zeit noch Kontakt zu Ihrer Mutter, Nadine Engelthal?“

„Nee, wir haben schon seit Monaten keinen Kontakt mehr. Die hat einfach nur noch Stress gemacht.“

„Wer hat Ihnen die Drogen gegeben?“

„Irgendein kleiner rothaariger Handlanger, der für so’n Typ aus der Dealerszene arbeitet. Der hat mir aber gesagt, das Zeug ist nicht gefährlich, törnt nur so’n bisschen an und so.“

Die Kommissarin schüttelte fassungslos den Kopf. „Mensch, wie naiv konnten Sie nur sein? Ist Ihnen eigentlich klar, womit der Anschlag auf Ihre Mutter verübt wurde?“

Marcel zuckte ahnungslos mit den Schultern.

„Also mit isorhythmischen Bewegungen kommen wir jedenfalls nicht weiter. Wir müssen davon ausgehen, dass man auch Ihrer Mutter eine hochkonzentrierte Droge verabreicht hat. Was wissen Sie über diese Substanz und ihre Herkunft?“

„Gar nichts.“

„Und was wissen Sie über diesen sogenannten Handlanger? Er arbeitet vielleicht für dieselben Leute, die auch Ihrer Mutter diese Substanz verabreicht haben. Also, wie heißt er?“

„Keine Ahnung. Der Rotschopf nannte mir seinen Namen nicht, sprach mal von einem Beppi, das ist ihm wohl so rausgerutscht. Aber von mir haben Sie das nicht, okay? Ich krieg doch mildernde Umstände für diesen Namen?“

Die Kommissarin erhob mahnend ihren Zeigefinger.„Moment mal, keine vorschnellen Deals, wenn ich bitten darf. Aber die Polizei und die Staatsanwaltschaft werden Ihre Mitarbeit sicher zu schätzen wissen. Darauf können Sie sich verlassen. Und jetzt noch eine andere Frage: Hatte Ihre Mutter jemals engere Kontakte zu Koreanern?“

„Wieso, was soll die Frage?“Langsam fühlte sich Marcel von dem Verhör zermürbt.

„Weil im Umfeld des Mordanschlags immer wieder Koreaner auftauchen. Heute früh wurde zudem ein ermordeter Koreaner im Zeilsheimer Wäldchen gefunden.“

„Nein, das heißt, warten Sie: Mein Opa hatte mal geschäftliche Kontakte zu Koreanern.“

„Ihr Opa? Also der Vater Ihrer Mutter?“ Wieder ein Hoffnungsschimmer, dachte die Kommissarin.

Marcel nickte stumm.

„Wie heißt er und was für Kontakte waren das?“

„Er hieß Matthias Lauen. Aber sonst kann ich Ihnen nichts sagen. Mein Opa starb vor einigen Jahren.“

„Hatte Ihr Opa geschäftlich in Korea zu tun? Oder hat er mit oder für Koreaner in Deutschland gearbeitet?

„Weiß nicht.“

„Aber man wird doch in Ihrer Familie sicher darüber gesprochen haben, oder?“

„Kaum.“

Die Kommissarin hielt inne. „Also dafür, dass Sie mit der Polizei zusammenarbeiten wollen, sind Sie wieder ganz schön einsilbig geworden.“

Marcel blickte sie genervt an.„Meine Mutter hat zuletzt versucht, etwas darüber rauszukriegen.“

„Worüber? Und wie hat sie das versucht? Mensch, Marcel, denken Sie nach, irgendetwas müssen Die doch mitgekriegt haben.“

„Man, ich weiß das nicht, aber okay, lassen Sie mich in Ruhe überlegen, wenn ich nachdenken kann, fällt mir vielleicht etwas ein.“

Die Kommissarin versprach Marcel, ihm etwas Bedenkzeit einzuräumen. Knut und Karl, die von Zorbas vernommen wurden, hatten nichts weiter beizusteuern, außer dass sie sich gegenseitig und natürlich Siggi als ihren Anführer beschuldigten. Später konnte er zusammen mit Pokroff in der Uniklinik noch Lucy und Wolf kurz vernehmen, die zwischenzeitig wieder ansprechbar waren und auf ihre baldige Entlassung hofften. Beide bestätigten, dass sie Marcel gesehen hatten, der ihnen Drogen angeblich von einem rothaarigen Zwischenhändler verkauft hatte. Der Rothaarige wurde zur Fahndung ausgeschrieben. Schließlich trafen sich Pokroff, von Erbenstein und Zorbas zu einer letzten Lagebesprechung für diesen Tag.

„Wie ist es bei euch gelaufen?“, wollte Pokroff wissen.

„Eher schlecht. Aus Kurt und Ansgar ist momentan kaum etwas herauszuholen. Jeder macht den Rest der Gang verantwortlich. Und wie sieht es bei euch aus?“, wollte Zorbas wissen.

Pokroff runzelte die Stirn. „Nun, Siggi Rabe streitet die Tat nicht ab, versucht sie aber ebenso herunterzuspielen und die Schuld gleichmäßig zu verteilen. Für die Drogen war wohl hauptsächlich dieser Marcel zuständig. Was meinst du, Christiane?“

„Nun, mühsam nährt sich das Eichhörnchen. Marcel gibt den Handel mit den Drogen zu und nennt noch einen gewissen Beppi als Kontaktmann. Nach langem Zureden und einiger Bedenkzeit ist ihm mehr schlecht wie recht eingefallen, dass sein Großvater Matthias Lauen geschäftliche Kontakte zu Koreanern pflegte und dass seine Mutter Nadine Engelthal etwas darüber herauszufinden und ins Internet zu stellen suchte. Er glaubt sogar mal den Namen eines Forums gehört zu haben, irgendetwas mit Tschusan und inneren Geheimnisse, oder so ähnlich. Aber die Erinnerung ist nur sehr vage. Da müsste einer zig Adressen durchprobieren und dann auch noch die dazugehörigen Passwörter knacken.“

Zorbas horchte auf. „Wenn ihr euch um den Beppi kümmert, höre ich mich wegen dieses Forums um. Ich werde nochmal Kim Schmidt ansprechen. Und wegen des Zugangs weiß ich vielleicht auch einen Weg.“

Pokroff erhob seinen rechten Finger. „Du willst mir da aber nichts von irgendwelchen Kontakten zur illegalen Hackerszene andeuten? Wir haben schließlich auch bei uns im Präsidium unsere Spezialisten für solche Angelegenheiten.“

„Die aber teilweise auch schon etwas älter und zudem chronisch mit Arbeit überlastet sind. Ich kenne da einen ganz jungen und ambitionierten Mann, von dem ich weiß, dass er mir bald einen kleinen Gefallen schulden wird und sich entsprechend bewähren will. Keine Angst, sein Vater arbeitet bei der Bundespolizei und wird ein wachsames Auge auf seinen Bub haben. Neue Generation, neues Glück. Die kennen sich im wahrsten Sinn des Wortes spielerisch mit solchen Dingen aus.“

Pokroff räusperte sich inständig. „Was du nicht sagst. Name, Dienststelle und Dienstgrad des Bundespolizisten und Name des Sohns, bitte!“

Für einen Moment schien sich Pokroffs Miene zu verfinstern. Doch dann schaltete sich seine Kollegin ein. „Waldemar, bitte lass ihn. Wir werden Evangelos doch wohl so viel Vertrauen schenken, dass er….“

„Also gut. Ich verlasse mich auf dich. Aber wehe, da geht etwas schief, Evangelos, dann trittst du mir hier persönlich zum Rapport an und kommst vor unser internes Kriegsgericht. Ist das klar?“

„Eye, Sir.“ Zorbas nahm die Hand vor den Mund und hustete laut, um sein plötzliches Kichern über den verkannten Generalfeldmarschall zu kaschieren.

Die drei verabschiedeten sich. Zorbas konnte Kim Schmidt nur ganz kurz auf dem Smartphone erreichen. Die Verbindung war so schlecht, dass der Deutsch-Koreaner den Kommissar kaum verstehen konnte und mehrmals nachfragen musste. „Ich bin nicht alleine, ich bin noch in einer Besprechung, ich werde dich später zurückrufen und dir alles nochmal genau durchgeben“, versprach er. Damit musste sich Zorbas vorerst begnügen.

Pokroff fuhr nach Hause, besprach mit seiner Frau kurz den Einkaufsplan für das kommende Wochenende, an dem er voraussichtlich Sonderdienst wegen Occupy Frankfurt schieben musste. Dann entschuldigte er sich, sagte, er habe etwas im Präsidium vergessen, das er dringend noch abholen müsse. Dann ging er in den Abstellraum und kramte die Tüte mit seinem alten Laptop hervor, der ihm schon vor längerer Zeit durch ein Internetvirus abgestürzt war. Angeblich, so hieß es im eingeblendeten Fenster beim Neustart, habe Pokroff eine illegale Seite mit kriminellen Inhalten angeklickt, deshalb sei sein Computer durch die Bundespolizei gesperrt worden. Als routinierter Hauptkommissar wusste Pokroff freilich, was es mit solchen Viren auf sich hatte. Nur die adäquaten Tricks, um sie zu beheben, kannte er nicht.

Pokroff setzte sich in sein Auto und steuerte kurzerhand die Dienststelle am Hauptbahnhof an. „Servus Fritz“, begrüßte er einen Kollegen, den er immerhin so gut kannte, dass er sich mit ihm duzte und ein wenig über dessen Familie wusste. „Hier schau doch mal, ich kenne zwar die Ursache, aber nicht die Mittel, ums sie zu beseitigen.“ Dann klappte Pokroff sein Laptop auf.

Fritz Bechthold knurrte ein paar Mal, er habe für so was eigentlich gar keine Zeit, doch dann versenkte er sich in den Laptop und knackte den Virus innerhalb von wenigen Minuten. „Hier bitte sehr. Und erzähl das bitte nicht weiter, schon gar nicht deinen älteren Kollegen. Sonst kommt hier ständig einer mit seiner Kiste an.“

„Okay, geht klar. Dafür schaust du bitte mal deinem Sohn etwas genauer über die Schulter, wenn der wieder nächtelang an seinem Gerät sitzt und behauptet, er habe da irgendwas mit einem jüngeren Kollegen von mir ausgemacht.“ Ohne eine nähere Reaktion abzuwarten, verließ Pokroff die Dienststelle und ließ den verdutzten Kollegen stehen.

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Diesmal war es Dottor Luigi, der einen Anruf von seinem Kollegen in der gehobenen Wohngegend im Dornbusch bekam. Und dieses Mal war es der Anrufer, der dabei eher besorgt klang.

„Was ist passiert, Herr Rosso? Meine Leute berichten mir, dass die Polizei eine Gartenanlage auf dem Lohrberg ausgehoben hat? Und dort hat man ihnen verraten, wo sich die jungen Kerle und somit auch Ihr Kontaktmann versteckt halten? Dann können wir uns ja warm anziehen!“

„Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken. Da sind immer noch ein bis zwei andere Leute dazwischengeschaltet, ehe die zu uns finden“, versicherte Luigi Rosso und bemühte sich, ruhig und sicher zu klingen. „Da wäre es schon interessanter, wie es Ihrem Buchhändler ergangen ist.“

Am anderen Ende der Leitung war es einem Moment lang still. „Ich habe schon mal gesagt, meine Aktionen gehen Sie gar nichts an.“

Luigi schluckte. „Jedenfalls können Sie online über die einschlägigen Gastro-Plattformen erfahren, dass ein nordkoreanisches Lokal in Amsterdam vorübergehend wegen einem kleinen Zwischenfall schließen musste. Merkwürdiger Zufall, finden Sie nicht?“

„Was habe ich damit zu tun? Dort hat jemand vielleicht ein bisschen überreagiert. Aber ich habe meine Hiwis unter Kontrolle, weil die nämlich von mir abhängig sind.“

„Sehen Sie, und genauso ist es mit mir und meinen Handlangern.“

„Das will ich Ihnen auch geraten haben.“ Rosso hörte, wie es in der Leitung klackte. Ruckartig strich er über den Touchscreen seine Smartphones, sichtlich angespannt, weil sich die eingespeicherte Nummer unter der Rubrik „Kontakte“ nicht wie von selbst öffnen wollte. Dann endlich der kurze Anruf mit der unmissverständlichen Weisung: „Beppi, mach dich bereit. Wir gehen bald auf Tauchstation. Doch vorher hast du noch einen Gastauftritt.“

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Klemens Krösch war schon am frühen Morgen in Pokroffs Büro gekommen, um mit dem Hauptkommissar die alten Polizeiakten Ende der 60er Jahre durchzugehen, die sich mit Vermisstenanzeigen und mutmaßlichen Entführungen beschäftigten. Und es war tatsächlich so, wie Graf von Erbenstein gesagt hatte: Darunter waren etliche Krankenschwestern und Studenten aus Südkorea. Doch die wenigsten der damals angezeigten Fälle konnten je geklärt werden. Und es schien fast so, als sei von Wiesbaden oder Bonn aus die Order gekommen, die Ermittlungen bald nach den ersten grundsätzlichen Routinebefragungen einzustellen, um die diplomatischen Beziehungen zu Seoul nicht weiter zu belasten.

„Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was das hier sein könne?“, fragte Pokroff und zeigte Krösch die eingetütete Skizze, die er in Nadine Engelthals Schreibtisch gefunden hatte.

„Klar, das ist das Ryugyong Hotel in Pjöngjang, dieser neue Wolkenkratzer. Vielleicht geschliffenes Kristallglas für einen Halsschmuck“, antwortete Krösch prompt.

„Aha, das würde dann also auch passen“, meinte Pokroff und suchte weiter.

Dank Marcels zögerlicher aber wahrheitsgemäßer Angabe über seinen Opa war die richtige Akte bald gefunden. „Sehen Sie, hier haben wir auch die Anzeige, die Matthias Lauen damals von der mutmaßlichen Entführung eines Ku Bongs erstattet hat. Der Vorfall ereignete sich in Heidelberg, die Ermittlungen wurden aber nach der Anzeige in Frankfurt von der hiesigen Kripo übernommen. Offenbar, weil man den Fall den Südkoreanern zuordnete. Lauen gab jedoch zu Protokoll, Ku Bong sei Chinese.“ Krösch schob Pokroff die Akte ein Stück weit herüber, so dass sie zusammen hineinschauen konnten.

„Es sei denn, er hat sich unter falschem Namen nach Heidelberg abgesetzt, weil er sich in Frankfurt nicht mehr sicher fühlte“, schlug Pokroff vor.

Krösch nickte anerkennend. „Der Fall wurde damals von Hauptkommissar Otto Wiesinger bearbeitet, der vor fünfzehn Jahren verstorben ist. Aber die Dauer und Intensität der Ermittlungen dürfte sich auch hier sehr im Rahmen gehalten haben. Hier schauen Sie, Wiesinger vermerkt, an der chinesischen Nationalität des Chemiestudenten Ku Bongs bestünden zwar berechtigte Zweifel. Aber seine wahre Herkunft konnte nie eindeutig geklärt werden, da der Student nirgendwo an der Uni oder sonst im Freundeskreis als vermisst gemeldet wurde.“

Krösch grübelte weiter.„Wobei man allerdings bedenken muss, dass ein gewisser Heinrich Wiesinger damals Professor am Chemischen Institut war“, gab er zu bedenken. „Dort war erst wenige Wochen zuvor ein weiterer Entführungsfall gemeldet worden, bei dem sogar ein Assistent des Instituts verdächtigt wurde.“ Krösch runzelte die Stirn. „Otto könnte die Gunst der Diplomatie genutzt haben, um Ku Bongs Verschwinden nicht zu melden und seinen Bruder zu bitten, die Sache möglichst unauffällig zu behandeln und so einen weiteren Skandal am Institut zu vermeiden.“

„Nur wird Heinrich Wiesinger wahrscheinlich inzwischen auch verstorben sein“, räumte Pokroff ein.

„Nein, aber er wird hochbetagt und mit fortgeschrittener Demenz in einem Seniorenstift in Wiesbaden gepflegt.“

„Dort nützt er uns wenig. Aber hier, lesen Sie mal weiter. Lauen hat Wiesinger damals das für Ku Bong abgegebene Stoffkörbchen ausgehändigt. Und darin befindet sich ein wahrer Schatz: Goldschmuck mit Anhängern in Form von Tempeln und Pagoden. Wahrscheinlich haben sie das bei Ku Bong gesucht und ihn deshalb mitgenommen.“

„Schon möglich. Habt ihr den Schmuck damals in eure Lehrmittelsammlung aufgenommen?“, wollte Krösch wissen.

„Das möchte ich doch hoffen. Ich werde nachher mal im Kriminalmuseum nachfragen. Vor allem werde ich heute Nachmittag nach Heidelberg fahren. Hier hat das Unheil offenbar seinen Ausgang genommen. Meine Frau hat mir erzählt, dass sie Nadine Engelthal aus ihrer Studentenzeit kannte. Offenbar ist sie die Tochter von unserem Matthias Lauen. Und sie hat eine gute Freundin, die noch heute Leiterin am dortigen Verpackungsmuseum ist. Wie sieht es aus, Herr Kollege? Möchten Sie mir und meiner bezaubernden Frau Gesellschaft bei unseren Ermittlungen in Deutschlands ältester Universitätsstadt leisten?“

„Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Ich bin schließlich für diesen Fall abkommandiert worden, schon vergessen?“

„Wie könnte ich das?“

„Und Ihre Frau haben sie inzwischen zu Ihrer Kriminalassistentin ausgebildet?“ Krösch konnte sich ein leicht abschätziges Grinsen nicht verkneifen.

„Seit wann braucht ein gestandener Kriminalbeamter wie ich eine zusätzliche Assistentin?“ Pokroff schaute, als würde er sich wirklich in seiner Ehre gekränkt fühlen. „Heidelberg ist sozusagen die zweite Heimat meiner Frau. Sie kennt die Stadt wie ihre Westentasche und natürlich auch diese Leiterin im Verpackungsmuseum. Sie hilft mir bei der Kontaktaufnahme und mit ihrer Intuition. Dafür wird sie ja nach Wetter mit einem Schaufensterbummel oder Spaziergang belohnt.“

„Man weiß nie, wozu man sie braucht, unsere Frauen. Nun gut, wir sehen uns dann später. Sagen wir in drei Stunden? Dann kann ich vorher noch etwas Büroarbeit erledigen.“ Krösch verabschiedete sich und Pokroff unternahm einen ersten Gang in den Keller, um die Dauerausstellung des Kriminalmuseums zu inspizieren. Nein, ohne die Hilfe des erfahrenen Kollegen Schubert, der mittlerweile seit mehreren Jahren im Unruhestand das Archiv der Lehrmittelsammlung verwaltete, würde er hier nicht weit kommen. Doch der war heute nicht im Haus und auch telefonisch nicht zu erreichen. Eine Familienfeierlichkeit, wie man Pokroff ausrichtete. Da sich Schubert zu jener Generation rechnete, die nicht mal ein einfaches Handy mit sich trug, würde er ihn erst morgen zum wertvollen Inhalt des Körbchens befragen können. Pokroff ließ ausrichten, Schubert möge sich am folgenden Vormittag im Präsidium einfinden. Dann trommelte er Zorbas, von Erbenstein und Wagner zur Dienstbesprechung zusammen. Sie hatten die Mitglieder der Jugendbande noch einmal getrennt zu vernehmen und sie dann in Abstimmung mit dem Haftrichter in Untersuchungshaft zu überführen. Christiane von Erbenstein war als Stellvertreterin inzwischen die rechte Hand des Hauptkommissars, die diese Angelegenheiten eigenverantwortlich leiten konnte, wenn sich ihr Chef wegen dringender Ermittlungen im Außeneinsatz befand.

Wie hatte sich Carola Pokroff doch auf den gemeinsamen Ausflug in ihre Unistadt Heidelberg gefreut – zumal das Wetter so weit mitspielte, dass sogar an einen schönen Eiscafé mit Schwarzwälder Kirschtorte im Café Schafheutle oder an einen längeren Spaziergang auf dem Philosophenweg zu denken war. Von dort hatten sie schon oft gedankenversunken den Blick auf das Heidelberger Schloss genossen. Doch vorher galt es, den gemeinsamen Einsatz im schönen Neckartal zu meistern, wo die schwülheiße Luft wie so oft in dieser Jahreszeit förmlich stand. Und für ihren pflichtbewussten Ehemann galt das alte Sprichwort: Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps – oder besser Eiscafé.

Punkt vierzehn Uhr waren die Pokroffs und Klemens Krösch mit der Direktorin Michaela Pfister im Deutschen Verpackungsmuseum verabredet. Carolas ehemalige Kommilitonin war tatsächlich noch immer so gut mit Nadine befreundet, dass sie ihr etwas anvertrauen würde – ein kleines Stück Plastik, auf dem angeblich etwas Weltbewegendes stehen sollte? – Der Gedanke war irgendwie irrsinnig.

Als Michaela Schmidt die Tür öffnete, hatte sie Tränen in den Augen. „Wie konnte das nur passieren? Es ist alles so schrecklich!“, sprach sie und umarmte Carola.

War da endlich jemand, der tatsächlich um die Designerin trauerte und sogar zum Weinen fähig war? In der Eingangshalle hätte sich Carola Pokroff sogar einen Trauergottesdienst vorstellen können. Das Verpackungsmuseum war nämlich in einer ehemaligen katholischen Notkirche eingerichtet. Vor allem die Holzdecke wies noch deutlich sichtbare Reste einer einfachen neubarocken Bemalung auf, die Pokroff vor seinem inneren Auge jederzeit einer Spurensicherung hätte unterziehen können. Er kannte die Decke nämlich in- und auswendig, obwohl er gerade erst einmal hier gewesen war – seine Frau hatte mit ihrer Privatvorlesung über die Motive katholischen Deckenschmucks mal wieder ganze Arbeit geleistet.

„Noch gibt es etwas Hoffnung. Frau Engelthal liegt auf der Intensivstation. Sie ist in ein tiefes Koma gefallen.“ Pokroff machte ein tief betroffenes Gesicht. Doch konnte er in diesem Fall wirklich Trauer und Anteilnahme zeigen? Es fiel ihm sichtlich schwer, wie er am Gesichtsausdruck von Michaela Pfister erkennen konnte. „Die Ärzte können derzeit noch nicht abschätzen, ob sie jemals wieder aufwachen wird.“

„Entsetzlich. Denken Sie, da hat jemand, ich meine,…“

„Wir müssen inzwischen wohl davon ausgehen, dass es Fremdeinwirken war“, fügte Krösch eher etwas trocken hinzu.

„Michaela, es tut mir so leid. Ihr wart wirklich gute Freundinnen, nicht wahr?“, erkundigte sich Carola Pokroff mitfühlend. Ihr fiel das schon wesentlich leichter, schließlich war die Designerin Teil ihres Studentenlebens.

„Ja, das waren wir. Aber was kann ich jetzt für die Polizei tun?“, fragte Michaela Pfister etwas ratlos.

Pokroff betrachtete angestrengt den Eyecatcher des Museums. „Die Bonbons oder besser gesagt die Attrappen in dem grünen Papier gelangen dort drüben in der Verpackungsmaschine. Genau solche Bonbons haben wir auch im Atelier und in der Wohnung von Frau Engelthal gefunden. Und dort war alles durchwühlt. Jemand hat die Bonbons durchsucht, weil er nach einem bestimmten Gegenstand in Bonbonpapier suchte. Wahrscheinlich nach einem Datenträger oder etwas Ähnlichem. Sie sind oder besser waren eine gute Freundin. Hat Ihnen Frau Engelthal etwas anvertraut?“

„Ja, das hat sie. Kommen Sie mit. Ich habe es dort drüben sicher in der Kommode verwahrt.“

Frau Pfister führte die beiden Kommissare und ihre Kommilitonin hinüber zu der Anrichte schräg gegenüber von der alten Verpackungsmaschine aus Großvaters Zeiten, die als Glanzstück der Dauerausstellung die Blicke der Besucher auf sich zog. Doch noch während sie die Schublade aufzog, besann sie sich plötzlich anders.

„Mensch, das hätte ich jetzt fast vergessen. Heute morgen hatte ich Besuch von einer chinesischen Werksgruppe von Ferrero. Die waren natürlich interessiert, weil die früher ähnliche Maschinen hatten. Da musste ich die Maschine mit den Dummys aus der Schublade bestücken und habe den ESB-Stick, den mir Nadine anvertraut hat, vorsichtshalber runter ins Depot gelegt. Wenn Sie mir bitte dorthin folgen möchten.“

Michaela Schmidt führte die Gruppe in den Keller, wo sie weitere Dummys in einem Schränkchen aufbewahrt hatte. Und siehe da: Eine der Atrappen hatte wirklich eine etwas längliche Form und schimmerte in einem Grün, das ein Tick heller war.

„Hier schauen Sie. Darin verbirgt sich ein Internetstick, der wohl einige brisante Informationen enthält.“ Sie wollte den Stick gerade herausholen, doch Pokroff wehrte ihre Handbewegung mit entschiedener Geste ab.

„Halt. Das gute Stück wollen wir doch besser professionell sichern. Es könnte noch wichtige Fingerabdrücke enthalten.“ Pokroff hatte sich einen Handschuh übergestreift und beförderte die verpackte Attrappe in ein Plastikbeutelchen. „Und wenn ich Sie dann bitte auch noch bitten dürfte.“ Pokroff holte sein Set heraus und nahm auch von der Leiterin des Museums die Abdrücke. „Reine Routine, Sie verstehen.“

„Wissen sie Näheres über den Inhalt dieses Sticks“, fragte Krösch.

„Nein.“

„Wie lange ist es her, dass Ihnen Frau Engelthal den Stick gegeben hat?“

„Lassen Sie mich überlegen. Etwa drei bis vier Monate. Ja, es war so kurz vor Weihnachten.“

„Seitdem haben Sie Frau Engelthal nochmal gesehen?“

„Nein.“

„Aber Sie haben sich doch wenigstens regelmäßig ausgetauscht, ich meine, über Telefon und E-Mail oder so“, wollte Pokroff wissen.

Michaela Pfister überlegte einen Moment. „Wir sind beide in Facebook. Ja, natürlich haben wir uns die neuesten Infos über unsere Ausstellungen in ihrer Galerie und meinem Museum ausgetauscht. Zum Telefonieren fehlte meist die Zeit. Diese unglaublich vielen Termine, die man als Künstlerin oder auch Direktorin immer auf den letzten Drücker reingeknallt bekommt, bringen den gesamten Tagesrhythmus aus dem Lot. Da weiß man kaum…..“

„Ja gut, aber ein oder zweimal werden Sie doch in den letzten Monaten sicher miteinander gesprochen haben“, hakte Pokroff nach. „Ich meine, zu den Feiertagen und um sich was zu wünschen. Das ist wichtig für uns, denn wir müssen wissen, was Frau Engelthal über ihre Befindlichkeiten und sonstigen beruflichen und privaten Kontakte geäußert hat.“

„Ja, zu den Feiertagen natürlich, da haben wir auch mal am Telefon gequatscht“, räumte Michaela Pfister ein.

„Sprach Frau Engelthal da von Problemen mit ihren Kindern oder mit Kolleginnen, die mit ihr in Konkurrenz standen?“

„Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Nicht dass ich wüsste.“

„Bitte denken Sie genau nach“, bat Pokroff inständig. „Wir haben schon Grund zur Annahme, dass Frau Engelthal den ein oder anderen Feind hatte.“

„Du weißt doch, die Nadine und ihr Ehrgeiz. Die hat sich bestimmt den einen oder anderen Neider zugezogen“, hakte Carola Pokroff nach.

„Gut, aber es war nicht Nadines Art, über solche Probleme zu sprechen. Am Telefon nicht und erst recht nicht online“, erklärte die Direktorin abschließend. „Und wenn sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Ich habe noch zu arbeiten und möchte mit meinen Gefühlen gerne etwas für mich sein.“

„Selbstverständlich, vielen Dank.“ Während sich Krösch nach Frankfurt verabschiedete, gönnten sich Pokroff und seine bessere Hälfte noch einen Spaziergang hinauf zum Philosophenweg. Was Carola das übliche Schmunzeln abverlangte, weil ihr Ehemann auf dem Schlangenweg einige Male mehr keuchte als beim letzten Aufstieg.

„Du wirst alt, Soldat. Stell dir vor, da würde dich einer mit kompletter Marschausrüstung hinaufscheuchen.“ Nun konnte Carola sogar ein lautes Lachen nicht mehr zurückhalten.

„Also, ich finde das überhaupt nicht komisch. Und jetzt zu ganz was anderem. Du hast Frau Pfister vorhin so mitfühlend angesehen. Wie gut kanntest du sie und Frau Engelthal nun wirklich? Ich meine, wart ihr so was wie ´ne echte Studentinnenclique?“

„Quatsch. Ich kannte beide eher nur oberflächlich. Aber einmal, da bin ich mit der Nadine über die Himmelsleiter zum Schloss hochgestiegen?“

„Die Himmelsleiter?“, fragte Pokroff irritiert.

„Ja, das ist der Aufstieg gegenüber auf dem Berg dort. Aber kein kurvenreicher Weg, sondern eher eine Treppe durch den Wald. Da ist sie hochgesprungen wie eine Gazelle. Nicht so angestrengt wie du vorhin. Und vom Schloss aus hat sie den Ausblick auf die Stadt genossen. Da war sie direkt mal entspannt und sogar etwas romantisch.“

Pokroff horchte auf.„Das ist wohl sonst eher selten vorgekommen. Aus was für einem Elternhaus kam sie eigentlich? Was hat sie über ihre Familie erzählt?“

„Nicht viel. Aber ihr Vater hatte wohl eine schwere Kindheit und Mühe, sein Studium in Heidelberg zu finanzieren. Ihre Mutter war Tschechin, und beide waren wohl beruflich sehr eingespannt und hatten nicht die nötige Zeit, die sie für ihre Tochter vor allem während der Pubertät brauchten. Ich glaube, irgendwie fühlte sie sich sogar schuldig, weil sie ihren Eltern Sorgen gemacht hat, und hat immer versucht, das zu verdrängen und zu überspielen. Ach ja, habt ihr eigentlich Nadines Sohn gefunden?“

„Ihren Sohn? Wie kommst du denn da drauf?“

„Na, ich meine den jungen Mann, der neulich so Hals über Kopf aus der Cyriakuskirche davongerannt ist ?“

„Ach, und woher willst du wissen, dass das ihr Sohn ist?“

Carola grinste. „Ich glaube, so etwas nennt man weibliche Intuition. Außerdem sah er ihr auch im Gesicht total ähnlich.“

Pokroff schmunzelte. „Okay, eins zu null für dich. Ja, wir haben diesen jungen Mann gefunden, er ist ihr Sohn und hängt auch irgendwie in der Geschichte mit drin. Aber darüber möchte ich jetzt nicht sprechen. Wie auch immer. Lass uns jetzt heimfahren. Es ist spät, und ich habe morgen einen anstrengenden Tag.“

Carola zeigte Verständnis, wenngleich es sie wurmte, nicht miteinbezogen zu werden, wo sie doch nun mal eine Schlüsselszene zum neuen Fall ihres Mannes miterlebt hatte. Etwa eineinhalb Stunden später kam das Ehepaar zuhause an, wo es sich den Abend mit einer Fernsehdokumentation um die Ohren schlug. Dabei ging es einmal mehr um die Wirtschaftskrise, die Macht des Kapitals und die Boni der Banker. Und um die Blockupy-Proteste, die das öffentliche Leben in Frankfurt in wenigen Tagen lahmzulegen drohten.

***************

Pokroff konnte es kaum erwarten, bis er am nächsten Vormittag gegen 10.30 Uhr in die Abteilung der Spurensicherung gerufen wurde. Gert Liebhardts Augen leuchteten bereits, als der Oberkommissar die Eingangstür betrat. Wie immer, wenn der Experte besonders aufregende Nachrichten zu verkünden hatte.

„Guten Morgen, Herr Pokroff. Ich habe eine gute und eine sowohl gute als auch schlechte Nachricht für Sie. Welche wollen Sie zuerst hören?“

„Gute Frage.“ Der Kommissar rieb sich die Augen. „Ich habe die vergangene Nacht schlecht geschlafen, obwohl ich gestern mehr als stramm einen langen und steilen Weg in Heidelberg hinauf marschiert bin. Was mir nicht mal die eigene Frau zugestehen will. Bei dieser Verfassung ist es sicher besser, Sie fangen mit der guten Nachricht an.“

„Also schön. Der Inhalt unseres Sticks ist gut lesbar. Prinzipiell jedenfalls“ Liebhardt sortierte die Ausdrucke und fuhr über die Schriftzeichen. „Es handelt sich offenbar um Koreanisch. Ich habe mich früher auch mal mit dem Aufbau von asiatischen Schriften beschäftigt. Der Zeichensatz mutet etwas sonderbar an, offenbar hat jemand die Wörter in einer seltsamen Weise verschlüsselt. Ein System, das auf eine alte Tradition zurückgeht, nehme ich an. Aber ich denke, das kriegen wir hin. Zumal Sie ja professionelle Hilfe von Herrn Krösch kriegen. Er will in zehn Minuten hier sein.“

Pokroff schaute auf seine Funkarmbanduhr. „Ich hoffe, er kommt pünktlich. Gut, und was ist die schlechte oder auch gute Nachricht?“

„Die Fingerabdrücke auf dem Stick passen nicht recht zu ihrer Theorie, wer ihn zuletzt gehabt haben soll. Wir haben da verschiedene Abdrücke gefunden, aber nicht die von Michaela Pfister“.

„Vielleicht hat die Direktorin ja Handschuhe getragen und jemand Unbefugtes hat kurz zuvor den Stick versehentlich in den bloßen Händen gehabt. Das erklärt auch, warum die Direktorin vorsichtig wurde und den Stick lieber im Keller deponierte, als die chinesische Werksgruppe von Ferrero anrückte.“

„Ja, allerdings. Sie selbst erzählten mir ja, die Direktorin hätte den Stick bereits zuvor in einer separaten Schublade verwahrt. Dafür haben wir unter den anderen Fingerabdrücken aber auch solche gefunden, die zu einer asiatischen Hand passen.“

„Eine asiatische Hand? Schon wieder?“

„Ja, und jetzt halten Sie sich fest“ Liebhardt blickte Pokroff triumphierend an. „Diese Abdrücke sind dieselben wie die, die wir gestern in der Laube in Seckbach sichern konnten. Offenbar hat diese asiatische Hand also Langfinger gemacht, weil sie von irgendwoher wusste, dass die Direktorin den Stick aus Sicherheitsgründen in einer separaten Schublade verwahrt hatte.“

„Hm, das klingt jetzt allerdings sehr spannend. Na, dann schauen wir mal, was die Texte hergeben und was unser Sprachenspezialist vom BKA dazu sagt.“

Krösch kam dieses Mal fast auf die Minute pünktlich und machte sich mit Liebhardt und Pokroff ans Werk, den Text zu dechiffrieren. Dabei fuhr er mit dem Finger der linken und dem Stift der rechten Hand Zeile für Zeile ab und flüsterte sich Buchstaben, Wörter und Inhalte halblaut vor sich hin.

„Alle Achtung, Herr Liebhardt, Sie lagen mit Ihrer Theorie richtig. Der Text ist tatsächlich verschlüsselt. Die Koreaner benutzen ja eine völlig eigene Buchstabenschrift, wobei sie die Buchstaben jedoch nicht hintereinander wegschreiben, sonder sie in quadratischen Silbenblöcken über- und untereinander anordnen. Hier , schauen Sie, Herr Pokroff, hier haben wir so einen Block mit Auf- und Abstrichen. Die Anordnung beginnt links oben mit….“

„…Übrigens, die koreanische Hangul-Schrift ist eine Erfindung von König Sejong und seiner Gelehrten im 15. Jahrhundert und weltweit das einzige Schriftsystem, das mit seinen Zeichen die genaue Stellung der Lippen, der Zunge und der Zähne zur exakten Artikulation der Laute abbildet“, ergänzte Liebhardt. „Man spricht hier von einem vollständig phonetisierten System…“

„Schon gut, aber das interessiert hier nicht.“ Pokroff biss sich auf die Zunge. „Sprachforscher unter sich, das können Sie auch nach Feierabend sein.“

Nun war es Krösch, der seine Sprache wiederfand. „Diese Silbenblöcke werden dann ähnlich wie im Japanischen mit chinesischen Schriftzeichen gemischt, die meist Fremdwörter aus dem Reich der Mitte ausdrücken. Zumindest in Südkorea ist das teilweise noch so üblich.“

„In Nordkorea etwa nicht?“, fragte Pokroff irritiert.

„Nein, denn dort hat der nationalistische Diktator Kim Il Sung die chinesischen Zeichen einfach aus der Schrift eliminiert.“

„Aha“ Pokroff sah die beiden Sprachexperten prüfend an und versuchte, ihre Theorien nachzuvollziehen.“ Aber die Schrift auf dem Stick ist ja verschlüsselt, sagen Sie. Funktioniert sie nun nach dem nord- oder nach dem südkoreanischen System?“

„Eher nach dem südkoreanischen System, mit ein paar Vertauschungen und Umstellungen, was die Anordnung in den Silbenblöcken betrifft, und ein paar wahrlos hineingemischten chinesisch-japanischen Kanji-Schriftzeichen, die offenbar nur Verwirrung stiften sollen.“

Pokroff glaubte nur, lauter Silbenbäume mit kuriosen Verzweigungen und Quadratwurzeln zu erkennen. Schlimmer als in Mathe, dachte er und räusperte sich angestrengt. „Jedenfalls hat sich der Verfasser beim Chiffrieren jegliche erdenkliche Mühe gegeben, um uns reichlich zu irritieren. Fragt sich nur, welche streng geheime Botschaft er damit verschlüsselt.“

„Keine Sorge, die Geheimschrift sieht komplizierter aus, als sie in Wirklichkeit ist. Wenn man sich einmal ein bisschen hineingedacht und eingearbeitet hat, dann geht es schon. Ähnliches dürfte für den Inhalt gelten.“

„Wieso? Um was geht es denn?“

„Soweit ich das bisher überblicken kann, um angebliche Geheimprotokolle aus dem Koreakrieg. Darin werden die einzelnen Bestimmungen erklärt, die später in die so genannte Resolution 85 eingeflossen sind. Es geht darin um die Autorisierung der USA als UN-Streitmacht, die in Korea eingreifen durfte, nachdem nordkoreanische Streitkräfte die südkoreanischen Städte Chuncheon, Pocheon und Dongducheon erobert hatten. Außerdem heißt es in dem Text, Präsident Truman hätte in Wahrheit bereits ohne Einwilligung der UNO Besatzungstruppen der USA aus Japan nach Korea verlegt.“

„Na, das sind ja ziemlich brisante Informationen, die mal wieder den Umgang der USA mit dem Völkerrecht bei internationalen Einsätzen kritisieren.“ Pokroff stutzte.

Krösch konnte sich ein selbstgefälliges Schmunzeln nicht verkneifen. „So weit haben Sie schon Recht, Herr Pokroff. Der Haken an der Sache ist nur, dass an diesen Informationen in Wahrheit so gut wie gar nichts geheim ist. Nehmen Sie sich zehn Minuten Zeit und geben Begriffe wie „Korea“ oder „Koreakrieg“ ins Internet ein. Dann können Sie das alles mühelos zusammenrecherchieren. Der Schreiber hat sich lediglich die Mühe gemacht, eine Geheimschrift zu verwenden und seine Informationen etwas pseudomysteriös zu verklausulieren.“

„Aber was will er damit bezwecken? Moment, lassen Sie mich überlegen. Wie war das? Die Museumsleiterin hatte den Stick in einer separaten Schublade verwahrt. Aber dann war da diese Delegation von Chinesen. Theoretisch könnte das jemand gewusst oder beobachtet und…“

„……den Stick mit den wahren Geheiminformationen gegen diesen Stick mit seinen angeblichen Geheimprotokollen ausgetauscht haben“, ergänzte Krösch den angefangenen Satz. „Das würde auch die Verwendung der an sich leicht zu durchschauenden Geheimschrift erklären. Für einen Kryptographen ist das kein Problem. Der Verfasser dieses Geheimtextes hat uns mit einem Plagiat getäuscht. Praktisch ergibt das durchaus einen Sinn.“

„Aber woher konnte in dieser Chinesengruppe jemand etwas von dem echten Stick, seinem Inhalt und vor allem von einem möglichen Zusammenhang mit dem Mord an Park und dem Mordanschlag an Engelthal gewusst haben? Und was hat diese Schmuckdesignerin überhaupt mit Korea zu tun?“, wollte Pokroff wissen.

„Das herauszufinden ist zunächst mal Ihr Part, Herr Pokroff. Nur wenn dabei wie in diesem Fall internationale Beziehungen ins Spiel kommen, schalte ich mich ein.“

„Was heißt hier international? Verdammt nochmal, es geht um eine junge Asiatin, die in Frankfurt lebt und sich offenbar als Japanerin, Chinesin, Koreanerin und vielleicht noch als Vietnamesin oder Thailänderin auszugeben versteht, ohne dass es scheinbar jemand merkt. Das kann eigentlich, wenn sie zugleich die Verfasserin ist und dieses typische Mischsystem zweier Schriften verwendet, nur eine Spionin aus Südkorea sein.“

„Oder auch aus Nordkorea.“

„Nein, das kann ich einfach nicht glauben. Wie soll aus diesem totalitären stalinistischen Staat jemand legal ausreisen und sich in der deutschen Gesellschaft bewegen und zurechtfinden können, ohne sofort aufzufallen?“

Krösch klopfte Pokroff beruhigend auf die Schulter. „Wie ihre Kollegin schon sagte, in Frankfurt leben rund 135 amtlich registrierte Nordkoreaner. Und die müssen sich ja auch zurechtfinden. Und wir dürfen niemals irgendwelche Gegner unterschätzen. Schon gar nicht solche von ausländischen Geheimdiensten. Wenngleich ihre Asiatin in einem Punkt selbst mich verblüfft.“

„Nämlich?“

„Eigentlich müsste sie in ihrem Geheimzeichen so etwas wie ,ryakza‘ schreiben. Das bedeutet ,Geschichte‘ und ist die Standardform der so genannten Kultursprache, die in Nordkorea üblich ist. Die Verfasserin schreibt aber ,yakza‘, eine Form, die sich Im Süden nach dem Standard von Seoul durchgesetzt hat. Darüber stolpern die meisten Nordkoreaner. So gesehen könnte das zusammen mit der Zeichenmischung doch schon wieder für eine südliche Herkunft zu sprechen. Oder aber unsere Agentin ist einfach nur eiskalt und superprofessionell.“

Pokroff rannte aus seinem Büro wie vom Leibhaftigen getrieben. „Dieses verdammte Biest. Das gibt es nicht, nein das kann es einfach nicht geben!

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In dem sterilen unterirdischen Raum irgendwo in den Tiefen Neapels war nichts zu hören als das Summen der Nähmaschinen und das Knarzen einer alten Neonröhre, die seit Stunden vor sich hinflackerte und jeder Zeit drohte, ganz den Geist aufzugeben. Mailin Chao sortierte die Stapel von T-Shirts, die vor ihr lagen. Die einen waren bereits mit dem edlen rot-silbernen Wappen mit Löwen und Andreaskreuz bestickt, die anderen warteten noch darauf. Irgendwelche Plagiate von Markenklamotten, die im grenzenlosen Europa unbehelligt bis in die Edelboutiquen von Frankfurt oder München transportiert würden, da war sie sich ganz sicher.

Mailin blickte um sich. Sie saß zusammen mit neun weiteren Chinesinnen in diesem Raum. Doch sie war zweifellos die Älteste. Wie lange war sie schon hier? Wie lange würde sie noch bleiben? Sie versuchte zurückzurechnen. Mindestens sechs Jahre müssten es nun schon sein. Vor etwa dreieinhalb bis vier Jahren jedenfalls hatten sie die junge Kollegin mit dem kleinen Leberfleck abtransportiert. Das war ihre grobe Zeitmarke. Eigentlich machte sie sich keine allzu großen Hoffnungen, hier auf absehbare Zeit herauszukommen und etwas anderes zu sehen als die illegale Werkstatt und das mehr als bescheidene Nachtquartier.

,Ich werde alt und kann bei den Akkorden bald nicht mehr mithalten‘, dachte Mailin. ,Irgendwann werden meine Hände kraftlos. Dann kann ich nicht mehr richtig nähen und werde nur noch Ausschuss produzieren.‘

Alleine eine kleine Hoffnung war da noch, an die sich Mailin klammerte. ,Sie können nicht ganz auf mich verzichten. Denn sie brauchen mich und meine Erfahrung, um die jungen Mädchen anzulernen.‘ Na, wenn diese Hoffnung mal nicht trügerisch war.

„Avanti!“ Eine gellende Stimme riss Mailin und auch so manch andere Näherin aus ihren Gedanken und Tagesträumen. „Das muss viel schneller gehen! Ihr seid zum Arbeiten hier und nicht zum Vergnügen!“

Zum Arbeiten! Und nach der Arbeit ist dann irgendwann Feierabend? Mailin schüttelte den Kopf und lachte stumm in sich hinein. Eigentlich hatte sie die Zeit längst vergessen. Hier unten gingen die Uhren anders- wenn es überhaupt welche gab.

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Gute zehn Minuten musste Krösch warten, bis Pokroff sich wieder eingekriegt hatte – oder waren es gar zwanzig Minuten? Zum Glück konnte die Sekretärin Diemer den Kollegen Krösch beruhigen und ihm versichern, dass man ihrem Chef manchmal etwas Zeit zum Luftholen geben musste, auch wenn er immer versuchte, beherrscht und kontrolliert zu wirken. Nun standen die beiden Ermittler im Archiv vor Helmut Schubert, dem Gedächtnis des Hauses, der soeben einen in altmodisch anmutender Frakturschrift beschrifteten Karton aus dem Magazinschrank hervorgeholt hatte. Zweifellos war der Kollege, der die Beweisstücke der ausgehenden 1960er Jahre handschriftlich inventarisiert hatte, noch im ausgehenden Kaiserreich zur Schule gegangen.

„Nun gut, dann wollen wir mal sehen“, brummelte Schubert vor sich hin, zog das Körbchen hervor und leerte den Inhalt auf den Tisch.

Pokroff war baff vor Staunen. „Man, unglaublich, darum würde uns jedes Museum für asiatisches Kunsthandwerk beneiden. Wieso habe ich das noch nie gesehen? Und wieso wird das hier nicht ausgestellt?“

Schubert runzelte die Stirn. „Ich glaube wohl, das war dem Polizeipräsidenten damals bei der Eröffnung des Museums einfach peinlich, weil der Fall niemals richtig aufgeklärt wurde.“

„Okay, Herr Krösch. Können Sie mir sagen, was da für kleine süße Souvenirs an den Kettchen sind?“

„Nun, auf jeden Fall ein paar Nationalheiligtümer der südlichen Halbinsel, darunter der Changdeok-Palast in Seoul und der Bulgkuksa Tempel in Gyeongju, eine Stadt im Südosten. Den Rest müsste ich etwas genauer betrachten und nachschauen. Sicher alles sehr edel und liebevoll gearbeitet. Aber vielleicht sieht es auch wertvoller aus als es ist. Das müssten die Kunstexperten unter die Lupe nehmen.“

„Sie meinen also…“

„Ich meine gar nichts. Ich finde nur, wir sollten nicht voreilig vor Hochachtung erstarren“, stellte Krösch klar.

„Und das Körbchen?“

„Das ist in seiner Verarbeitung mit den Sternenmustern sicher landestypisch.“

„Aber was wollen uns die Sterne sagen? Irgendwie sehen die Muster nicht so aus, als seien sie rein zufällig so angeordnet.“

Krösch zog eine Lupe aus seiner Tasche, die er über das Muster legte, als wollte er eine seltene Briefmarke untersuchen, von den kleinsten Details der Beschriftung bis auf mögliche Beschädigungen der Zacken. „Nein, das ist sicher kein Zufall“, stimmte er zu. „Das sieht mir eher nach einer verkleinerten und leicht stilisierten Kopie der Chosang-Sternenkarte aus.“

„Was für eine Karte?“, fragte Pokroff erstaunt.

„Eine Karte, die 1395 in der Festung Pyungang in Koguryo auf schwarzem Marmor eingraviert wurde und heute von den Kunsthistorikern des Landes offiziell als Koreanischer Nationalschatz 228 anerkannt wird.“

Pokroff nickte anerkennend und respektvoll, ließ in seiner Mimik durchaus einen Anflug von Hochachtung vor einem für ihn bis dato unbekannten ostasiatischen Land erkennen. „Also das hört sich in der Tat sehr spannend und vielversprechend an. Herr Krösch und Herr Schubert, ich schlage vor, unsere Experten von der Spurensicherung nehmen sich das Körbchen mit seinem Inhalt nochmal haargenau vor. Dann wird es sein Geheimnis schon preisgeben.“

„In der Tat“, stimmte Krösch zu. „Aber neben der aufgenähten Sternenkarte soll auch das Geflecht des Körbchens genauestens bis auf die kleinste Textilfaser unter die Lupe genommen werden. Ich habe da so eine ganz vage Vorahnung. Wenn es das ist, was ich vermute, könnten wir es hier mit einer weiteren kleinen Sensation in der ostasiatischen Kunstgeschichte zu tun haben.“

„Sicher, aber die wirkliche Sensation dürfte doch wohl eher der Inhalt sein, sprich diese fein gearbeiteten Anhänger sein, oder nicht?“

„Nicht so voreilig, lieber Kollege. Vielleicht liege ich auch um hundert Prozent daneben. Erst wenn der Stoff und die Legierung untersucht sind, können wir wirklich etwas Genaueres über unsere Fundstücke sagen.“

Manchmal wusste Pokroff nicht, ob er seinen Kollegen lieben oder hassen sollte. Eigentlich agierte er genauso wie Pokroff selbst. Vermutungen und Theorien gab er erst dann preis, wenn sie sich durch Spuren und Beweise untermauern ließen. Eine sehr besonnene Art der Ermittlung, die aber die allzu neugierigen Kollegen und Partner auch ganz schön auf die Folter spannen konnte.

*********************

Es schien, als wollte der lange helle Flur des Uniklinikums in Sachsenhausen überhaupt gar kein Ende nehmen. Tatsächlich kannte jedes Krankenhaus seine eigenen Gesetze, um das Labyrinth an Polikliniken, Korridoren, Aufzügen bis zu den Behandlungs- und Patientenzimmern zu durchdringen. Lisa Naumann schätzte sich glücklich, dass der Drachen am Empfang durch einen spannenden Fernsehkrimi abgelenkt war und sich auf die genaue Nummer der Intensivstation beschränke. Denn sonst hätte sie sich wieder eine genaue maßstabsgetreue Wegbeschreibung anhören müssen, wie sie es von so manchem Besuch in der Frankfurter Uniklinik schon kannte.

„Bitte sehr, hier geht es hinein“, sagte Schwester Agnes und ließ Lisa Naumann alleine mit all den piependen, pochenden und pumpenden Monitoren, EKG- und Beatmungsgeräten, die unablässig Blutdruck, Körpertemperatur und Sauerstoffzufuhr regelten und überwachten. Ein ganz eigener Rhythmus hinter sterilen Schleusen, der dem vital-gesunden Durchschnittsmenschen da draußen verborgen blieb und der die sonst so lebensfrohe Journalistin verängstigte und beunruhigte.

„Nadine?“, sprach sie leise und verhalten und näherte sich ganz vorsichtig dem Krankenbett der Komapatientin, um auf halber Strecke wieder verstört umzukehren.

So sehr es auch zur journalistischen Routine gehörte, hin und wieder Krankenhäuser zu besuchen und prominente Chefärzte zu porträtieren- der Besuch einer Patientin im Koma auf der Intensivstation der Uniklinik stellte für Lisa Naumann doch eine ganz neue Erfahrung und sichtliche Überwindung dar.

„Was kann ich noch für sie tun?“, frage Schwester Agnes, nachdem Lisa Naumann die Tür des Krankenzimmers wieder verschlossen hatte. „Wollen Sie etwa schon wieder gehen?“

„Nein, es ist nur, …ich weiß, nicht, ehm, ich weiß überhaupt nicht, wie ich mich da drin verhalten soll, was ich darf und was nicht“, gab die Journalistin kleinlaut zu.

Nun begann Schwester Agnes zu verstehen und lächelte sanft. „Es gibt also doch noch Menschen, für die das da drin noch ein gewisser Schock ist. Na ja, jedenfalls besser als jene Polizisten, die zunächst einmal fragen, ob die Person da drin überhaupt vernehmungsfähig ist.“

„Nein, das meine ich natürlich nicht…..“

„Wie gut kennen Sie Frau Engelthal denn?“

„Na ja, sagen wir, ich bin etwas besser mit ihr bekannt und auch ein wenig befreundet. Aber auch nicht viel mehr.“

„Das ist gut so. Frau Engelthal hat sonst kaum Angehörige, die Sie hier besuchen kommen. Sprechen Sie einfach ruhig und gelassen mit ihr, sagen Sie irgendetwas Vertrautes. Und gehen Sie ruhig davon aus, dass sie mehr versteht als Sie glauben.“

Lisa Naumann betrat ein zweites Mal das Krankenzimmer und versuchte, sanft die Hand der Komapatientin zu berühren. Wovon sich das Piepen, Pochen und Pumpen der elektronischen High-Tech-Geräte in keinster Weise beirren ließ. Und Nadine?

„Wie geht es dir? Kannst du mich irgendwie verstehen?“

Nadine Engelthals Gesicht strahlte im Schein der Neonlampen wie das Antlitz einer ruhig aber teilnahmslos Schlafenden. Keine Bewegungen, keine Träume, keine Ängste waren darin zu erkennen. Wie der Professor diesen Zustand wohl beschreiben würde?

Für einen Moment versuchte sich die Journalistin abzulenken und rief sich die Recherchen ihres Studienfreundes Klaus Ballenbach ins Gedächtnis, der ihr für eine neue Reportage als selbst ernannter Detektiv der Geschichte helfen wollte. Ballenbach war über das Stichwort „Lauen“, den Mädchennamen von Nadine Engelthal, an den damals in Frankfurt zuständigen Hauptkommissar Otto Wiesinger gekommen. Tatsächlich kamen die Wiesingers ursprünglich aus Südbayern und konnten schon im Frankfurt des frühen 20. Jahrhunderts einiges bewegen. Demnach forschte hier schon in den dreißiger Jahren ein gewisser Chefarzt mit Namen Albrecht Wiesinger, verheiratet mit einer Sibylle Ammann, die als Fachlaborantin in den Berliner Temmlerwerken angestellt war. Dort stellte man Pervitin her, auch bekannt als Hitler-Speed, um die Soldaten der Luftwaffe vor allem im zweiten Weltkrieg wach zu halten. Während Albrecht Wiesinger die medizinischen Experimente mit dem Wirkstoff Metamphetamin am liebsten forcieren wollte, ging Heinrich Wiesinger, Professor am Institut für Pharmazeutische Chemie, zu seinem Bruder zunehmend auf Distanz. Und Otto Wiesinger, der jüngste der drei, machte Karriere bei der Frankfurter Kripo und sah sich in der Pflicht, die Familie zu beschützen und jegliche Ermittlungen, die das Ansehen seines Bruders Albrecht beschädigen könnten, möglichst im Vorfeld kurzzuhalten und abzubiegen. Was mochte das im Fall Lauen, der die Entführung eines chinesischen Kommilitonen an die Frankfurter Polizei gemeldet hatte, für Auswirkungen gehabt haben? Und wusste die Journalistin jetzt womöglich sogar mehr als die Polizei? Jedenfalls war Ballenbach über Informanten aus der damaligen Reporterszene an Hinweise gelangt, dass Otto Wiesinger möglicherweise einen Teil der Ermittlungsakten unterschlagen hatte. Doch welcher Zeitung sollte die Journalistin diese fast schon unglaubliche Geschichte anbieten? Noch musste sie warten, bevor sie sich eine vorschnelle Absage einhandelte und sich womöglich der Lächerlichkeit preisgab.

Lisa Naumann beamte sich zurück in die Realität der Intensivstation und versuchte noch einmal, die Komapatientin anzusprechen.

„Nadine? Nadine? Kannst du mich hören?“

Keine Reaktion.

„Nadine?“

Nichts.

„Nadine, halte durch! Du schaffst das. Man, was hat man dir da nur angetan? War das etwa wirklich die Koreanerin?“

Es schien, als zuckte das Augenlid. Vielleicht, ganz kurz, nahezu unmerklich, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Doch das Gesicht blieb ruhig und entspannt. Was das zu bedeuten hatte? Für Lisa Naumann war klar: Nein, so reagierte keine Schwerkranke im Koma. Schon gar nicht, wenn man den Namen ihrer mutmaßlichen Mörderin erwähnte.

Zum späten Nachmittag waren endlich die Laboruntersuchungen und medizinischen Befunde da. Der Rechtsmediziner Professor Manuel Wolff führte Pokroff und von Erbenstein ins Leichenschauhaus, wo der tote Körper von Pak Il Sung aufgebahrt lag. Dabei schaute er den Kommissar an, als ob er ihm gratulieren wollte.

„Sie lagen mit Ihrer Theorie richtig, Herr Pokroff.“

„Was meinen Sie damit?“

„Der Tote wurde offenbar im Grüneburgpark nur betäubt, dann wohl in einen ruhigen Feldweg außerhalb von Zeilsheim gefahren und erst dort mit einem zweiten Pfeil getötet. Beides fand vor zwei Tagen am frühen Morgen statt, zwischen Betäubung und Tod dürften etwa eine bis eineinhalb

Stunden liegen. Der tödliche Schuss dürfte in der Nähe des Wäldchens außerhalb der Frankfurter Gemarkung erfolgt sein.“

Pokroff musterte den starren Leichnam, der doch etwas Ruhiges ausstrahlte, als sei der junge Mann doch relativ schnell zusammengebrochen, ohne längeren Todeskampf. Er durfte kaum älter als Ende zwanzig sein, wieder ein Mensch mehr, der einfach so aus dem Leben gerissen wurde, weil er zur falschen Zeit den falschen Leuten im Weg war. Was spielte es da noch für eine Rolle, ob der Tatort innerhalb der Stadtgrenzen lag und die Mordstatistik weiter belasten würde? „Wie schon gesagt, in Frankfurt werden dieses Jahr keine Menschen umgebracht.“ Pokroff räusperte sich. „Trotzdem ist der Fall zu tragisch, um darüber irgendwelche komischen Bemerkungen zu machen. Durch welches Mittel erfolgte die Tötung ?“

„Tötung und Betäubung erfolgen beide durch ein Narkosemittel, das man unter dem Namen Hellabrunner Mischung kennt. Sie wurde in den 70er Jahren von Professor Henning Wiesner aus Xylazin und Ketamin entwickelt und zur Narkotisierung von Zootieren durch Luftdruckgewehre, Blasrohre oder Armbrüste eingesetzt. Schon 0,2 Milliliter wirken beim Menschen. Sie wurden intramuskulär durch das Geschoss oberhalb des Gesäßes injiziert. Das zweite Geschoss, das die Wunde am Hals verursachte, dürfte die tödliche Dosis von etwa 3 Millilitern enthalten haben.“

„Das würde also bedeuten, dass man ihn zunächst nur betäuben wollte, um vor dem Tod noch Informationen von ihm zu erpressen?“, fragte von Erbenstein.

„Diese Theorie klingt durchaus schlüssig“, bestätigte Wolff und rückte die Professorenbrille zurecht. „Zu beachten ist im übrigen, dass die Armbrust an sich als Schusswaffe gilt, die Verwendung von Bolzengeschossen mit Substanzen, die aus handelsüblichen Präparaten hergestellt werden können, sich rechtlich in einer Grauzone bewegt, zumal der Gesetzgeber nicht einmal eindeutig formuliert hat, ob der Bolzen ein Geschoss im waffentechnischen Sinn ist…“

„Besten Dank für Ihre Mühe, die Bestimmungen sind uns bekannt.“ Pokroff und von Erbenstein verabschiedeten sich und steuerten das Labor der Spurensicherung an.

Liebhardt schien einigermaßen fasziniert und ratlos zugleich, als er den beiden Kommissaren das Stoffkörbchen zu erklären versuchte.

„Der Goldschmuck innen drin ist vermutlich weniger faszinierend als das Geflecht des Körbchens. Unglaublich. So etwas habe ich selbst auch noch nie gesehen“, betonte er.

„Was ist denn so faszinierend an einem einfachen Körbchen? Meine Mutter hat so etwas früher ständig gehäkelt“, wollte von Erbenstein wissen.

„Ganz gewiss nicht so ein Körbchen. Da drin sind nämlich neben Textil- auch Papierstreifen eingenäht.“

„Papierstreifen?“

„Ganz genau. Und nun halten Sie beide sich mal fest, wenn ich Ihnen sage, was sich auf den Streifen befindet, sofern man das jetzt schon erkennen kann.“

„Oh, wir können’s vor Spannung kaum erwarten. Nun machen Sie mal hin.“ Pokroff räusperte sich abermals. Dieses Mal jedoch mit der Intonation eines preußischen Feldwebels, wie Christiane von Erbenstein kichernd bemerkte.

„Schriftzeichen. Schriftzeichen, die einer asiatischen Schrift angehören könnten und möglicherweise spiegelverkehrt notiert wurden.“

„Wieso spiegelverkehrt?“, fragte Pokroff einigermaßen verwundert.

„Hier, schauen Sie einmal.“ Liebhardt hielt einen gewölbten Taschenspiegel über die Schriftzeichen, um sie zu vergrößern.. „Dummerweise ist alles ziemlich klein und eng geschrieben. Im Spiegelbild betrachtet verlaufen die Linien, An- und Abstriche in einer harmonischen Form von links oben nach rechts unten. So passen sie zu einer Schrift, die von oben nach unten oder von links nach rechts notiert wird. Ohne Spiegel muss man sich das alles in der entgegengesetzten Richtung denken. Und das dazu noch in einer seltenen oder gar frei erfundenen Schriftvariante.“

„Nun, das klingt wirklich sehr interessant“, räumte Pokroff ein. „Und wann können Sie uns da noch Genaueres sagen?“

„Oh, das dauert, das ist eine Heidenarbeit, das alles fein säuberlich aufzutrennen und auseinanderzudröseln. Und das Entschlüsseln der Schrift ist auch nicht so einfach. Da sollte wohl Ihr Kollege aus dem BKA mit ran.“

„Na dann mal frisch ans Werk“, motivierte Pokroff. Die beiden Kommissare wollten gerade gehen, als Zorbas zur Tür hereinkam. Er hatte schließlich noch eine weitere Recherche in Auftrag gegeben, die fast etwas ins Hintertreffen zu geraten drohte.

„Hallo, Herr Liebhardt. Wir sollten doch, ehe wir uns unseren weiteren Ermittlungen zuwenden, noch kurz klären, was Ihre erste Untersuchung zu der Schriftprobe ergeben hat, die ich ihnen gestern ausgehändigt habe. Dazu müsste doch inzwischen auch etwas vorliegen.“

Liebhardt nickte zustimmend. „Also, meine Herren, der Schriftzug und die Druckstärke lassen eindeutig auf die Handschrift einer Dreizehn- bis höchstens Fünfzehnjährigen schließen. Absolut unwahrscheinlich, dass eine erwachsene junge Dame diese Schrift gefälscht hat.“

„So weit waren wir mit unseren Überlegungen fast auch schon“, räumte Pokroff ein. „Sonst haben Sie nichts Interessantes gefunden?“

„Oh doch, nur nicht so ungeduldig, da ist sehr wohl noch etwas.“ Liebhardts Augen leuchteten. „Wir haben auch die Tinte des Kugelschreibers ganz genau analysiert.“

„Und?“

„Also, die Zusammensetzung der Tinte weist eindeutig auf eine ungewöhnliche Mischung mit hohen Anteilen von….“

„Nein, bitte Liebhardt, keine chemische Analyse nach diesem seltsamen Mittagessen. Die Vanillesoße der Roten Grütze schmeckte schon so nach Lebensmittelfarbe. Sagen Sie uns bitte einfach, ob die Analyse der Tinte etwas Relevantes für unsere Ermittlungen ergeben hat.“

„Nun, wie man’s nimmt. Sagen wir mal so: Die Tinte lässt auf ein sehr altes Modell eines Werbekugelschreibers schließen, das zuletzt von einer Firma für Haarwasser in Darmstadt verwendet wurde. Diese Firma ging aber schon Anfang der neunziger Jahre Pleite. Solche alten Kugelschreiber haben wir seit vielen Jahren hier nicht mehr gesehen, alleine, ich kenne hier noch zwei Friseursalons in Frankfurt mit einer derart veralteten Einrichtung, dass ich mir dort so etwas noch vorstellen kann.“

„Besten Dank, das war fast Gedankenübertragung“, stimmte Pokroff zu. „Der Salon Schehrle in der Mainzer Landstraße. Der Besitzer ist ein Fossil aus Heidelberg. Da ist meine Frau früher während ihres Studiums hingegangen. Vor ein paar Wochen hat sie dort mal Hallo gesagt und berichtet, der alte Herr hätte zum ersten Mal seit Jahren mal wieder eine Auszubildende eingestellt. Wir werden das überprüfen.“

„Das kann ich doch nachher machen“, schlug Zorbas vor.

„Nein, nein, mein Guter lass mal, Glatzenschneider aus Heidelberg und junge Friseusen, da vertraue ich lieber auf die Intuition von Christiane.“

Zorbas senkte enttäuscht den Blick, fügte sich dann aber kommentarlos der Anordnung.

Etwa eine Stunde später öffneten Pokroff und von Erbenstein die Tür des Frisiersalons Schehrle. Auf den ersten Blick war innen niemand zu sehen. Doch am Interieur hatte sich wie erwartet seit Jahren nichts verändert. Die Holzwände waren in biederem Braun gehalten, im Wartebereich gruppierten sich dunkelrote Ledersessel um die Nierentische. Friseurstühle, Haarschneidemaschinen und Trockenhauben schienen einem Standard der sechziger oder höchstens siebziger Jahre zu entsprechen.

„Ist da jemand?“, rief Pokroff fragend in die Leere.

Nach ein paar Minuten kam ein untersetzter grauer Herr mit akkuratem Querscheitel aus dem Hinterzimmer. „Hajo, nadierlisch bin isch noch do. Awwer nimmi lang, mer hawwe nämlisch gleisch Feierowend.“

„Entschuldigen Sie bitte, Kommissar Pokroff, und das ist meine Kollegin von Erbenstein. Es dauert auch nicht lange. Wir müssten nur mal bitte Ihre Werbegeschenke sehen. Vor allem Ihre Kugelschreiber.“

„Alla gut, isch bin der Alfons Schehrle, der Chef vun dem Lade do.“ Er ging ein paar Schritte und zog eine Schublade unter der antiken Friseurkasse auf, die er noch von seinem Großvater geerbt hatte, wie der stolz erklärte. „Also, des do sin unsere Griffel , schun e bissel älder, wie mer sehe kann. Die gibt’s aach nur für die ganz liebe und treue Kunde.“

„Gut, und haben Sie in den letzten paar Tagen so einen Kugelschreiber an eine auffällige Person verteilt, an die Sie sich noch erinnern können?“

Schehrle kratzte sich an seinem Scheitel. „Warte se mol, vorgeschtern war so’n Chines‘ do, awwer….Salomé! Kummsch‘ emol bitte!” Schehrle rief nach seiner Auszubildenden und bat sie, von dem kleinen Vorfall zu erzählen, der für etwas Erheiterung gesorgt hatte, da sich in diesen Salon nur selten vornehme Ausländer verirrten. Pokroff musterte die schlanke Salomé; die mit ihren kastanienbraun gefärbten Haaren einen lieblichen Duft verströmte, und war sogleich sicher, dass er mit seiner Intuition richtig lag, Zorbas nicht mit zu dieser Befragung genommen zu haben.

„Also, ein chinesischer oder vielleicht auch koreanischer Kunde, der so um die Vierzig war, hat ein paar Haarfärbemittel gekauft“, berichtete Salomé. Dunkelrot, wenn ich mich recht erinnere. Und dann wollte er unbedingt einen Kugelschreiber. Er fragte so vehement danach, dass mir das auffiel und ich beobachtete, wie er hinausging und draußen so ein Teenie-Mädel bat, etwas für ihn aufzuschreiben.“

„Danke, Sie haben uns sehr geholfen.“ Pokroff und von Erbenstein wollten sich gerade verabschieden, als ein junger Mann von außen durch die Tür stürmte.

„Hey, Salomé, wie sieht‘s aus,, krieg ich noch schnell einen Schnitt? Dein Meister hat bestimmt nichts dagegen, wenn es außer einem ordentlichen Trinkgeld noch eine schöne Spende für die Kaffeekasse gibt.“

„Nee, lass mal, Joe, das sieht schlecht aus, es ist spät und der ist heute nicht gut drauf…“

Salomé hatte noch nicht ausgesprochen, als ihr Chef wie eine Rakete aus dem Hinterzimmer herausgeschossen kam. „Vun wege do Meischder, un all die Pferz. Mir hawwe gleisch Feierowend, un isch bin später noch uff’n Feschtl eigelade. Un jetzt nimmsch deine Penunze un lädscht dei Mädel zum Esse ein. Morge isch aach noch’n Tag.“

Salomé schenkte ihrem Chef ein dankbares Lächeln, hakte sich bei ihrem Freund unter und führte ihn hinaus vor die Tür. „Mach dir nix draus, lass und erst einmal eine Pizza essen gehen“, hauchte sie ihm ins Ohr. „Und jetzt schau nicht so verärgert. Wenn du schön brav bist, schneide ich dir vielleicht später noch die Haare bei mir zu Hause.“

Während Salomé und ihr Freund das Friseurgeschäft verließen, wandte sich Pokroff nochmal an Schehrle. „Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?“

„Hajo, wenn’s sein muss.“

„Wie lange leben und arbeiten Sie schon in Frankfurt?“

„Warte Se mol, des sin jetzt so fuffzen Joahr, dass isch nimmi do unne bin.“ Schehrle erzählte kurz, wie ihm sein Friseurgeschäft in Heidelberg, dass er in alter Familientradition von seinem Vater Eugen Schehrle übernommen hatte, wegen Eigenbedarf gekündigt worden war und er schließlich von seinem Bruder, der um der Liebe willen nach Frankfurt gegangen war und ein Kosmetikgeschäft in Sachsenhausen betrieb, den jetzigen Salon in der Mainzer Landstraße vermittelt bekam. Seine Traditionseinrichtung aus Heidelberg, die wollte er freilich unbedingt mitnehmen. Schehrle grinste schelmisch. Nach den paar Jahren, die er noch bis zu seinem Ruhestand hatte, wollte er den Salon gerne in ein Friseurmuseum umbauen.

„Und wo hatten Sie in Heidelberg Ihren Salon?“, erkundigte sich Pokroff.

„In der Altstadt, so zwische Plöck un Hauptstroß‘, wenn Se sisch do ebbes auskenne.“

„Ein bisschen, meine Frau hat in Heidelberg studiert. Und kannten Sie dort zufällig auch einen gewissen Matthias Lauen?“

„Jo, der kam hin un widder zum Vater in den Lade, awwer nur wenn seine Flamme aus der Uni bei uns hat müsse schaffe.“

„Danke, Herr Schehrle, das war nochmal sehr hilfreich. Wir würden gerne auf Sie zurückkommen, falls wir Sie nochmal brauchen.“

Schehrle empfahl sich und ließ die beiden Kommissare hinaus, um seinen Laden zuzuschließen und den wohlverdienten Feierabend anzutreten.

***************

Wie ein riesiges Puzzlespiel hatte Liebhardt die Papierstreifen auf seinem Tisch ausgebreitet. Stundenlang hatte er sie mit seinen beiden Assistenten sauber aus dem Stoffkörbchen herausgetrennt und versuchte sie nun in umgekehrter Richtung so aneinanderzulegen, dass sich daraus eine wenigstens einigermaßen einheitliche Textstruktur ergeben würde. Was umso mühseliger war, da die Zeichen derart klein geschrieben waren, dass man fast eine Lupe brauchte, um überhaupt irgendwelche Details zu erkennen. Zorbas hatte die ganze Zeit danebengesessen und versucht, den Experten der Spurensicherung mit ein paar wohl gemeinten Ratschlägen zu unterstützen. Wenngleich er in Wahrheit eigentlich ziemlich ratlos war.

„So könnte es passen, mit etwas Glück und Phantasie“, atmete Liebhardt schließlich auf. „Was meinen Sie, Herr Zorbas?“

„Na ja, wenigstens zeigen jetzt die Abstriche alle nach rechts unten. Aber damit bin ich jetzt auch mit meinem Latein am Ende. Oder sagen wir besser, mit meinem Griechisch. Wenn es um griechische oder wenigstens irgendeine Form von kyrillische Schrift ginge, würde mir sicher noch etwas einfallen. Aber diese seltsamen Zeichen kann ich nicht mal annähernd identifizieren oder gar deuten. Wenn doch Krösch endlich kommen würde.“

Liebhardt schaute auf seine Uhr. „Wenn er seine telefonische Zusage einhält, müsste er in etwa zehn Minuten hier sein. Und dann wollen wir mal sehen, ob unser großer Meister da weiterkommt.“

Und Krösch hielt sein Versprechen. Genau genommen waren es sogar nur sieben Minuten später, als die Tür aufging und der Kollege vom BKA hereintrat. Fast konnte man denken, er habe das mit Absicht getan, so geheimnisvoll blickte er Zorbas und Liebhardt an. Gerade so, als ob ihm irgendetwas Besonderes an der mystischen Zahl Sieben liegen würde.

„Na, wie sieht’s aus, gar nicht so einfach, was?“, grinste er.

„Na Sie sind vielleicht gut“, entgegnete Zorbas. „Selbst Georgisch oder Armenisch würde ich zur Not noch irgendwie hinkriegen. Die Schriften sehen zwar fremdartig aus, doch es handelt sich wenigstens um Buchstaben, die genau wie im lateinischen oder griechischen Alphabet von links nach rechts laufen. Aber diesen seltsamen Silbensalat da…“

„Silbensalat, gar nicht mal schlecht, Herr Zorbas.“ Krösch verschob hier und da ein paar Zeichen und rückte sie an ihren richtigen Platz. „Es handelt sich tatsächlich um eine reine asiatische Silbenschrift. Genauer gesagt um eine seltene Variante der südchinesischen Jushu-Schrift, auch Frauenschrift genannt. Aber auch Ihnen muss ich gratulieren, Herr Liebhardt. Sie hatten recht, die Silbenzeichen waren ursprünglich tatsächlich spiegelverkehrt angeordnet.“

„Ach ja“, meinte Zorbas. „Also doch Chinesisch. Wo wir doch inzwischen annehmen müssen, dass wir es eigentlich eher mit Koreanisch zu tun haben.“

„Nur langsam, meine Herren. Es handelt sich tatsächlich um einen koreanischen Text, der mit der chinesischen Yushu-Schrift verschlüsselt wurde. Schließlich schrieb der koreanische Adel auch in Chinesisch, ehe die Buchstabenschrift Hangul erfunden wurde.“

„Na prima. Und was verrät uns nun der Inhalt dieses Textes?“, fragte Liebhardt neugierig.

„Nun ja, historisch gesehen ist er sehr interessant. Es stellt sich nur die Frage, wie er uns in unserem konkreten Fall weiterhilft.“

„Wie meinen Sie das? Nun machen Sie es doch nicht so spannend!“, drängte Zorbas.

„Nun also, es handelt sich um einige Stichworte, die auf eine altkoreanische Sage von König Yi Seong Gye hindeutet. Dieser Herrscher löste 1392 die Koryeo-Dynastie ab und begründete die Yi-Dynastie. Er verlegte die koreanische Hauptstadt nach Hanyang, das heutige Seoul. Er normalisierte die Beziehungen zur chinesischen Ming-Dynastie und führte den Konfuzianismus als Staatsreligion ein.“

„Und was bitte will uns der Verfasser mit diesem Text sagen?“, fragte Zorbas.

„Dafür gibt es nur eine schlüssige Erklärung. Er will die goldenen Ketten mit ihren Schmuckanhänger auf ein sehr weit zurückliegendes goldenes Zeitalter voller Geheimnisse datieren. Was sich aber als purer Bleuff erweist. Denn ich bin sicher, die Anhänger sind eine Fälschung. Was meinen Sie, Liebhardt?“

„Ganz gewiss“, versicherte Liebhardt. „Ich halte sie für eine billige Imitation aus einer minderwertigen Goldlegierung. Trotzdem sehen sie auf den ersten Blick für einen Laien verblüffend echt aus.“

Während Krösch zustimmend nickte, schlug Zorbas die Hände über dem Kopf zusammen. „Eine minderwertige Legierung, man, ich fasse es nicht. Dafür habe ich also hier zwei Stunden diesen Silbensalat zusammengepuzzelt.“ Er versuchte sich vorzustellen, was ihm wohl im Friseursalon entgangen ist. „Also ich mach Schluss für heute, wir kommen doch hier im Moment eh nicht weiter. Tschüss dann!“ Zorbas verließ murrend den Raum und verständigte Pokroff über das Ergebnis des Puzzlespiels.

„Tröste dich, wir sind auch nur einen kleinen Schritt weitergekommen. Aber immerhin, wir haben einen chinesischen oder koreanischen Friseurkunden, der Haarfärbemittel für eine Frau kaufte und mit einem alten Werbekuli etwas notiert hat. Na dann schönen Feierabend.“

********************

Samstag, 12. Mai.

Es soll Hunde geben, die typische Landeier sind und mit ihrer untrüglichen Spürnase am liebsten in der Lüneburger Heide auf Spurensuche gehen. Andere haben sich hingegen so an die Hektik des Großstadtdschungels gewöhnt, dass sie auf einsamen Feldwegen eher depressiv werden und sich umso mehr nach den Leckerli sehnen, die man ihnen zwischen Dienstbesprechungen und Bürokonferenzen manchmal zuschiebt. Zu welcher Sorte würde wohl Sissi gehören? Bei dieser Frage kam Sonja Bernburger, leitende Kommissarin der Polizeidirektion Frankfurt-Flughafen, echt ins Grübeln. Ihre beste Freundin Claudia von Erbenstein hatte ihr die quirlige Pudeldame von Nadine Engelthal, die sie vor einigen Tagen in ihre Obhut genommen hatte, für einen Nachmittagsspaziergang am Samstag anvertraut. Die lebensfrohe Kommissarin, die nur selten etwas anbrennen ließ, verließ sich schließlich auf ihr Bauchgefühl und überredete ihre neueste Eroberung, den Broker Sebastian Diehl, schließlich zu einem Spaziergang am südlichen Mainufer.

„Sie wird mich doch nicht etwa beißen?“, erkundigte sich Sebastian und näherte sich mit seiner flachen Hand vorsichtig dem Kopf.

„Wenn ich dich riechen kann, dann wird sie es sicher auch können. Und überhaupt: Wer mit Bulle und Bär kämpft, der wird doch nicht etwa vor einem kleinen Pudel den Schwanz einziehen, oder?“

„Du verstehst es mal wieder, mich an meiner schwachen Stelle zu packen.“ Sebastian grinste und nahm seine Sonja an der Hand. Glücklicherweise hatte er sich eine dieser edlen Eigentumswohnungen in der Reichsforststraße schon vor einiger Zeit sichern können und hatte nun etwas vorzuweisen, um seine Sonja zu beeindrucken. Weil Sebastian nichts mehr fürchtete als die Parkplatznot, entschlossen sie sich für die Straßenbahn und stiegen an der Heinrich-Hoffmann-Straße aus, von wo aus es nur wenige Meter bis zur Uferpromenade waren. Sie gingen hinunter zum Main und liefen ein Stück, bis sie zu einer Parkbank etwas westlich der Uniklinik kamen. Dort bemerkten sie eine junge Frau mit schulterlangen brünetten Haaren und dunkler Sonnenbrille, die in Gedanken versunken ihren Blick Richtung Nordseite richtete. Was sie dort fixierte, war hinter den dunklen Gläsern nur schwer zu sehen – doch man konnte es erahnen, wenn man die Frau und die Zusammenhänge ihres Alltags kannte.

„Ja, wen haben wir denn da? Die Frau Hauptkommissarin hat wohl ihre neue Vorliebe für den Ebbelwei entdeckt?“, scherzte Sonja Bernburger.

„Hallo, ach du bist es. Wie kommst du denn darauf?“ Carola Pokroff schob die Brille nach oben, um ihrer Bekannten ein augenzwinkerndes Lächeln zu schenken. Polizistinnen und Polizistenfrauen sollten besser zusammenhalten, statt sich in Spekulationen, auf welchen Sondereinsätzen sie ihre Männer verlieren oder sich gegenseitig abspenstig machen könnten, lautete ihre Devise. Und auch Sissi schien sich mit der Frauenfreundschaft zu solidarisieren, was sie durch freudiges Bellen kundtat.

„Weil du nicht irgendwo hinschaust, sondern geradewegs auf den Westhafen Tower.“

„Du weißt doch, in diesem Turm, den die Frankfurter gerne als Geripptes bezeichnen, arbeitete Nadine Engelthal, das Opfer des Mordanschlags, den Waldemar und Christiane zusammen untersuchen.“

„Ja, klar. Schau doch mal, wie schön sich der Himmel in den Fenstern spiegelt.“

„Ja, das ist ein richtiger Türkiston.“ Carola Pokroff war sichtlich entzückt von dem Farbenspiel.

„Dahinter in den oberen Stockwerken, siehst du die Menschen da auf dem Gang umherlaufen.“ Sonja Bernburger zeigte mit dem Arm nach rechts oben. „Da oben muss es wohl so etwas wie einen Empfang geben. Das sieht ja aus wie die Abgeordneten in der Kuppel des Reichstags.“

„Aber siehst du auch die Rippen und das Muster, das sie ergeben. Je sechs von ihnen ergeben ein …“

„…einen Stern.“

„Genau. Es ist dasselbe Muster, das man auch an den Wänden und in den Fenstern der Westendsynagoge findet“, stellte Carola fest.

„Du schon wieder. Die universalgelehrte Frau des Herrn Hauptkommissars. Aber das ist doch sicher reiner Zufall.“

„Sag so was nicht. An Gründonnerstag das Pessachmahl in der Cyriakuskirche. Und die Anna Bergmann und diese religiöse Gruppe, die sich für Frieden und Wiedervereinigung einsetzt. Und ihr Sohn, der sich mit diesen Halbstarken herumtreibt. Vielleicht hängt das ja doch alles irgendwie zusammen.“

Sonja lachte und klopfte ihrer Freundin auf die Schulter. „Aber du wirst doch nicht anfangen, an irgendwelche Verschwörungstheorien zu glauben. Wir gehen mal weiter.“

Sebastian, der die ganze Zeit nichts gesagt hatte, blickte Sonja etwas ratlos von der Seite an. „Hast du heute Nachmittag frei oder ermittelst du zusammen mit Frau Pokroff?“

„Man ist halt immer im Dienst.“

Die beiden marschierten weiter am Mainufer entlang und überquerten den Eisernen Steg Richtung Römer. Über den Liebfrauenberg ging es weiter Richtung Zeil, wo Sonja im Vorbeigehen ein paar Blicke in die Schaufenster erhaschte. Schließlich beschlossen sie, sich auf dem Bauernmarkt an der Konstablerwache eine Grüne Soße mit Bratkartoffeln zu gönnen.

„So, Sissi, jetzt kommst du nochmal unter Menschen. Hier, Sebastian, pass mal bitte einen Moment auf unser Hundchen auf. Dann geh‘ ich uns noch einen Äppler holen.“

Sonja entfernte sich aus dem Blickfeld und Sebastian nahm mit Sissi rechts außen auf einer der Bierbänke Platz. Er fütterte die Pudeldame mit ein paar Bratkartoffeln und merkte nicht, wie sich aus dem Gedrängel der Menschen, die sich über den Markt schoben, ein älterer Mann näherte, der offenbar von ein paar Halbstarken hinter ihm geschubst wurde und sich gerade noch auf dem Biertisch abstützen konnte.

„Könnt ihr nicht aufpassen. Entschuldigung bitte, das ist mir furchtbar peinlich.“

„Schon gut.“ Sebastian nickte versöhnlich, doch Sissi knurrte und bellte den Mann an, als wollte er sie persönlich angreifen.

„Du verdammte… Scheiße, das hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Ich hab dir doch gar nichts getan.“ Der Mann blickte Sebastian irritiert an.“

„Keine Ursache, sie hat sich sicher nur erschrocken.“ Sebastian Diehl packte die Hündin am Halsband und versuchte, beruhigend auf sie einzureden, was ihm aber nicht gelang.

„Ich weiß schon, Pudel und Dackel sind Angstbeißer.“ Der Mann biss die Zähne aufeinander, versuchte ein krampfhaftes Lächeln und verschwand schließlich in der Menschenmenge. Als Sonja Bernburger etwa fünf Minuten später mit den beiden Gerippten zurückkam, bellte Sissi immer noch immer aufgeregt.

„Mensch, was ist denn hier auf einmal los. Den ganzen Nachmittag war der Hund so friedlich und jetzt…“

„Sie hat sich erschreckt. Ein älterer Mann wurde von ein paar Jugendlichen angerempelt und stützte sich hier auf dem Tisch ab. Sie beruhigt sich schon wieder.“

„Ja sicher, aber das ist schon etwas ungewöhnlich. Hast du gesehen, wie der Mann aussah?“

„Hab ich nicht drauf geachtet, ich bin schließlich nicht im Dienst. Etwas älter, Bart, Halbglatze. Eher ist mir sein Geruch aufgefallen. Hatte etwas Herbes und Apartes, nicht aufdringlich, aber fein. Vielleicht ein After Shave?“

„Alle Achtung, wenn das dir aufgefallen ist, dann ist es Sissi sicher erst recht aufgefallen. Aber wenn der Mann nur unglücklich gestolpert ist, warum hat er sie dann damit so aus der Reserve gelockt?“, grübelte Sonja.

„Irgendetwas muss der Hund speziell mit diesem Duft assoziieren“, schlug Sebastian vor.

„Oder mit diesem Mann. Ich werde später Christiane anrufen und ihr davon berichten.“

„Nun iss erst mal. Deine Bratkartoffeln werden kalt.“

Später wollte Sonja ihre Freundin anrufen, erwischte aber nicht mal den Anrufbeantworter. „Nun lass doch, sagtest du nicht, die hat heute auch frei.“ Als Christiane von Erbenstein gegen Abend etwas eilig in Sebastian Diehls Wohnung kam, um Sissi abzuholen, war Sonja gerade nebenan auf Toilette. Und so kam es, dass der Vorfall vorerst doch vergessen wurde.

******************

Von außen sah man nur einen unscheinbaren Eingang, der an die Veranda einer mittelgroßen amerikanischen Ranch erinnerte. Doch wer das Foyer im neuen amerikanischen Modetempel im Einkaufszentrum My Zeil betrat, der wusste, dass er geradezu auf dem Weg ins Allerheiligste war. Und die ausladende Verkaufstheke glich tatsächlich einem Altar, der mit dekorativen Statuetten und silberglitzernden Duftfläschchen des Labels ausgeschmückt war, das hier vorrangig verkauft wurde. Dazu überall diese Wände mit den Malereien schöner Jünglinge und Mädchen, die sich mit Rotweinflaschen an einem springenden Quell der Muße hingaben. Und die nicht weniger schönen jungen Verkäuferinnen, die wie emsige Tempeldienerinnen umherschwirrten und mit ihren Klamotten und durchgestylten Frisuren wie aus dem Modekatalog ausgesucht aussahen. Scoutmodels nannte man so etwas in der Fachsprache.

Zorbas fühlte sich langsam etwas schwindlig von dem betörenden Duft aus den Fläschchen, mit dem die Tempeldienerinnen die Markenkleidung für Junge und Junggebliebene unübersehbar und unüberriechbar besprühten. Und doch schien ihm alles wie eine glückliche Fügung des Schicksals. Weil er Cornelia und ihre Tochter Tamara vor ein paar Tagen zu Unrecht angepflaumt hatte, sollte er sie eigentlich zum Griechen in Höchst einladen. Dann jedoch drängte Tamara auf eine Shopping-Tour im „My Zeil“. Da wusste der junge Kommissar, was die Stunde geschlagen hatte. Tamaras Freund Julius würde sich einfach an die Tour dranhängen, weil er wie Tamara auf die Klamotten von dieser Schickimicki-Boutique stand. Und weil sich Julius immer selbst einlud, wenn er nicht eingeladen war. Dafür konnte Zorbas aber auch eine Gegenleistung verlangen, denn er kannte Julius‘ Leidenschaft und er kannte seinen Vater, den Bundespolizisten Fritz Bechthold, der seinen Sohn im Zweifelsfall in Schach halten würde.

Zorbas beobachtete ein orientalisches Pärchen, das scheinbar etwas orientieurungslos durch die Edelboutique streifte. Er trug einen langen Bart wie ein Salafist und eine Baseballmütze, sie verschleierte sich mit einem dunklen Tschador bis unter die Augen. Obwohl sie durch den Schlitz kaum hindurchgucken konnte, suchte sie mit Umsicht und Geduld die T-Shirts aus, die der Mann mit einem Lächeln oder abwinkenden Fingerzeig quittierte. Keine Frage, wer hier die Hosen anhatte und womöglich seiner Frau regelrecht gebot, sich derart verhüllt zu zeigen. Sollte Frankfurt also doch eine Stadt der Extremisten werden? Zorbas war reichlich unwohl bei diesem Gedanken.

Plötzlich fühlte er einen herzlich-coolen Schlag auf seinem Rücken: „Hey, Chef, hier geht’s doch voll ab, oder? Und weil wir beide bei der Gewinnaktion draußen auf der Zeil einen Dreierpasch gewürfelt haben, kriegen wir jetzt mit diesen Gutscheinen auch noch Super-Rabatt. Toll, was?“

Zorbas fühlte sich durch den „Chef“ nur wenig mehr gebauchpinselt als durch das allzu kumpelhafte „Alter“. Bei aller Freundschaft, der Tonfall der jungen Dame sprach nicht gerade von Respekt für einen wenn auch nur jungen Erwachsenen. Immerhin, das mit den Würfeln war glücklich abgegangen, dabei gab Zorbas eigentlich nicht gerne den Spieler. Doch nun würde Tamara wegen 25 Prozent gleich wieder den Einkauf übertreiben. Zumal ihre Mutter, die sich mit 34 immer noch sehr jugendlich fühlte, auch noch mitgekommen war.

„Ist schon gut, Tammy. Sag mal, wo steckt denn dein Lover?“

„Guck mal hinter dich!“

„Aha, na dann wollen wir mal kurz.“ Zorbas packte Julius sanft aber bestimmt am Schlawittchen und schob ihn an den irritierten Blicken einer bildhübschen Wächterin vorbei in die nächste freie Umkleidekabine.

„So, Sportsfreund, wie sieht’s aus mit Qualifying? Jetzt bist du mit deinem Teil der Leistung dran. Nun zeig mal, was du so draufhast. “

„Na klar doch. Das gehört zu meinen leichtesten Übungen“, schmunzelte Julius und schob Zorbas mit links ein dreifach zusammengefaltetes Notizzettelchen rüber.

„Hm, ein Stick wäre mir aber lieber“, gab sich Zorbas enttäuscht.

„Mir auch, aber was tun, wenn mein Alter meine Vorräte konfisziert und mir das Taschengeld kürzt.“

„Das glaub ich zwar nicht, aber nach schön. Bist du wenigstens inhaltlich weitergekommen?“

„Na logo, war eigentlich ganz easy, nachdem ich mehrere Algorithmen kombiniert und mich dabei etwas durch die Untiefen des Netzes durchgemogelt , äh, ich meine natürlich durchgegoogelt habe“, flüsterte Julius. „Tschasun, das gibt zunächst mal überhaupt keinen Sinn. Da muss sich jemand verhört haben. Aber Joseon, das ist die Eigenbezeichnung für Nordkorea.“ Wie vereinbart zog Julius einen Notizzettel aus seiner Tasche, auf dem er einige Stichpunkte notiert hatte: Demnach gab es ein paar Erwähnungen eines geheimen Forums Joseon Internal Segrets, natürlich ohne direkte Links. Nicht ganz einfach, aber nach einigen Minuten und ein paar Special Tricks und Firewalls hatte es das junge Computergenie tatsächlich geschafft. Im Forum gab es eine Userin mit dem Decknamen „Dianne Blue Angels“. War das wirklich Nadine? Dianne antwortete geflüchteten Nordkoreanern, die von grausamen Straflagern berichteten, in denen man zumindest früher auch Medikamente und Drogen ausprobiert hatte. Sie schrieb, ihr Vater hatte damals selbst Kontakt zu Koreanern und habe möglicherweise eine verschlüsselte Nachricht in einem Stoffkörbchen erhalten. Sie kündigte an, sie wolle die Geschichte ihres Vaters ins Internet stellen und mithelfen, diesen Stalinisten und ihren Mittelsmännern im Westen, die beim Beschaffen der Devisen helfen, das Handwerk zu legen.“

„Hervorragend. Sonst noch etwas“, erkundigte sich Zorbas.

Julius zeigte auf den letzten Absatz seines Notizzettels. Demnach schrieb ein Nordkoreaner in besagtem Forum, eines der Medikamente sei ein Metamphetamin. Darauf antwortete ein Tscheche, dieses Zeug werde immer noch in Prager Geheimlabors hergestellt und als Chrystal Meth über die Grenze nach ganz Europa geschmuggelt. Er wisse über Beziehungen von einem neuen Wirkstoff, der gerade auf den Markt geworfen wird. Nur traue sich noch keiner an die Polizei, weil die Dealer dort ganze Viertel kontrollieren.

Zorbas klopfte Julius dankbar auf die Schulter. „Gut gemacht, Junge. Komm, such dir noch ein Muscle Shirt aus und für Tammy noch was Bauchfreies. Auf so was steht ihr Kids doch.“

Zorbas ignorierte den Betrag, der auf der Rechnung stand. Er würde sowieso mit Karte bezahlen, damit der Verlust nicht so spürbar würde. Aber der Einsatz hatte sich gelohnt. Und ein großes Eis für alle gab es obendrein auch noch. Das allerdings zahlte dann anstandshalber Cornelia.

Schon eine Stunde später trafen sich Zorbas, Pokroff und Krösch im Büro des Hauptkommissars, der wie so oft nur das mühsam anerkennende Schnauben eines Gardeoffiziers hervorbrachte, der seinen Rekruten loben will.

„Sehr ordentlich, Junge“, grunzte er. „Feindliche Spionage eiskalt enttarnt.“

„Einfach nur großartig, Herr Zorbas, wie Sie das hingekriegt haben!! Und der Bub ist ein echtes Nachwuchstalent. Man, solche Leute können wir in unserem Team brauchen.“ Krösch überschlug sich regelrecht mit seinen Lobeshymnen.

Pokroff hatte derweil die Adresse des Notizzettels eingetippt und sich erfolgreich in die Plattform eingeloggt. „Na prima, dass mich das jetzt nicht wundert!“ rief er, als wollte er triumphieren. Doch seine Stimme hatte einen sarkastischen Unterton. „Ich liebe unseren Beruf und unsere täglichen Erfolge. Hier, schaut euch das an! Kein einziger Link zu den Nachrichten, wer wann und wo interniert war und dort welche Folterungen erlebt hat, ist noch aktiv. Alles ist stillgelegt oder nur mit zusätzlichen Passwörtern zu erreichen.“

„Das gibt’s doch nicht!“ Zorbas schaute ungläubig zu Krösch. Sollte etwa all seine Arbeit umsonst gewesen sein?

Krösch probierte mehrere Minuten lang eifrig, die Plattform zu überlisten, versuchte es mit immer neuen Klicks und Passwörtern. „Nichts zu machen“, gab er sich schließlich geschlagen. „Da waren echte Profis am Werk. Das ist wohl etwas für unsere Spezialeinheit. Gebt mir das Ding und ich höre mich sofort um.“

„Na prost Mahlzeit!“ fluchte Pokroff. „Ich wüsste da auch noch jemanden, aber der ist seit heute im Urlaub.“ Er reichte Krösch den Zettel. Die geheime Adresse hatte er sich vorher abgeschrieben. Doch intuitiv beschloss er, nicht zu verraten, an wen er gerade dachte.

„Ach, nur so ein Bekannter, der sich damit auskennt“, antwortete er kurz auf Kröschs Frage. Und das in einem derart belanglosen und nebensächlichen Tonfall, dass es der BKA-Chef dabei bewenden ließ.

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Gegen Abend fuhr das stattliche Taxi des Grafen Georg von Erbenstein in der Hohenstaufenstraße vor. Den Frankfurter Feierabendverkehr wollte sich der gnädige Herr im eigenen Auto nicht mehr antun, auch die Straßenbahn war ihm zu überfüllt und zu unzuverlässig. Doch wenn er sich schon die Kosten für eine eigene Limousine ersparte, dann wollte der Graf wenigstens in einem standesgemäßen Mercedes der gehobenen Klasse gefahren werden. Von Erbenstein war nicht umsonst Stammkunde bei einer Zentrale geworden, die solche Wünsche erfüllte. Denn bekanntlich hatten die Taxis der Mainmetropole nicht gerade den besten Ruf.

Mit sicherem Schritt steuerte von Erbenstein den Seoul Shop an. Mehrmals hatte er sich die Adresse und Wegbeschreibung auf seinem Laptop angesehen und mit den Streetmaps der einschlägigen Online-Dienste abgeglichen, um ganz sicher zu sein. Bae grüßte den eleganten Herrn mit einer sanften Verbeugung, wie sie in seinem Land als Zeichen des Respekts üblich ist. Von Erbenstein erwiderte den Gruß ebenfalls mit einer Verbeugung, denn einseitigen Respekt fand er unziemlich. Dann ging er durch die Regale, durchforstete die abgepackten Nudelsuppen und Reisgerichte mit ihren exotischen Schriftzeichen, inspizierte kurz die Ginsengwurzeln und Seetangbündel, um sich dann mit unsicherem Blick den Teesorten zuzuwenden.

„Kann ich Ihnen helfen, Herr?“, erkundigte sich Bae.

„Ich suche eigentlich nur ein schönes Geschenk für Korea-Freunde. Hm, vielleicht versuche ich es doch mit Sake oder Pflaumenwein. Könnten Sie mir da etwas Gutes empfehlen?“

Bae holte aus dem hinteren Regal zwei Flaschen, hübsch eingepackt in einem Geschenkkarton mit Motiven von Pagoden und immergrünen Bergkketten.

„Bitte, der Herr. Sake ist japanischer Reiswein, und auch der Pflaumenwein kommt aus Japan. Ich habe hier für Sie zwei Flaschen koreanischen Reiswein. Der eine heißt Cheongju und hat einen sehr klaren und edlen Geschmack. Der andere heißt Makgeolli und ist etwas milchig-trüb. Vom Geschmack erinnert er leicht an Federweißer, aber er ist auch von besonderer Qualität. Das ist das Beste, was wir haben. Eine Flasche kostet 15 Euro, ich gebe Ihnen beide zusammen für 20 Euro.“

„Danke, gut, dann nehme ich noch das koreanische Kochbuch hier dazu.“ Von Erbenstein hoffte, durch einen großzügigeren Einkauf den Händler freundlich und gesprächig zu stimmen.

Bae ging zur Kasse und tippte die beiden Flaschen und das Kochbuch ein.

„Darf es sonst noch etwas sein?“

„Nur eine Frage. Es war doch hier in der Nähe, wo vor vier Jahren die Leiche einer nordkoreanischen Artistin gefunden wurde?“

Bae schüttelte den Kopf. „Eine ganz furchtbare Geschichte. Es ist besser, nicht mehr davon zu reden.“

„Es stimmt aber schon, dass man die Tote in der Nähe Ihres Geschäfts gefunden hat?

„Was wollen Sie mit dieser Frage bezwecken?“ Baes Gesicht verfärbte sich rot, seine Hände begannen leicht zu zittern. Wer mochte dieser fremde Herr nur sein und was wollte er von ihm? Wie ein Polizist sah er jedenfalls nicht gerade aus.

„Ich möchte gerne verstehen, warum die junge Artistin sterben musste. Ich war vor vielen Jahren auch mal in eine Zirkusartistin verliebt, müssen Sie wissen.“

„Vermutlich wollte man mir eins auswischen. Eben, weil ich vor Jahrzehnten selbst aus Nordkorea geflohen bin. Es sollte so aussehen, als ob ich der Mörder bin, damit man mich für Jahre wegsperrt. Einige Tage Untersuchungshaft sind es dann ja auch geworden.“

„Aber wer soll es dann wirklich gewesen sein?“

„Das konnte die Polizei nie ermitteln. Ich frage mich bis heute, ob da überhaupt eine Koreanerin gestorben ist. Die Genossen haben sie allzu schnell und offensichtlich identifiziert.“ Bae setzte nun wieder sein sanftes Lächeln auf. Offenbar hatte ihn der Herr mit seiner mitfühlenden Art überzeugt. „Auch Sie haben vielleicht einen Doppelgänger, einen Graf in Frankreich. Gerade wir Asiaten würden Sie beide kaum unterscheiden können.“

„Woher wissen Sie, dass ich ein Graf bin?“, entgegnete von Erbenstein irritiert.

„Na, das war ja jetzt nur so ein Beispiel.“

„Schön, aber warum haben Sie damals der Polizei nichts von Ihrer Theorie gesagt?“

Bae zuckte mit den Schultern. „Ich habe es damals zumindest vorsichtig versucht. Aber wer hätte mir schon geglaubt? Am Ende konnte ich froh sein, dass ich die wenigstens von meiner Unschuld überzeugen konnte. So, und jetzt möchte ich nicht mehr darüber reden, wenn Sie das bitte verstehen möchten.“

„Natürlich. Aber dafür würde ich gerne noch diesen Tee bei Ihnen kaufen.“

„Grüner Sangjang-Tee mit Reis. Eine gute Wahl. Belebt und schont dabei doch die Nerven.“

Von Erbenstein nickte anerkennend und verabschiedete sich. Bae sortierte die Buddhafiguren in seinem Schaufenster und streichelte der Doraemon-Katze zärtlich über das Fell. „Jetzt wird es brenzlig für mich“, dachte er.

Evangelos Zorbas und Kim Schmidt gingen am Main spazieren und versuchten, den unfassbaren Tod von Park Il Sung zu verarbeiten. Während die untergehende Sonne ein paar goldfunkelnde Strahlen in den Main zauberte, war es Kim nach allem möglichen zumute, nur nicht nach Romantik.

„Okay, so gute und enge Freunde waren wir zwar nicht. Aber wenn ein junger Mensch so plötzlich aus dem Leben gerissen wird, ist es einfach unfassbar. Und ihr bei der Polizei müsst mit so etwas täglich umgehen?“

„Ja, allerdings, und man wird sich wohl nie daran gewöhnen“, räumte Zorbas ein. „Wie sehr unterstützte Park eure Gruppe bei der Hilfe für Nordkorea? Und stimmt es, dass er die World Unity Mission aus persönlichen Gründen verließ?“

„Die persönlichen Gründe waren wohl Unstimmigkeiten mit anderen Mitgliedern, weil ihnen seine politische Aufklärung über Nordkorea zu weit ging. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er war da am etwas dran. Ich könnte mir vorstellen, dass er zumindest Kontakte zum NIS unterhielt.“

„Der NIS, was war das gleich nochmal?“

„Der National Intelligence Service, der Geheimdienst von Südkorea. Aber was denkst du über die World Unity Mission? Nur weil einzelne Mitglieder schwer durchschaubar sind, muss doch nicht die ganze Organisation kriminell sein, oder?“

„Wir haben in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Sektenbeauftragten diese Organisation nochmal genau überprüft. Bislang haben sie sich nach außen eher unauffällig verhalten und sind lediglich mit Aktionen für den Weltfrieden und die Einheit der christlichen Völker in Erscheinung getreten. Daran ist natürlich nichts Illegales.“

Zorbas wurde durch einen Handyanruf von Pokroff je unterbrochen. „Eben habe ich einen Anruf von Jiri Tomaczek bekommen, einem Freund von mir bei der Kripo in Prag. In einem Vorort haben sie ein Drogenlabor hochgenommen und drei mordverdächtige Dealer festgenommen. Die Hintermänner haben das Zeug in halb Europa vertrieben und dürften der organisierten Kriminalität angehören, Verbindungen werden bis nach Berlin und Frankfurt angenommen. Nun rate mal, was man dort produziert hat? N-Methylamphetamin und verwandte Substanzen.“

„Also möglicherweise auch das Mittel, das man Nadine Engelthal verabreicht hat?“

„Davon könnte man ausgehen. Mit etwas Glück wird heute oder spätestens morgen ein Beitrag in den Nachrichten gesendet.“

„Siehst du“, meinte Zorbas zu Schmidt, „wir müssen in der organisierten Drogenkriminalität unsere Täter suchen. Die Frage ist nur, wie wir eine Verbindung zu unseren Morden und Mordanschlägen herstellen können.“

Das Bundeskriminalamt schaltete sich umgehend ein und versuchte, die tschechischen Kriminalbehörden durch Ermittlungen in der Frankfurter Drogenszene tatkräftig zu unterstützen. Tatsächlich konnte ein Auftragsdealer mittleren Ranges festgenommen werden, der den N-Methylamphetamin-Handel mit Prag abwickelte und sich als der Chef eines Kuriers entpuppte, den man drei Monate zuvor mit Chrystal Meth im Verkaufswert von 10 000 Euro am Rhein-Main-Flughafen verhaftet hatte. Doch auf keiner der beiden Seiten kam man an die Hintermänner heran, die man in mehreren osteuropäischen Ländern vermutete. Vor allem, was Tschechien betraf, spekulierten die deutschen Medien vorschnell, die Korruption würde alle weiteren Ermittlungen im Keim ersticken. Die Tschechen wiederum konterten, die Abnehmer säßen auch in Deutschland, also müsse es auch dort ein organisiertes Vertriebsnetz geben, das wiederum von einflussreichen Kreisen in der Politik geschützt würde.

Pokroff fuhr in die Unfallklinik nach Seckbach und berichtete Professor Bornemann von der Entdeckung des Drogenlabors. Es sprach tatsächlich viel dafür, das hier auch die Substanz hergestellt wurde, mit der man einen Anschlag auf Nadine Engelthal verübt hatte. Aber natürlich kamen dafür auch andere womöglich noch unentdeckte Labors in Frage. Auch Siggi, Ansgar und Kurt, die ihren Jugendstrafen wegen versuchten Mordes entgegensahen, wurden eingehend zu den Crystal Meth-Lieferungen aus Prag befragt. Sie verweigerten hierzu jegliche Angaben, waren aber immerhin bereit, den rothaarigen Dealer so genau zu beschreiben, dass gesagter Mann in der Nähe des Hauptbahnhofes verhaftet werden konnte. Aber auch der Rothaarige biss sich lieber auf die Zunge, als irgendetwas über die Hintermänner auszusagen- zu groß war die Angst vor Vergeltungsanschlägen.

„Wir müssen uns wohl damit begnügen, wieder einmal nur die kleinen Fische geschnappt zu haben“, bilanzierte Krösch eines Tages bei einer dienstlichen Unterredung mit Pokroff in dessen Büro.

„Ja, und darüber hinaus haben unsere Behörden so viel Arbeit in die Ermittlungen gesteckt und weitere Händler und Zuträger festgenommen, um am Ende doch nur festzustellen, dass Crack immer noch das Hauptproblem in Frankfurt ist. Es gibt hier nur eine kleine Zahl an Konsumenten, die Crystal Meth auf Partys oder zur Leistungssteigerung im Job ausprobiert haben, um dem immer größeren Erwartungsdruck unserer ach so coolen Gesellschaft gerecht zu kommen. Eben dort könnte man auch eine veränderte Substanz erwarten, wie man sie Nadine Engelthal offensichtlich eingeflößt hat. Aber hier kommen wir einfach nicht weiter. Und wir haben auch den Überblick verloren, wo sich Yoko in der Zwischenzeit versteckt hält.“

Krösch widersprach. „Wir sollten Yoko nicht mit diesem neuen Fall in Zusammenhang bringen. Wenn Yoko überhaupt die gesuchte Täterin ist, dann hat sie Frau Engelthal ein hoch entwickeltes Designermedikament verabreicht, das lediglich auf der Basis von N-Methylamphetamin entwickelt wurde. Doch hier geht es um den breiten Markt mit Crystal Meth, das ist ein ganz anderes Geschäft. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Unsere Sondereinheiten halten zudem seit Wochen alle Augen und Ohren offen. Im Frankfurter Raum ist sie sicher nicht mehr, vielleicht hat sie sich sogar ins Ausland abgesetzt. Dann könnte sie wenigstens hier kein Unheil mehr anrichten.“

„Ein schwacher Trost“, entgegnete Pokroff mit gesenktem Blick. „Und was macht eigentlich unsere geheime Internetplattform, der Nadine Engelthal offenbar angehörte?“

„Leider auch Fehlanzeige. Die haben uns nicht gebleufft, sondern sämtliche wichtigen Informationen tatsächlich gelöscht, nachdem sie spitzgekriegt haben, was die Engelthal damit vorhat. Tatsächlich laufen alle Links hoffnungslos ins Leere.“

„Verdammt nochmal, warum kommt uns da immer jemand zuvor? Wir müssen uns schon noch weiter anstrengen, wenn wir am Ende nicht wie die Verlierer dastehen wollen.“ Dabei rotierten die Gedanken in Pokroffs Kopf weiter. Er ahnte, dass es irgendwo Zusammenhänge geben musste, in die auch Nadine Engelthal und Yoko verwickelt sein mussten. Doch er konnte das Puzzle in seinem Kopf einfach nicht zusammensetzen.

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Samstag, nach Christi Himmelfahrt

Zwei Tage nach Christi Himmelfahrt glich Frankfurt noch immer einer Stadt im Belagerungszustand. Die große Demonstration der Occupy-Bewegung mit befreundeten linken und antikapitalistischen Gruppen aus ganz Deutschland stand bevor. Und nach den ersten gewaltsamen Ausschreitungen im März, bei denen die Glasscheiben vieler Geschäfte in der Innenstadt zertrümmert worden waren, befanden sich Polizeiaufgebote der gesamten Republik in höchster Alarmbereitschaft. Die Goethestraße mit ihren Luxusboutiquen mochte zwar polarisieren, doch graute es vielen Frankfurtern vor erneutem Vandalismus, Übergriffen auf Menschen und Gebäude und Schaufenstersplittern, die sich in der Sonne und dem Glanz der Straßenlaternen wie funkelnde Kristalle über die City zerstreuten. Trotzdem hatten die Autofahrer in diesen Tagen viel Grund zum Fluchen, wenn sie statt den gewohnten heimischen Blauuniformierten auf schwäbische Kollegen trafen, deren Einsatzgebiete ebenso grün waren sie ihre Kampfanzüge – außer einem achselzuckenden „Noi“ hatten die kaum etwas zu vermelden, wenn man sie nach Umleitungsmöglichkeiten rund um den Anlagenring fragte.

In einer Studentenbude im Ostend saß eine Gruppe junger revolutionärer Russinnen und trank Wodka.

„Auf den Erfolgsschlag gegen die kapitalistischen Schweine und unsere sozialistische Revolution, die am Ende siegen wird“, prostete Olga in die Runde und blickte der Kampfgefährtin mit kurz geschorenen rötlichen Haaren und rotem Stirnband genau gegenüber fordernd in die Augen. „Man, Genossin Tanja, du guckst ja wirklich so eiskalt wie eine unterdrückte Partisanin aus dem winterlichen Jakutsk, die auf Rache sinnt und noch auf ihre große Stunde wartet. Doch heute ist ein Tag zum Feiern. Wenn wir später zur großen Kundgebung dazustoßen, werden wir diesen Mini-New Yorker Pseudozockern hier schon zeigen, was ein kommunistischer Hammer ist. Nastrowje!“

Doch die Kämpferin gegenüber war offensichtlich nicht in Feierlaune. „Etwas mehr Disziplin, wenn ich bitten darf“, entgegnete sie streng. „Ihr seid ja alle schon betrunken. Wenn ich etwas bei meinem Studium in Deutschland gelernt habe, dann die bittere Tatsache, dass der Alkohol den Kampfgeist der Arbeiterklasse schon seit der industriellen Massenausbeutung schwächt. Weshalb die Frankfurter leider vergeblich versuchten, ihre Apfelweinkneipen durch Wasserhäuschen zu ersetzen.“

„Aber nicht doch, nicht doch. Auch Breschnew und Jelzin liebten den Wodka….“

„Und wohin das geführt hat, das hat man ja gesehen. Am Ende musste er sich von einem deutschen Herzspezialisten behandeln und mit Ikonen bezahlen lassen, die dieser dann wiederum dem Frankfurter Ikonenmuseum stiftete. Komm Irina“, erwiderte die Kurzhaarige und packte die einzige Studentin am Arm, die ihr noch nüchtern und zuverlässig schien. Sie zerrte sie in die Küche und verschloss die Tür. Dann fischte sie aus der Tasche ihrer Bluse einen winzigen kamesinroten Stick mit glitzernden Sternchen, geeignet, um ihn in einem Nagelstudio zu verstecken.

„Wieviele seid ihr? Seit wann trefft ihr euch, zu welchen Stützpunkten haltet ihr Kontakt und an welchen Aktionen nehmt ihr teil?“

„Wie sind normalerweise sechs. Wir treffen uns regelmäßig seit letzten Sommer, haben ein Netzwerk zu allen wesentlichen Stützpunkten in Lateinamerika und Ostasien aufgebaut und unterstützen die Aktionen von Occupy und Bloccupy Frankfurt, um die Macht der Banken und ihrer imperialen Feudalknechte zu zerstören. Wir verneigen uns vor keinem Herrn außer vor den revolutionären Führern und ihren großen Nachfolgern, die der dekadenten US-Globalisierung die Stirn bieten“, erklärte Irina pathetisch.

„Sehr gut, auf dich ist wenigstens noch Verlass. Dir werde ich diesen Datenträger anvertrauen. Hier, da ist alles drauf, unsere Doktrin, unser Staatskonzept und unsere Losungen für die Zukunft. Bald wird unsere Nachrichtenagentur der Welt eine wichtige Botschaft überbringen. Unser Volk wird noch viele Opfer bringen müssen, doch wichtig ist die Stärke des Militärs, das für unsere Ideale kämpft. Auf dem Stick ist auch die Formel für das Medikaments, das uns hart und stark macht. Nur der dekadente Westen spricht von Drogen, weil er nichts kennt als den schädlichen Rausch, um vor der unerträglichen Realität des angeblich so paradiesischen Kapitalismus zu fliehen. Es ist wichtig, dass du die Szene in Frankfurt weiter beobachtest. Sie wollen eine billige abhängig machende Kopie des Medikaments auf den Markt werfen, um weitere Menschen in die Abhängigkeit der Drogenausbeuter zu führen. Doch dieser Stoff ist dazu geschaffen, um aus den kampfbereiten Genossen das Letzte herauszuholen, ihre Durchhaltekraft zu stärken. Dieser Datenträger ist nur für absolut zuverlässige Genossen aus der früheren Sowjetunion und Ostasien bestimmt. Ist das klar?“

„Na logisch. Aber sag mal, ist das nicht der Stoff, den auch die Nazis verwendet haben?“

„Erfunden haben es die Japaner. Die deutschen Nazis haben es nur missbraucht. Und wir waren kurz davor, die Erfindung zu perfektionieren.“

Während die kurzhaarige Tanja die Genossin Irina indoktrinierte und ihr den Stick in die Hand gab, hörte sie, wie die anderen fünf Russinnen im Nachbarraum tuschelten: „Na, die Kleine hat’s aber faustdick hinter den Ohren. Ich hab’s ja immer gewusst: Die Jakuten sind nicht nur Schlitzaugen, sondern auch ganz schön gewiefte Schlitzohren.“

Doch davon ließ sich die Kämpferin nicht irritieren. Während Tanja zurück zu den anderen ging, warf sie noch einen Blick aus dem Fenster und glaubte eine Kamera und ein Fernglas im vierten Stock der Mietskaserne schräg gegenüber zu entdecken. Dann folgte sie Tanja und gab ihre Kommandos in die Runde.

„Los jetzt, Genossinnen, die Pflicht ruft. Ich nehme den Stapel der Kampfschriften hier links und ihr teilt euch den Rest und kommt später nach.“

Sie entschwand mit ihrem Packen revolutionärer Schriften und ward schon Minuten später in den Wirren der demonstrierenden Massen nicht mehr gesehen. Während sie sich die dunkle Sturmmütze, den Schal und die Sonnenbrille tief ins Gesicht zog und sich für die Außenwelt perfekt und unauffällig in die organisierten Truppen der vermummten Schwarzen Garden einreihte, brachen Yokos innere Zweifel wieder auf. Würde sie ihre neue Identität als Tanja durchhalten? Kurze Haare, sibirische Herkunft mit leichtem Akzent, ihre neuen russischen Freundinnen hatten ihr das dank ihrer fast perfekten Sprachkenntnisse bisher offenbar abgenommen. Der russische Großvater, der irgendwo im koreanisch-russisch-chinesischen Grenzgebiet in ihrem Familienstammbaum aufgetaucht war, mochte ihr dabei geholfen haben.

Was aber, wenn ihre ganz ursprüngliche, eigentliche, wahre Identität jemals ans Licht kam? Yoko konnte sich glücklich schätzen, dass sie eine Weggefährtin aus dem Dunstkreis von Blockupy Frankfurt gefunden hatte, die sie unauffällig über die Landstraßen des hessischen Rieds und der Rheinebene über Ladenburg bis zu den Genossinnen nach Heidelberg geführt hatte. Das war vor etwa einer Woche gewesen, als die Kontrollen an den Ausfallstraßen von Frankfurt verstärkt worden waren. In Heidelberg hatte Yoko kurz nach ihrer Ankunft Irina kennengelernt, die regelmäßig nach Frankfurt pendelte und sie über die aktuellen Entwicklungen am Main unterrichtete. Irina hatte Yoko schließlich bei einer revolutionären Gruppe von russischen Studentinnen eingeführt, wo sie Aufnahme fand und ihr jetziges Aussehen annahm. Keine Frage, diesen jungen Frauen musste Yoko dankbar sein. Doch in den Augen ihrer ursprünglichen Auftraggeber waren vor allem die jungen und lebenslustigen Russinnen der Generationen nach Stalin bereits dekadente Revisionistinnen, die dem Kapitalismus verfallen waren. Yoko fühlte sich hin- und hergerissen. Sie wusste gar nicht, was sie von ihren Auftraggebern noch halten sollte, wo sie schon seit Jahren nichts mehr von ihren Eltern gehört hatte. Lebten sie überhaupt noch, oder hielten sie ihre Tochter wirklich für tot, weil sie offiziell für tot erklärt worden war? Sie konnte es nicht wissen. Sie versuchte irgendwo in der Mitte zwischen all diesen absurden Extremen zu navigieren und ihren eigenen neuen Weg zu finden.

Sehr bald hallten die gellenden Parolen durch die Frankfurter Innenstadt. Während die einen nur die internationale Solidarität beschworen, gingen die anderen noch einen Schritt weiter und skandierten „Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland, wir nehmen unser Schicksal selbst in die Hand!“ Der Demonstrationszug schlug einen Bogen und marschierte den Mainkai entlang Richtung Bahnhofsviertel, als sich eine kleine Gruppe des schwarzen Blocks plötzlich mit Transparenten und Regenschirmen verhüllte und mit ihren lauten Schreien und Drohungen einen massiven Polizeieinsatz zu provozieren drohte.

Die Staatsmacht zeigte ihre Zähne, die Polizisten formierten sich zur flexiblen Marschordnung einer modernen Schildkröte mit erhobenen Abwehrschildern, die rechte Hand an der Halterung des Gummiknüppels. „Haut ab, Ihr Bullenschweine!!!! Das ist unsere Demo, hier habt ihr nichts verloren, ihr Büttel und Folterknechte des Kapitalismus!“, gellte es durch die Reihen. „Haut ab, haut ab, haut ab!!!“

An der nächsten Kreuzung rückte abermals eine massive Front an Spezialkräften mit Schutzschildern, Gummiknüppel und Tränengasflaschen an und versuchte, den Demonstrationszug zu umzingeln und aufzulösen. Man konnte sich ausmalen, dass hier in Kürze mit einer Einkesselung zu rechnen war. „Verdammt, die trennen uns von unseren Genossen ab!“, rief ein Demonstrant durch die Reihen des schwarzen Blocks. „Und das nur, weil zwei unserer Kämpfer im Anlagenring Rauchbomben gegen die Willkür der Staatsmacht geworfen haben!“ Während die Beamten gegen die erhobenen Fäuste der Demonstranten vorgingen und einige von ihnen verhafteten oder mit dem Knüppel außer Gefecht setzten, konnte sich eine junge vermummte Frau gerade noch mit einem beherzten Sprung auf das Geländer eines Gründerzeithauses retten. Zwei Polizisten, die sie an ihrem wagemutigen Sprung zu hindern suchten, hatte sie mit einem Fußtritt k.o. getreten.

Die vermummte Frau grüßte das Pärchen im Eingang zum Balkon, das verschreckt hinter seinen Che- Guevara-Flaggen in Deckung ging mit ihrem Victory-Zeichen und rannte wie der Blitz durch die Wohnung Richtung Haustür. „Hasta la victoria siempre!“, rief ihr das Pärchen mit lateinamerikanischem Akzent hinterher.

Im Lauf durch das Treppenhaus riss sich Yoko das schwarze Tuch aus dem Gesicht, streifte ein blaues Sweatshirt über und verkleidete sich notdürftig mit einer schwarzen gelockten Perücke und einer anderen dunklen noch stärker spiegelnden Sonnenbrille. Mit diesem Requisit auf der Nase konnte sie Bilder der Videokameras wenigstens notdürftig reflektieren und zurückwerfen.

Bevor die nächste Einheit der bewaffneten Sturmtruppen anrückte, konnte sich Yoko rechtzeitig in die Moselstraße absetzen und rannte nun kreuz und quer durch das abgeriegelte Bahnhofsviertel Richtung Mainzer Landstraße. Schließlich erreichte sie die Mainzer Landstraße und rannte weiter Richtung Gallus, wo sie nach einigen Metern über die Frankenallee eine der Seitenstraßen erreichte. Sie wusste, dass sich hier ein halboffizieller Buchhändler niedergelassen hatte und eine Vielzahl an kommunistischen Standardwerken und Kampfschriften verkaufte – von Karl Marx „Das Kapital“ bis zu den Flugblättern des Leuchtenden Pfads in deutscher Übersetzung.

Mit letztem Atem erreichte die Frau den Laden und streckte dem Inhaber Christian Lockernagel die Hand zum Gruß entgegen.

„Grüß dich, Genosse. Mein Name ist Wei Jin aus Beijing. Ich hatte bei dir die Leitschrift des Großen Steuermanns für unser sinologisches Seminar bestellt.“

Lockernagel erwiderte den Gruß, ging kurz nach hinten, um sich das nordkoreanische Pateiabzeichen zu betrachten, dass sie ihm unauffällig in die Hand gedrückt hatte. Dann kehrte er zurück, schickte die beiden noch verbliebenen Kunden nach Hause und wandte sich seiner Genossin zu.

„Dein Besuch kommt sehr plötzlich in diesen schweren Zeiten. Zumal mich der Kadi auch auf dem Kieker hat. Also, was kann ich für dich tun?“

„Du musst mir helfen. Bei der Demo hat’s einen Zwischenfall mit Rauchbomben gegeben. Ich konnte den Bullen gerade noch so entwischen. Wenn die mich finden und verhaften, fliegt meine Tarnung auf. Und dann kann ich mir gleich einen Strick nehmen.“

„Aber hier gibt es doch so viele Buchläden und Gemeinden in der Nähe. Sag denen, du kommst aus dem Süden und dann nehmen die dich sicher auf.“

„Bist du verrückt, die sind evangelikal und liefern mich gleich aus. Bitte lass mich jetzt nicht im Stich!“

„Okay, aber nur für die nächsten Stunden.“ Lockernagel drehte sich verunsichert um. „Hier, nimm meinen Wohnungsschlüssel und geh durch den Hinterausgang. Die Luft ist hoffentlich noch rein. Wenn du in der Wohnung bist, gehe vorsichtig auf den Balkon zu und schaue hinter dich, bis dir meine Freunde ein Zeichen geben. Wir werden dich schon retten.“

Yoko sicherte die Lage und schlich sich vorsichtig das Treppenhaus hinauf. Im oberen Stockwerk schloss sie die Tür auf und tastete sich ins Wohnzimmer vor, wo ihr gleich die durchgewühlten Regale auffielen. Im Eingang stand ein Mann mittleren Alters, daneben ein zweiter Mann, offenbar asiatischer Herkunft. Ob Chinese, Japaner, Vietnamese oder auch Koreaner – selbst Yoko war sich da nicht so sicher. Yoko erkannte nur, dass es hier kein Zurück mehr gab.

„Guten Tag. Mein Name ist Eckhard Richter. Ich arbeite für den Verfassungsschutz. Wir wussten, dass Sie hierher kommen werden, wenn Sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Herrn Lockernagel haben wir schon im Visier. Und Sie stehen jetzt am Scheideweg.“ Richter winkte eine Frau aus der Küche herein. „Frau Lee, bitte durchsuchen Sie die junge Dame sehr genau. Sie können das besser und sensibler als ihr Kollege.“

Yoko warf den beiden Asiaten einen verächtlichen Blick zu. „Verräter! Einfach so die Seiten zu wechseln.“ Doch in diesem Moment hatte Richter schon seine Pistole gezogen.

„Es war für uns nicht leicht, uns geschickt zwischen den Fronten zu bewegen, ohne das Vertrauen des Chefs zu verlieren. Aber wir mussten, denn der Weg des Chefs führt uns in den Wahnsinn. Wir wissen, dass du das inzwischen auch so siehst und uns unterstützen willst, weil du sonst keine Zukunft mehr für dich siehst“, entgegnete der junge Mann, der sich als Yun Bon-Hwa vorstellte. „Ich stamme aus dem Süden, befürworte gewisse Werte des kommunistischen Nordens, aber glaube letztlich nur an ein einziges und einiges Korea, das friedlich vereint werden muss. So, wie es in Deutschland geschah. Das können wir nur in Frieden und Freiheit erreichen. Ich sollte die World Unity Mission unterwandern, aber letztlich haben sie mich mit ihren Zielen überzeugt.“

Yoko überlegte kurz: Hier handelte es sich also um die zwei Agenten, die auf ihrer Observierungsliste stehen sollten und die sich nun als Aktivisten und Friedensengel der World Unity Mission tarnten.

Frau Lee wies Yoko an, den Rucksack abzulegen, den Stick mit Informationen über eine neues Präparat auf den Tisch zu legen und sich mit den Händen an die Wand zu stellen. Dann befahl sie ihr, sich vorsichtig umzudrehen. „Setzen Sie sich auf den Holzstuhl und rühren Sie sich nicht!“ Frau Lee durchsuchte ihre Papiere und blätterte fast schon genüsslich in ihrem Reisepass herum, auf der Suche nach Namen, Identitäten und Visumsstempeln.

„Na, wie heißen wir denn nun?“, fragte Richter mit einfühlsamer Stimme.

„Wie es im Pass steht. Omura Yoko, 24 Jahre alt, Studentin aus Tokio mit Visum für Studienaufenthalt in Frankfurt.“

„Aha, und Ihren nordkoreanischen Pass haben Sie bei den Kollegen im Restaurant von Amsterdam gelassen, Choi Eun-Su? Und einen gefälschten chinesischen und südkoreanischen Pass haben Sie sicher auch noch?“

Zum ersten Mal seit den vergangenen Wochen wurde Yoko vor Schreck blass im Gesicht.

Richter lächelte sanft. „Sie sehen, wir sind über alles informiert. Auch über Ihren wahren Grund, warum Sie nach Europa gekommen sind. Diplomatentochter und Nachwuchskraft beim nordkoreanischen Geheimdienst, die ihre große Chance sieht, als ein cleverer Holländer das erste nordkoreanische Lokal in Amsterdam eröffnet. Eine wichtige Devisenquelle für den großen Führer in Pjöngjang, der viele solcher Lokale in China und Malaysia eröffnen ließ, da er die Einnahmen dringend für sein Atomprogramm braucht. Und weil die Lokale gute Umschlagplätze für Drogen sind und sich in den Hinterzimmern gut getarnte Büros unterbringen lassen, die zusammen mit dem Nordkoreanischen Geheimdienst Cyberattacken, afrikanischen Elfenbeinschmuggel und den Diebstahl von Bit Coins in mehrstelliger Millionenhöhe organisieren. Irgendwoher muss die Knete ja schließlich kommen, um bei den internationalen Sanktionen all die Waffen und den Luxus zu finanzieren, um die loyalen Parteigenossen bei Laune zu halten.

Und Amsterdam, die schöne Stadt der Grachten und der Weltoffenheit, Liebe, Gras, da kommt man doch in Versuchung, oder? Und derweil hungern in Ihrer Heimat die Menschen immer noch, es bewegt sich nichts, auch nicht unter dem Großen Nachfolger Kim Jong-Un, oder?“

Yokos Blässe wich einer plötzlich aufsteigenden Zornesröte: „Was denken Sie sich eigentlich? Wir müssen hart arbeiten, um das Restaurant zu unterhalten, zu kochen, die Kellnerinnen und Tänzerinnen zu kontrollieren und die Buchhaltung mit diesem geldgierigen holländischen Geschäftsmann zu regeln. Da bleibt höchstens Zeit für einen gemeinsamen Spaziergang, aber niemals für einen Ausflug ins Rotlichtviertel oder so!“

„Wie auch immer, wir haben Sie durchschaut. Sie waren ambitioniert und haben Ihre Chance genutzt. Frankfurt am Main, die Stadt von Occupy, südkoreanischen Gemeinden und Missionsvereinen, die sich für eine Wiedervereinigung einsetzen. Da gibt es jede Menge auszukundschaften. Also pendeln Sie zwischen Frankfurt und Amsterdam, dort geben Sie sich als Chinesin aus, hier spielen sie die japanische oder kampferprobte russische Studentin. Doch seit Sie in Europa leben und die Nachrichten Ihres Landes aus unseren Medien mitkriegen, denken Sie daran, die Seiten zu wechseln. Und was war das heute? Sie haben der Kommilitonin sicher nicht den richtigen Stick mit den Geheimformeln gegeben. Der ist wahrscheinlich längst in Heidelberg verloren gegangen. Und dann diese Pamphlete, diese Parolen, der Auftritt auf der Demo, das ist doch alles nur Schau. Doch nun müssen Sie sich entscheiden.“

„Es gibt nichts zu entscheiden. Bei der Frankfurter Polizei werde ich verdächtigt, einen Mord begangen zu haben. Doch wenn ich nach der Begegnung mit Ihnen zu meinen Leuten zurückkehre, werde ich liquidiert. Bei uns ist das etwas anders als bei Ihrem so genannten Verfassungsschutz. Wie heißt es so schön bei James Bond: Unser System duldet keine Versager.“

„Aber wir können Ihnen doch helfen und Sie schützen, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten.“

„Sie können gar nichts.“ Mit einem wendigen Satz war Yoko aufgesprungen und hatte sich dem schnellen Zugriff ihres Landsmannes entzogen, der sie daran zu hindern suchte.

„Bleiben Sie stehen!“, forderte sie Richter auf.

Yoko bewegte sich rückwärts Richtung Balkon, während Richter und Yun langsam auf sie zugingen.

„Kommen Sie nicht näher!“, schrie Yoko und zauberte aus ihrer hohlen Hand ein aufklappbares Taschenmesser mit scharfer Klinge hervor. Frau Lee langte sich hilflos in ihre Hosentasche und brachte nur ein kurzes und verzweifeltes „Unglaublich!“ hervor. Ein kurzer Moment hatte für Yoko genügt, um sie abzulenken und ihr das Messer unbemerkt zu entwenden.

„Na, das wollen wir doch mal sehen!“, brüllte Yun, packte sie überraschend, ruckartig und mit derartiger Kraft am Arm, so dass ihr das Messer aus der Hand fiel. Gerade wollte er sie in Handschellen legen, als sich Yoko mit einem heftigen Taekwondo-Sprung aus seiner Umklammerung löste, und ihm dabei noch die Pistole aus dem Halfter zog.

„Noch eine falsche Bewegung und ich schieße euch beide über den Haufen.“

Sie tippelte zwei weitere Schritte und drehte kurz den Kopf. Yoko hatte das Balkongeländer fast erreicht. Sie erklomm mit der einen Hand die Brüstung, in der anderen Hand immer noch die Pistole – und sprang! Fünf Sekunden später hörte man ihren gellenden Schrei und das zerspringende Glas eines Vordachs.

Richter und sein koreanischer Assistent rannten zum Geländer und blickten auf das zersprungene Glasdach einer Werkstatt, unter dem sich die matten Konturen eines gestürzten menschlichen Körpers erahnen ließen. Die Bebauung in den Hinterhöfen des östlichen Gallus war derart dicht und unübersichtlich, dass man den Zugang zu der Werkstatt von oben nicht erkennen konnte. „Na, das war’s dann wohl!“, konstatierte Richter mit gehässigem Grinsen. „Hab doch immer gewusst, dass unsere kleine Koreanerin nicht so tough ist, wie sie tut. Los, wir klettern über den Balkon nebenan zum Nachbarhaus. Bis die Bullen da sind und die Lage hier gepeilt haben, sind wir schon über alle Dächer dieser Stadt hinweg.“ Richter und Yun musterten noch einmal die umliegende zerklüftete Dachlandschaft, schauten auf das zersprungene Vordach und machten sich über die Nachbarhäuser aus dem Staub.

Richter und Yun waren behende über den Balkon und das benachbarte Vordach geklettert, hatten einen blonden Mann beiseite gestoßen und ihm das Handy entrissen, als dieser sie an der Flucht zu hindern drohte. Und doch war keine zehn Minuten später neben einem Rettungswagen auch eine Polizeistreife vor Ort. Ein Nachbar vom Hinterhaus schräg gegenüber hatte den Schrei und das Klirren der Scheiben gehört, sofort den Notruf betätigt und einen Mordanschlag gemeldet – und nun zahlte sich die Nähe der Feuer- und Rettungswache im Gallus aus, die trotz des Großeinsatzes für Occupy Frankfurt die nötigen Einsatzkräfte mobilisieren konnte. Der Hauseingang in den Hinterhof zur Werkstatt mit dem Dach aus Plexiglas war schon bald gefunden, bald darauf waren die Mainzer Landstraße und auch das Gebiet zwischen Frankenallee und Friedrich-Ebert-Anlage abgeriegelt. Lockernagel versuchte noch schnell zu entkommen. Doch sein Fluchtweg war ebenso abgeschnitten wie der zweier weiterer Männer, die sich als harmlose Stammbesucher des Hauses und des Buchgeschäfts bezeichneten. Sie hörten und spürten schon kurz darauf das wohl bekannte Klicken der Handschellen.

Weitere zehn Minuten später waren auch Zorbas und der neue Kollege Wagner vor Ort, nachdem sie vom Präsidium mit Blaulicht über den Alleenring gedüst waren und sich ihren Weg durch die hermetisch abgeriegelte Innenstadt freigeschlagen hatten. In der Frankenallee bewunderten sie die nahezu perfekte Absperrung mit Flatterband, die ihre Kollegen bereits vorgenommen hatten. Dann wurden sie von einer mittlerweile vertrauten und trotz aller Unruhe sicher und freundschaftlich klingenden Stimme in Empfang genommen.

„Ah, der Herr Zorbas und unser junger Freund, wie war noch gleich der Name?“ Klemens Krösch klopfte Wagner mit einem fast jovialen Lächeln auf die Schulter.

„Wagner“, ergänzte dieser.

„Ah, der Herr Wagner. Also, wir haben das Haus gesichert, das Gelände weiträumig abgeriegelt und zwei verdächtige Männer auf der Frankenallee festgenommen, die bestimmt aus der konspirativen Wohnung über der Buchhandlung fliehen wollten. Ihre Personalien werden gerade überprüft, die ausführliche Vernehmung erfolgt später. Natürlich behaupten sie, nichts von dem Mordanschlag und dem Sturz bemerkt zu haben….“

„Gerade habe ich gesehen, wie die Feuerwehr noch an der schweren Eingangstür hantiert. Haben Sie den Tatort im Innenhof des Hausen schon in Augenschein genommen?“, fragte Zorbas.

„Nein, dazu sind wir noch nicht gekommen. Aber nach dem Notruf zu urteilen ist die Frau wohl kaum noch am Leben“, versicherte Krösch.

Stunden liegen. Der tödliche Schuss dürfte in der Nähe des Wäldchens außerhalb der Frankfurter Gemarkung erfolgt sein.“

Pokroff musterte den starren Leichnam, der doch etwas Ruhiges ausstrahlte, als sei der junge Mann doch relativ schnell zusammengebrochen, ohne längeren Todeskampf. Er durfte kaum älter als Ende zwanzig sein, wieder ein Mensch mehr, der einfach so aus dem Leben gerissen wurde, weil er zur falschen Zeit den falschen Leuten im Weg war. Was spielte es da noch für eine Rolle, ob der Tatort innerhalb der Stadtgrenzen lag und die Mordstatistik weiter belasten würde? „Wie schon gesagt, in Frankfurt werden dieses Jahr keine Menschen umgebracht.“ Pokroff räusperte sich. „Trotzdem ist der Fall zu tragisch, um darüber irgendwelche komischen Bemerkungen zu machen. Durch welches Mittel erfolgte die Tötung ?“

„Tötung und Betäubung erfolgen beide durch ein Narkosemittel, das man unter dem Namen Hellabrunner Mischung kennt. Sie wurde in den 70er Jahren von Professor Henning Wiesner aus Xylazin und Ketamin entwickelt und zur Narkotisierung von Zootieren durch Luftdruckgewehre, Blasrohre oder Armbrüste eingesetzt. Schon 0,2 Milliliter wirken beim Menschen. Sie wurden intramuskulär durch das Geschoss oberhalb des Gesäßes injiziert. Das zweite Geschoss, das die Wunde am Hals verursachte, dürfte die tödliche Dosis von etwa 3 Millilitern enthalten haben.“

„Das würde also bedeuten, dass man ihn zunächst nur betäuben wollte, um vor dem Tod noch Informationen von ihm zu erpressen?“, fragte von Erbenstein.

„Diese Theorie klingt durchaus schlüssig“, bestätigte Wolff und rückte die Professorenbrille zurecht. „Zu beachten ist im übrigen, dass die Armbrust an sich als Schusswaffe gilt, die Verwendung von Bolzengeschossen mit Substanzen, die aus handelsüblichen Präparaten hergestellt werden können, sich rechtlich in einer Grauzone bewegt, zumal der Gesetzgeber nicht einmal eindeutig formuliert hat, ob der Bolzen ein Geschoss im waffentechnischen Sinn ist…“

„Besten Dank für Ihre Mühe, die Bestimmungen sind uns bekannt.“ Pokroff und von Erbenstein verabschiedeten sich und steuerten das Labor der Spurensicherung an.

Liebhardt schien einigermaßen fasziniert und ratlos zugleich, als er den beiden Kommissaren das Stoffkörbchen zu erklären versuchte.

„Der Goldschmuck innen drin ist vermutlich weniger faszinierend als das Geflecht des Körbchens. Unglaublich. So etwas habe ich selbst auch noch nie gesehen“, betonte er.

„Was ist denn so faszinierend an einem einfachen Körbchen? Meine Mutter hat so etwas früher ständig gehäkelt“, wollte von Erbenstein wissen.

„Ganz gewiss nicht so ein Körbchen. Da drin sind nämlich neben Textil- auch Papierstreifen eingenäht.“

„Papierstreifen?“

„Ganz genau. Und nun halten Sie beide sich mal fest, wenn ich Ihnen sage, was sich auf den Streifen befindet, sofern man das jetzt schon erkennen kann.“

„Oh, wir können’s vor Spannung kaum erwarten. Nun machen Sie mal hin.“ Pokroff räusperte sich abermals. Dieses Mal jedoch mit der Intonation eines preußischen Feldwebels, wie Christiane von Erbenstein kichernd bemerkte.

„Schriftzeichen. Schriftzeichen, die einer asiatischen Schrift angehören könnten und möglicherweise spiegelverkehrt notiert wurden.“

„Wieso spiegelverkehrt?“, fragte Pokroff einigermaßen verwundert.

„Hier, schauen Sie einmal.“ Liebhardt hielt einen gewölbten Taschenspiegel über die Schriftzeichen, um sie zu vergrößern.. „Dummerweise ist alles ziemlich klein und eng geschrieben. Im Spiegelbild betrachtet verlaufen die Linien, An- und Abstriche in einer harmonischen Form von links oben nach rechts unten. So passen sie zu einer Schrift, die von oben nach unten oder von links nach rechts notiert wird. Ohne Spiegel muss man sich das alles in der entgegengesetzten Richtung denken. Und das dazu noch in einer seltenen oder gar frei erfundenen Schriftvariante.“

„Nun, das klingt wirklich sehr interessant“, räumte Pokroff ein. „Und wann können Sie uns da noch Genaueres sagen?“

„Oh, das dauert, das ist eine Heidenarbeit, das alles fein säuberlich aufzutrennen und auseinanderzudröseln. Und das Entschlüsseln der Schrift ist auch nicht so einfach. Da sollte wohl Ihr Kollege aus dem BKA mit ran.“

„Na dann mal frisch ans Werk“, motivierte Pokroff. Die beiden Kommissare wollten gerade gehen, als Zorbas zur Tür hereinkam. Er hatte schließlich noch eine weitere Recherche in Auftrag gegeben, die fast etwas ins Hintertreffen zu geraten drohte.

„Hallo, Herr Liebhardt. Wir sollten doch, ehe wir uns unseren weiteren Ermittlungen zuwenden, noch kurz klären, was Ihre erste Untersuchung zu der Schriftprobe ergeben hat, die ich ihnen gestern ausgehändigt habe. Dazu müsste doch inzwischen auch etwas vorliegen.“

Liebhardt nickte zustimmend. „Also, meine Herren, der Schriftzug und die Druckstärke lassen eindeutig auf die Handschrift einer Dreizehn- bis höchstens Fünfzehnjährigen schließen. Absolut unwahrscheinlich, dass eine erwachsene junge Dame diese Schrift gefälscht hat.“

„So weit waren wir mit unseren Überlegungen fast auch schon“, räumte Pokroff ein. „Sonst haben Sie nichts Interessantes gefunden?“

„Oh doch, nur nicht so ungeduldig, da ist sehr wohl noch etwas.“ Liebhardts Augen leuchteten. „Wir haben auch die Tinte des Kugelschreibers ganz genau analysiert.“

„Und?“

„Also, die Zusammensetzung der Tinte weist eindeutig auf eine ungewöhnliche Mischung mit hohen Anteilen von….“

„Nein, bitte Liebhardt, keine chemische Analyse nach diesem seltsamen Mittagessen. Die Vanillesoße der Roten Grütze schmeckte schon so nach Lebensmittelfarbe. Sagen Sie uns bitte einfach, ob die Analyse der Tinte etwas Relevantes für unsere Ermittlungen ergeben hat.“

„Nun, wie man’s nimmt. Sagen wir mal so: Die Tinte lässt auf ein sehr altes Modell eines Werbekugelschreibers schließen, das zuletzt von einer Firma für Haarwasser in Darmstadt verwendet wurde. Diese Firma ging aber schon Anfang der neunziger Jahre Pleite. Solche alten Kugelschreiber haben wir seit vielen Jahren hier nicht mehr gesehen, alleine, ich kenne hier noch zwei Friseursalons in Frankfurt mit einer derart veralteten Einrichtung, dass ich mir dort so etwas noch vorstellen kann.“

„Besten Dank, das war fast Gedankenübertragung“, stimmte Pokroff zu. „Der Salon Schehrle in der Mainzer Landstraße. Der Besitzer ist ein Fossil aus Heidelberg. Da ist meine Frau früher während ihres Studiums hingegangen. Vor ein paar Wochen hat sie dort mal Hallo gesagt und berichtet, der alte Herr hätte zum ersten Mal seit Jahren mal wieder eine Auszubildende eingestellt. Wir werden das überprüfen.“

„Das kann ich doch nachher machen“, schlug Zorbas vor.

„Nein, nein, mein Guter lass mal, Glatzenschneider aus Heidelberg und junge Friseusen, da vertraue ich lieber auf die Intuition von Christiane.“

Zorbas senkte enttäuscht den Blick, fügte sich dann aber kommentarlos der Anordnung.

Etwa eine Stunde später öffneten Pokroff und von Erbenstein die Tür des Frisiersalons Schehrle. Auf den ersten Blick war innen niemand zu sehen. Doch am Interieur hatte sich wie erwartet seit Jahren nichts verändert. Die Holzwände waren in biederem Braun gehalten, im Wartebereich gruppierten sich dunkelrote Ledersessel um die Nierentische. Friseurstühle, Haarschneidemaschinen und Trockenhauben schienen einem Standard der sechziger oder höchstens siebziger Jahre zu entsprechen.

„Ist da jemand?“, rief Pokroff fragend in die Leere.

Nach ein paar Minuten kam ein untersetzter grauer Herr mit akkuratem Querscheitel aus dem Hinterzimmer. „Hajo, nadierlisch bin isch noch do. Awwer nimmi lang, mer hawwe nämlisch gleisch Feierowend.“

„Entschuldigen Sie bitte, Kommissar Pokroff, und das ist meine Kollegin von Erbenstein. Es dauert auch nicht lange. Wir müssten nur mal bitte Ihre Werbegeschenke sehen. Vor allem Ihre Kugelschreiber.“

„Alla gut, isch bin der Alfons Schehrle, der Chef vun dem Lade do.“ Er ging ein paar Schritte und zog eine Schublade unter der antiken Friseurkasse auf, die er noch von seinem Großvater geerbt hatte, wie der stolz erklärte. „Also, des do sin unsere Griffel , schun e bissel älder, wie mer sehe kann. Die gibt’s aach nur für die ganz liebe und treue Kunde.“

„Gut, und haben Sie in den letzten paar Tagen so einen Kugelschreiber an eine auffällige Person verteilt, an die Sie sich noch erinnern können?“

Schehrle kratzte sich an seinem Scheitel. „Warte se mol, vorgeschtern war so’n Chines‘ do, awwer….Salomé! Kummsch‘ emol bitte!” Schehrle rief nach seiner Auszubildenden und bat sie, von dem kleinen Vorfall zu erzählen, der für etwas Erheiterung gesorgt hatte, da sich in diesen Salon nur selten vornehme Ausländer verirrten. Pokroff musterte die schlanke Salomé; die mit ihren kastanienbraun gefärbten Haaren einen lieblichen Duft verströmte, und war sogleich sicher, dass er mit seiner Intuition richtig lag, Zorbas nicht mit zu dieser Befragung genommen zu haben.

„Also, ein chinesischer oder vielleicht auch koreanischer Kunde, der so um die Vierzig war, hat ein paar Haarfärbemittel gekauft“, berichtete Salomé. Dunkelrot, wenn ich mich recht erinnere. Und dann wollte er unbedingt einen Kugelschreiber. Er fragte so vehement danach, dass mir das auffiel und ich beobachtete, wie er hinausging und draußen so ein Teenie-Mädel bat, etwas für ihn aufzuschreiben.“

„Danke, Sie haben uns sehr geholfen.“ Pokroff und von Erbenstein wollten sich gerade verabschieden, als ein junger Mann von außen durch die Tür stürmte.

„Hey, Salomé, wie sieht‘s aus,, krieg ich noch schnell einen Schnitt? Dein Meister hat bestimmt nichts dagegen, wenn es außer einem ordentlichen Trinkgeld noch eine schöne Spende für die Kaffeekasse gibt.“

„Nee, lass mal, Joe, das sieht schlecht aus, es ist spät und der ist heute nicht gut drauf…“

Salomé hatte noch nicht ausgesprochen, als ihr Chef wie eine Rakete aus dem Hinterzimmer herausgeschossen kam. „Vun wege do Meischder, un all die Pferz. Mir hawwe gleisch Feierowend, un isch bin später noch uff’n Feschtl eigelade. Un jetzt nimmsch deine Penunze un lädscht dei Mädel zum Esse ein. Morge isch aach noch’n Tag.“

Salomé schenkte ihrem Chef ein dankbares Lächeln, hakte sich bei ihrem Freund unter und führte ihn hinaus vor die Tür. „Mach dir nix draus, lass und erst einmal eine Pizza essen gehen“, hauchte sie ihm ins Ohr. „Und jetzt schau nicht so verärgert. Wenn du schön brav bist, schneide ich dir vielleicht später noch die Haare bei mir zu Hause.“

Während Salomé und ihr Freund das Friseurgeschäft verließen, wandte sich Pokroff nochmal an Schehrle. „Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?“

„Hajo, wenn’s sein muss.“

„Wie lange leben und arbeiten Sie schon in Frankfurt?“

„Warte Se mol, des sin jetzt so fuffzen Joahr, dass isch nimmi do unne bin.“ Schehrle erzählte kurz, wie ihm sein Friseurgeschäft in Heidelberg, dass er in alter Familientradition von seinem Vater Eugen Schehrle übernommen hatte, wegen Eigenbedarf gekündigt worden war und er schließlich von seinem Bruder, der um der Liebe willen nach Frankfurt gegangen war und ein Kosmetikgeschäft in Sachsenhausen betrieb, den jetzigen Salon in der Mainzer Landstraße vermittelt bekam. Seine Traditionseinrichtung aus Heidelberg, die wollte er freilich unbedingt mitnehmen. Schehrle grinste schelmisch. Nach den paar Jahren, die er noch bis zu seinem Ruhestand hatte, wollte er den Salon gerne in ein Friseurmuseum umbauen.

„Und wo hatten Sie in Heidelberg Ihren Salon?“, erkundigte sich Pokroff.

„In der Altstadt, so zwische Plöck un Hauptstroß‘, wenn Se sisch do ebbes auskenne.“

„Ein bisschen, meine Frau hat in Heidelberg studiert. Und kannten Sie dort zufällig auch einen gewissen Matthias Lauen?“

„Jo, der kam hin un widder zum Vater in den Lade, awwer nur wenn seine Flamme aus der Uni bei uns hat müsse schaffe.“

„Danke, Herr Schehrle, das war nochmal sehr hilfreich. Wir würden gerne auf Sie zurückkommen, falls wir Sie nochmal brauchen.“

Schehrle empfahl sich und ließ die beiden Kommissare hinaus, um seinen Laden zuzuschließen und den wohlverdienten Feierabend anzutreten.

***************

Wie ein riesiges Puzzlespiel hatte Liebhardt die Papierstreifen auf seinem Tisch ausgebreitet. Stundenlang hatte er sie mit seinen beiden Assistenten sauber aus dem Stoffkörbchen herausgetrennt und versuchte sie nun in umgekehrter Richtung so aneinanderzulegen, dass sich daraus eine wenigstens einigermaßen einheitliche Textstruktur ergeben würde. Was umso mühseliger war, da die Zeichen derart klein geschrieben waren, dass man fast eine Lupe brauchte, um überhaupt irgendwelche Details zu erkennen. Zorbas hatte die ganze Zeit danebengesessen und versucht, den Experten der Spurensicherung mit ein paar wohl gemeinten Ratschlägen zu unterstützen. Wenngleich er in Wahrheit eigentlich ziemlich ratlos war.

„So könnte es passen, mit etwas Glück und Phantasie“, atmete Liebhardt schließlich auf. „Was meinen Sie, Herr Zorbas?“

„Na ja, wenigstens zeigen jetzt die Abstriche alle nach rechts unten. Aber damit bin ich jetzt auch mit meinem Latein am Ende. Oder sagen wir besser, mit meinem Griechisch. Wenn es um griechische oder wenigstens irgendeine Form von kyrillische Schrift ginge, würde mir sicher noch etwas einfallen. Aber diese seltsamen Zeichen kann ich nicht mal annähernd identifizieren oder gar deuten. Wenn doch Krösch endlich kommen würde.“

Liebhardt schaute auf seine Uhr. „Wenn er seine telefonische Zusage einhält, müsste er in etwa zehn Minuten hier sein. Und dann wollen wir mal sehen, ob unser großer Meister da weiterkommt.“

Und Krösch hielt sein Versprechen. Genau genommen waren es sogar nur sieben Minuten später, als die Tür aufging und der Kollege vom BKA hereintrat. Fast konnte man denken, er habe das mit Absicht getan, so geheimnisvoll blickte er Zorbas und Liebhardt an. Gerade so, als ob ihm irgendetwas Besonderes an der mystischen Zahl Sieben liegen würde.

„Na, wie sieht’s aus, gar nicht so einfach, was?“, grinste er.

„Na Sie sind vielleicht gut“, entgegnete Zorbas. „Selbst Georgisch oder Armenisch würde ich zur Not noch irgendwie hinkriegen. Die Schriften sehen zwar fremdartig aus, doch es handelt sich wenigstens um Buchstaben, die genau wie im lateinischen oder griechischen Alphabet von links nach rechts laufen. Aber diesen seltsamen Silbensalat da…“

„Silbensalat, gar nicht mal schlecht, Herr Zorbas.“ Krösch verschob hier und da ein paar Zeichen und rückte sie an ihren richtigen Platz. „Es handelt sich tatsächlich um eine reine asiatische Silbenschrift. Genauer gesagt um eine seltene Variante der südchinesischen Jushu-Schrift, auch Frauenschrift genannt. Aber auch Ihnen muss ich gratulieren, Herr Liebhardt. Sie hatten recht, die Silbenzeichen waren ursprünglich tatsächlich spiegelverkehrt angeordnet.“

„Ach ja“, meinte Zorbas. „Also doch Chinesisch. Wo wir doch inzwischen annehmen müssen, dass wir es eigentlich eher mit Koreanisch zu tun haben.“

„Nur langsam, meine Herren. Es handelt sich tatsächlich um einen koreanischen Text, der mit der chinesischen Yushu-Schrift verschlüsselt wurde. Schließlich schrieb der koreanische Adel auch in Chinesisch, ehe die Buchstabenschrift Hangul erfunden wurde.“

„Na prima. Und was verrät uns nun der Inhalt dieses Textes?“, fragte Liebhardt neugierig.

„Nun ja, historisch gesehen ist er sehr interessant. Es stellt sich nur die Frage, wie er uns in unserem konkreten Fall weiterhilft.“

„Wie meinen Sie das? Nun machen Sie es doch nicht so spannend!“, drängte Zorbas.

„Nun also, es handelt sich um einige Stichworte, die auf eine altkoreanische Sage von König Yi Seong Gye hindeutet. Dieser Herrscher löste 1392 die Koryeo-Dynastie ab und begründete die Yi-Dynastie. Er verlegte die koreanische Hauptstadt nach Hanyang, das heutige Seoul. Er normalisierte die Beziehungen zur chinesischen Ming-Dynastie und führte den Konfuzianismus als Staatsreligion ein.“

„Und was bitte will uns der Verfasser mit diesem Text sagen?“, fragte Zorbas.

„Dafür gibt es nur eine schlüssige Erklärung. Er will die goldenen Ketten mit ihren Schmuckanhänger auf ein sehr weit zurückliegendes goldenes Zeitalter voller Geheimnisse datieren. Was sich aber als purer Bleuff erweist. Denn ich bin sicher, die Anhänger sind eine Fälschung. Was meinen Sie, Liebhardt?“

„Ganz gewiss“, versicherte Liebhardt. „Ich halte sie für eine billige Imitation aus einer minderwertigen Goldlegierung. Trotzdem sehen sie auf den ersten Blick für einen Laien verblüffend echt aus.“

Während Krösch zustimmend nickte, schlug Zorbas die Hände über dem Kopf zusammen. „Eine minderwertige Legierung, man, ich fasse es nicht. Dafür habe ich also hier zwei Stunden diesen Silbensalat zusammengepuzzelt.“ Er versuchte sich vorzustellen, was ihm wohl im Friseursalon entgangen ist. „Also ich mach Schluss für heute, wir kommen doch hier im Moment eh nicht weiter. Tschüss dann!“ Zorbas verließ murrend den Raum und verständigte Pokroff über das Ergebnis des Puzzlespiels.

„Tröste dich, wir sind auch nur einen kleinen Schritt weitergekommen. Aber immerhin, wir haben einen chinesischen oder koreanischen Friseurkunden, der Haarfärbemittel für eine Frau kaufte und mit einem alten Werbekuli etwas notiert hat. Na dann schönen Feierabend.“

********************

Samstag, 12. Mai.

Es soll Hunde geben, die typische Landeier sind und mit ihrer untrüglichen Spürnase am liebsten in der Lüneburger Heide auf Spurensuche gehen. Andere haben sich hingegen so an die Hektik des Großstadtdschungels gewöhnt, dass sie auf einsamen Feldwegen eher depressiv werden und sich umso mehr nach den Leckerli sehnen, die man ihnen zwischen Dienstbesprechungen und Bürokonferenzen manchmal zuschiebt. Zu welcher Sorte würde wohl Sissi gehören? Bei dieser Frage kam Sonja Bernburger, leitende Kommissarin der Polizeidirektion Frankfurt-Flughafen, echt ins Grübeln. Ihre beste Freundin Claudia von Erbenstein hatte ihr die quirlige Pudeldame von Nadine Engelthal, die sie vor einigen Tagen in ihre Obhut genommen hatte, für einen Nachmittagsspaziergang am Samstag anvertraut. Die lebensfrohe Kommissarin, die nur selten etwas anbrennen ließ, verließ sich schließlich auf ihr Bauchgefühl und überredete ihre neueste Eroberung, den Broker Sebastian Diehl, schließlich zu einem Spaziergang am südlichen Mainufer.

„Sie wird mich doch nicht etwa beißen?“, erkundigte sich Sebastian und näherte sich mit seiner flachen Hand vorsichtig dem Kopf.

„Wenn ich dich riechen kann, dann wird sie es sicher auch können. Und überhaupt: Wer mit Bulle und Bär kämpft, der wird doch nicht etwa vor einem kleinen Pudel den Schwanz einziehen, oder?“

„Du verstehst es mal wieder, mich an meiner schwachen Stelle zu packen.“ Sebastian grinste und nahm seine Sonja an der Hand. Glücklicherweise hatte er sich eine dieser edlen Eigentumswohnungen in der Reichsforststraße schon vor einiger Zeit sichern können und hatte nun etwas vorzuweisen, um seine Sonja zu beeindrucken. Weil Sebastian nichts mehr fürchtete als die Parkplatznot, entschlossen sie sich für die Straßenbahn und stiegen an der Heinrich-Hoffmann-Straße aus, von wo aus es nur wenige Meter bis zur Uferpromenade waren. Sie gingen hinunter zum Main und liefen ein Stück, bis sie zu einer Parkbank etwas westlich der Uniklinik kamen. Dort bemerkten sie eine junge Frau mit schulterlangen brünetten Haaren und dunkler Sonnenbrille, die in Gedanken versunken ihren Blick Richtung Nordseite richtete. Was sie dort fixierte, war hinter den dunklen Gläsern nur schwer zu sehen – doch man konnte es erahnen, wenn man die Frau und die Zusammenhänge ihres Alltags kannte.

„Ja, wen haben wir denn da? Die Frau Hauptkommissarin hat wohl ihre neue Vorliebe für den Ebbelwei entdeckt?“, scherzte Sonja Bernburger.

„Hallo, ach du bist es. Wie kommst du denn darauf?“ Carola Pokroff schob die Brille nach oben, um ihrer Bekannten ein augenzwinkerndes Lächeln zu schenken. Polizistinnen und Polizistenfrauen sollten besser zusammenhalten, statt sich in Spekulationen, auf welchen Sondereinsätzen sie ihre Männer verlieren oder sich gegenseitig abspenstig machen könnten, lautete ihre Devise. Und auch Sissi schien sich mit der Frauenfreundschaft zu solidarisieren, was sie durch freudiges Bellen kundtat.

„Weil du nicht irgendwo hinschaust, sondern geradewegs auf den Westhafen Tower.“

„Du weißt doch, in diesem Turm, den die Frankfurter gerne als Geripptes bezeichnen, arbeitete Nadine Engelthal, das Opfer des Mordanschlags, den Waldemar und Christiane zusammen untersuchen.“

„Ja, klar. Schau doch mal, wie schön sich der Himmel in den Fenstern spiegelt.“

„Ja, das ist ein richtiger Türkiston.“ Carola Pokroff war sichtlich entzückt von dem Farbenspiel.

„Dahinter in den oberen Stockwerken, siehst du die Menschen da auf dem Gang umherlaufen.“ Sonja Bernburger zeigte mit dem Arm nach rechts oben. „Da oben muss es wohl so etwas wie einen Empfang geben. Das sieht ja aus wie die Abgeordneten in der Kuppel des Reichstags.“

„Aber siehst du auch die Rippen und das Muster, das sie ergeben. Je sechs von ihnen ergeben ein …“

„…einen Stern.“

„Genau. Es ist dasselbe Muster, das man auch an den Wänden und in den Fenstern der Westendsynagoge findet“, stellte Carola fest.

„Du schon wieder. Die universalgelehrte Frau des Herrn Hauptkommissars. Aber das ist doch sicher reiner Zufall.“

„Sag so was nicht. An Gründonnerstag das Pessachmahl in der Cyriakuskirche. Und die Anna Bergmann und diese religiöse Gruppe, die sich für Frieden und Wiedervereinigung einsetzt. Und ihr Sohn, der sich mit diesen Halbstarken herumtreibt. Vielleicht hängt das ja doch alles irgendwie zusammen.“

Sonja lachte und klopfte ihrer Freundin auf die Schulter. „Aber du wirst doch nicht anfangen, an irgendwelche Verschwörungstheorien zu glauben. Wir gehen mal weiter.“

Sebastian, der die ganze Zeit nichts gesagt hatte, blickte Sonja etwas ratlos von der Seite an. „Hast du heute Nachmittag frei oder ermittelst du zusammen mit Frau Pokroff?“

„Man ist halt immer im Dienst.“

Die beiden marschierten weiter am Mainufer entlang und überquerten den Eisernen Steg Richtung Römer. Über den Liebfrauenberg ging es weiter Richtung Zeil, wo Sonja im Vorbeigehen ein paar Blicke in die Schaufenster erhaschte. Schließlich beschlossen sie, sich auf dem Bauernmarkt an der Konstablerwache eine Grüne Soße mit Bratkartoffeln zu gönnen.

„So, Sissi, jetzt kommst du nochmal unter Menschen. Hier, Sebastian, pass mal bitte einen Moment auf unser Hundchen auf. Dann geh‘ ich uns noch einen Äppler holen.“

Sonja entfernte sich aus dem Blickfeld und Sebastian nahm mit Sissi rechts außen auf einer der Bierbänke Platz. Er fütterte die Pudeldame mit ein paar Bratkartoffeln und merkte nicht, wie sich aus dem Gedrängel der Menschen, die sich über den Markt schoben, ein älterer Mann näherte, der offenbar von ein paar Halbstarken hinter ihm geschubst wurde und sich gerade noch auf dem Biertisch abstützen konnte.

„Könnt ihr nicht aufpassen. Entschuldigung bitte, das ist mir furchtbar peinlich.“

„Schon gut.“ Sebastian nickte versöhnlich, doch Sissi knurrte und bellte den Mann an, als wollte er sie persönlich angreifen.

„Du verdammte… Scheiße, das hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Ich hab dir doch gar nichts getan.“ Der Mann blickte Sebastian irritiert an.“

„Keine Ursache, sie hat sich sicher nur erschrocken.“ Sebastian Diehl packte die Hündin am Halsband und versuchte, beruhigend auf sie einzureden, was ihm aber nicht gelang.

„Ich weiß schon, Pudel und Dackel sind Angstbeißer.“ Der Mann biss die Zähne aufeinander, versuchte ein krampfhaftes Lächeln und verschwand schließlich in der Menschenmenge. Als Sonja Bernburger etwa fünf Minuten später mit den beiden Gerippten zurückkam, bellte Sissi immer noch immer aufgeregt.

„Mensch, was ist denn hier auf einmal los. Den ganzen Nachmittag war der Hund so friedlich und jetzt…“

„Sie hat sich erschreckt. Ein älterer Mann wurde von ein paar Jugendlichen angerempelt und stützte sich hier auf dem Tisch ab. Sie beruhigt sich schon wieder.“

„Ja sicher, aber das ist schon etwas ungewöhnlich. Hast du gesehen, wie der Mann aussah?“

„Hab ich nicht drauf geachtet, ich bin schließlich nicht im Dienst. Etwas älter, Bart, Halbglatze. Eher ist mir sein Geruch aufgefallen. Hatte etwas Herbes und Apartes, nicht aufdringlich, aber fein. Vielleicht ein After Shave?“

„Alle Achtung, wenn das dir aufgefallen ist, dann ist es Sissi sicher erst recht aufgefallen. Aber wenn der Mann nur unglücklich gestolpert ist, warum hat er sie dann damit so aus der Reserve gelockt?“, grübelte Sonja.

„Irgendetwas muss der Hund speziell mit diesem Duft assoziieren“, schlug Sebastian vor.

„Oder mit diesem Mann. Ich werde später Christiane anrufen und ihr davon berichten.“

„Nun iss erst mal. Deine Bratkartoffeln werden kalt.“

Später wollte Sonja ihre Freundin anrufen, erwischte aber nicht mal den Anrufbeantworter. „Nun lass doch, sagtest du nicht, die hat heute auch frei.“ Als Christiane von Erbenstein gegen Abend etwas eilig in Sebastian Diehls Wohnung kam, um Sissi abzuholen, war Sonja gerade nebenan auf Toilette. Und so kam es, dass der Vorfall vorerst doch vergessen wurde.

******************

Von außen sah man nur einen unscheinbaren Eingang, der an die Veranda einer mittelgroßen amerikanischen Ranch erinnerte. Doch wer das Foyer im neuen amerikanischen Modetempel im Einkaufszentrum My Zeil betrat, der wusste, dass er geradezu auf dem Weg ins Allerheiligste war. Und die ausladende Verkaufstheke glich tatsächlich einem Altar, der mit dekorativen Statuetten und silberglitzernden Duftfläschchen des Labels ausgeschmückt war, das hier vorrangig verkauft wurde. Dazu überall diese Wände mit den Malereien schöner Jünglinge und Mädchen, die sich mit Rotweinflaschen an einem springenden Quell der Muße hingaben. Und die nicht weniger schönen jungen Verkäuferinnen, die wie emsige Tempeldienerinnen umherschwirrten und mit ihren Klamotten und durchgestylten Frisuren wie aus dem Modekatalog ausgesucht aussahen. Scoutmodels nannte man so etwas in der Fachsprache.

Zorbas fühlte sich langsam etwas schwindlig von dem betörenden Duft aus den Fläschchen, mit dem die Tempeldienerinnen die Markenkleidung für Junge und Junggebliebene unübersehbar und unüberriechbar besprühten. Und doch schien ihm alles wie eine glückliche Fügung des Schicksals. Weil er Cornelia und ihre Tochter Tamara vor ein paar Tagen zu Unrecht angepflaumt hatte, sollte er sie eigentlich zum Griechen in Höchst einladen. Dann jedoch drängte Tamara auf eine Shopping-Tour im „My Zeil“. Da wusste der junge Kommissar, was die Stunde geschlagen hatte. Tamaras Freund Julius würde sich einfach an die Tour dranhängen, weil er wie Tamara auf die Klamotten von dieser Schickimicki-Boutique stand. Und weil sich Julius immer selbst einlud, wenn er nicht eingeladen war. Dafür konnte Zorbas aber auch eine Gegenleistung verlangen, denn er kannte Julius‘ Leidenschaft und er kannte seinen Vater, den Bundespolizisten Fritz Bechthold, der seinen Sohn im Zweifelsfall in Schach halten würde.

Zorbas beobachtete ein orientalisches Pärchen, das scheinbar etwas orientieurungslos durch die Edelboutique streifte. Er trug einen langen Bart wie ein Salafist und eine Baseballmütze, sie verschleierte sich mit einem dunklen Tschador bis unter die Augen. Obwohl sie durch den Schlitz kaum hindurchgucken konnte, suchte sie mit Umsicht und Geduld die T-Shirts aus, die der Mann mit einem Lächeln oder abwinkenden Fingerzeig quittierte. Keine Frage, wer hier die Hosen anhatte und womöglich seiner Frau regelrecht gebot, sich derart verhüllt zu zeigen. Sollte Frankfurt also doch eine Stadt der Extremisten werden? Zorbas war reichlich unwohl bei diesem Gedanken.

Plötzlich fühlte er einen herzlich-coolen Schlag auf seinem Rücken: „Hey, Chef, hier geht’s doch voll ab, oder? Und weil wir beide bei der Gewinnaktion draußen auf der Zeil einen Dreierpasch gewürfelt haben, kriegen wir jetzt mit diesen Gutscheinen auch noch Super-Rabatt. Toll, was?“

Zorbas fühlte sich durch den „Chef“ nur wenig mehr gebauchpinselt als durch das allzu kumpelhafte „Alter“. Bei aller Freundschaft, der Tonfall der jungen Dame sprach nicht gerade von Respekt für einen wenn auch nur jungen Erwachsenen. Immerhin, das mit den Würfeln war glücklich abgegangen, dabei gab Zorbas eigentlich nicht gerne den Spieler. Doch nun würde Tamara wegen 25 Prozent gleich wieder den Einkauf übertreiben. Zumal ihre Mutter, die sich mit 34 immer noch sehr jugendlich fühlte, auch noch mitgekommen war.

„Ist schon gut, Tammy. Sag mal, wo steckt denn dein Lover?“

„Guck mal hinter dich!“

„Aha, na dann wollen wir mal kurz.“ Zorbas packte Julius sanft aber bestimmt am Schlawittchen und schob ihn an den irritierten Blicken einer bildhübschen Wächterin vorbei in die nächste freie Umkleidekabine.

„So, Sportsfreund, wie sieht’s aus mit Qualifying? Jetzt bist du mit deinem Teil der Leistung dran. Nun zeig mal, was du so draufhast. “

„Na klar doch. Das gehört zu meinen leichtesten Übungen“, schmunzelte Julius und schob Zorbas mit links ein dreifach zusammengefaltetes Notizzettelchen rüber.

„Hm, ein Stick wäre mir aber lieber“, gab sich Zorbas enttäuscht.

„Mir auch, aber was tun, wenn mein Alter meine Vorräte konfisziert und mir das Taschengeld kürzt.“

„Das glaub ich zwar nicht, aber nach schön. Bist du wenigstens inhaltlich weitergekommen?“

„Na logo, war eigentlich ganz easy, nachdem ich mehrere Algorithmen kombiniert und mich dabei etwas durch die Untiefen des Netzes durchgemogelt , äh, ich meine natürlich durchgegoogelt habe“, flüsterte Julius. „Tschasun, das gibt zunächst mal überhaupt keinen Sinn. Da muss sich jemand verhört haben. Aber Joseon, das ist die Eigenbezeichnung für Nordkorea.“ Wie vereinbart zog Julius einen Notizzettel aus seiner Tasche, auf dem er einige Stichpunkte notiert hatte: Demnach gab es ein paar Erwähnungen eines geheimen Forums Joseon Internal Segrets, natürlich ohne direkte Links. Nicht ganz einfach, aber nach einigen Minuten und ein paar Special Tricks und Firewalls hatte es das junge Computergenie tatsächlich geschafft. Im Forum gab es eine Userin mit dem Decknamen „Dianne Blue Angels“. War das wirklich Nadine? Dianne antwortete geflüchteten Nordkoreanern, die von grausamen Straflagern berichteten, in denen man zumindest früher auch Medikamente und Drogen ausprobiert hatte. Sie schrieb, ihr Vater hatte damals selbst Kontakt zu Koreanern und habe möglicherweise eine verschlüsselte Nachricht in einem Stoffkörbchen erhalten. Sie kündigte an, sie wolle die Geschichte ihres Vaters ins Internet stellen und mithelfen, diesen Stalinisten und ihren Mittelsmännern im Westen, die beim Beschaffen der Devisen helfen, das Handwerk zu legen.“

„Hervorragend. Sonst noch etwas“, erkundigte sich Zorbas.

Julius zeigte auf den letzten Absatz seines Notizzettels. Demnach schrieb ein Nordkoreaner in besagtem Forum, eines der Medikamente sei ein Metamphetamin. Darauf antwortete ein Tscheche, dieses Zeug werde immer noch in Prager Geheimlabors hergestellt und als Chrystal Meth über die Grenze nach ganz Europa geschmuggelt. Er wisse über Beziehungen von einem neuen Wirkstoff, der gerade auf den Markt geworfen wird. Nur traue sich noch keiner an die Polizei, weil die Dealer dort ganze Viertel kontrollieren.

Zorbas klopfte Julius dankbar auf die Schulter. „Gut gemacht, Junge. Komm, such dir noch ein Muscle Shirt aus und für Tammy noch was Bauchfreies. Auf so was steht ihr Kids doch.“

Zorbas ignorierte den Betrag, der auf der Rechnung stand. Er würde sowieso mit Karte bezahlen, damit der Verlust nicht so spürbar würde. Aber der Einsatz hatte sich gelohnt. Und ein großes Eis für alle gab es obendrein auch noch. Das allerdings zahlte dann anstandshalber Cornelia.

Schon eine Stunde später trafen sich Zorbas, Pokroff und Krösch im Büro des Hauptkommissars, der wie so oft nur das mühsam anerkennende Schnauben eines Gardeoffiziers hervorbrachte, der seinen Rekruten loben will.

„Sehr ordentlich, Junge“, grunzte er. „Feindliche Spionage eiskalt enttarnt.“

„Einfach nur großartig, Herr Zorbas, wie Sie das hingekriegt haben!! Und der Bub ist ein echtes Nachwuchstalent. Man, solche Leute können wir in unserem Team brauchen.“ Krösch überschlug sich regelrecht mit seinen Lobeshymnen.

Pokroff hatte derweil die Adresse des Notizzettels eingetippt und sich erfolgreich in die Plattform eingeloggt. „Na prima, dass mich das jetzt nicht wundert!“ rief er, als wollte er triumphieren. Doch seine Stimme hatte einen sarkastischen Unterton. „Ich liebe unseren Beruf und unsere täglichen Erfolge. Hier, schaut euch das an! Kein einziger Link zu den Nachrichten, wer wann und wo interniert war und dort welche Folterungen erlebt hat, ist noch aktiv. Alles ist stillgelegt oder nur mit zusätzlichen Passwörtern zu erreichen.“

„Das gibt’s doch nicht!“ Zorbas schaute ungläubig zu Krösch. Sollte etwa all seine Arbeit umsonst gewesen sein?

Krösch probierte mehrere Minuten lang eifrig, die Plattform zu überlisten, versuchte es mit immer neuen Klicks und Passwörtern. „Nichts zu machen“, gab er sich schließlich geschlagen. „Da waren echte Profis am Werk. Das ist wohl etwas für unsere Spezialeinheit. Gebt mir das Ding und ich höre mich sofort um.“

„Na prost Mahlzeit!“ fluchte Pokroff. „Ich wüsste da auch noch jemanden, aber der ist seit heute im Urlaub.“ Er reichte Krösch den Zettel. Die geheime Adresse hatte er sich vorher abgeschrieben. Doch intuitiv beschloss er, nicht zu verraten, an wen er gerade dachte.

„Ach, nur so ein Bekannter, der sich damit auskennt“, antwortete er kurz auf Kröschs Frage. Und das in einem derart belanglosen und nebensächlichen Tonfall, dass es der BKA-Chef dabei bewenden ließ.

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Gegen Abend fuhr das stattliche Taxi des Grafen Georg von Erbenstein in der Hohenstaufenstraße vor. Den Frankfurter Feierabendverkehr wollte sich der gnädige Herr im eigenen Auto nicht mehr antun, auch die Straßenbahn war ihm zu überfüllt und zu unzuverlässig. Doch wenn er sich schon die Kosten für eine eigene Limousine ersparte, dann wollte der Graf wenigstens in einem standesgemäßen Mercedes der gehobenen Klasse gefahren werden. Von Erbenstein war nicht umsonst Stammkunde bei einer Zentrale geworden, die solche Wünsche erfüllte. Denn bekanntlich hatten die Taxis der Mainmetropole nicht gerade den besten Ruf.

Mit sicherem Schritt steuerte von Erbenstein den Seoul Shop an. Mehrmals hatte er sich die Adresse und Wegbeschreibung auf seinem Laptop angesehen und mit den Streetmaps der einschlägigen Online-Dienste abgeglichen, um ganz sicher zu sein. Bae grüßte den eleganten Herrn mit einer sanften Verbeugung, wie sie in seinem Land als Zeichen des Respekts üblich ist. Von Erbenstein erwiderte den Gruß ebenfalls mit einer Verbeugung, denn einseitigen Respekt fand er unziemlich. Dann ging er durch die Regale, durchforstete die abgepackten Nudelsuppen und Reisgerichte mit ihren exotischen Schriftzeichen, inspizierte kurz die Ginsengwurzeln und Seetangbündel, um sich dann mit unsicherem Blick den Teesorten zuzuwenden.

„Kann ich Ihnen helfen, Herr?“, erkundigte sich Bae.

„Ich suche eigentlich nur ein schönes Geschenk für Korea-Freunde. Hm, vielleicht versuche ich es doch mit Sake oder Pflaumenwein. Könnten Sie mir da etwas Gutes empfehlen?“

Bae holte aus dem hinteren Regal zwei Flaschen, hübsch eingepackt in einem Geschenkkarton mit Motiven von Pagoden und immergrünen Bergkketten.

„Bitte, der Herr. Sake ist japanischer Reiswein, und auch der Pflaumenwein kommt aus Japan. Ich habe hier für Sie zwei Flaschen koreanischen Reiswein. Der eine heißt Cheongju und hat einen sehr klaren und edlen Geschmack. Der andere heißt Makgeolli und ist etwas milchig-trüb. Vom Geschmack erinnert er leicht an Federweißer, aber er ist auch von besonderer Qualität. Das ist das Beste, was wir haben. Eine Flasche kostet 15 Euro, ich gebe Ihnen beide zusammen für 20 Euro.“

„Danke, gut, dann nehme ich noch das koreanische Kochbuch hier dazu.“ Von Erbenstein hoffte, durch einen großzügigeren Einkauf den Händler freundlich und gesprächig zu stimmen.

Bae ging zur Kasse und tippte die beiden Flaschen und das Kochbuch ein.

„Darf es sonst noch etwas sein?“

„Nur eine Frage. Es war doch hier in der Nähe, wo vor vier Jahren die Leiche einer nordkoreanischen Artistin gefunden wurde?“

Bae schüttelte den Kopf. „Eine ganz furchtbare Geschichte. Es ist besser, nicht mehr davon zu reden.“

„Es stimmt aber schon, dass man die Tote in der Nähe Ihres Geschäfts gefunden hat?

„Was wollen Sie mit dieser Frage bezwecken?“ Baes Gesicht verfärbte sich rot, seine Hände begannen leicht zu zittern. Wer mochte dieser fremde Herr nur sein und was wollte er von ihm? Wie ein Polizist sah er jedenfalls nicht gerade aus.

„Ich möchte gerne verstehen, warum die junge Artistin sterben musste. Ich war vor vielen Jahren auch mal in eine Zirkusartistin verliebt, müssen Sie wissen.“

„Vermutlich wollte man mir eins auswischen. Eben, weil ich vor Jahrzehnten selbst aus Nordkorea geflohen bin. Es sollte so aussehen, als ob ich der Mörder bin, damit man mich für Jahre wegsperrt. Einige Tage Untersuchungshaft sind es dann ja auch geworden.“

„Aber wer soll es dann wirklich gewesen sein?“

„Das konnte die Polizei nie ermitteln. Ich frage mich bis heute, ob da überhaupt eine Koreanerin gestorben ist. Die Genossen haben sie allzu schnell und offensichtlich identifiziert.“ Bae setzte nun wieder sein sanftes Lächeln auf. Offenbar hatte ihn der Herr mit seiner mitfühlenden Art überzeugt. „Auch Sie haben vielleicht einen Doppelgänger, einen Graf in Frankreich. Gerade wir Asiaten würden Sie beide kaum unterscheiden können.“

„Woher wissen Sie, dass ich ein Graf bin?“, entgegnete von Erbenstein irritiert.

„Na, das war ja jetzt nur so ein Beispiel.“

„Schön, aber warum haben Sie damals der Polizei nichts von Ihrer Theorie gesagt?“

Bae zuckte mit den Schultern. „Ich habe es damals zumindest vorsichtig versucht. Aber wer hätte mir schon geglaubt? Am Ende konnte ich froh sein, dass ich die wenigstens von meiner Unschuld überzeugen konnte. So, und jetzt möchte ich nicht mehr darüber reden, wenn Sie das bitte verstehen möchten.“

„Natürlich. Aber dafür würde ich gerne noch diesen Tee bei Ihnen kaufen.“

„Grüner Sangjang-Tee mit Reis. Eine gute Wahl. Belebt und schont dabei doch die Nerven.“

Von Erbenstein nickte anerkennend und verabschiedete sich. Bae sortierte die Buddhafiguren in seinem Schaufenster und streichelte der Doraemon-Katze zärtlich über das Fell. „Jetzt wird es brenzlig für mich“, dachte er.

Evangelos Zorbas und Kim Schmidt gingen am Main spazieren und versuchten, den unfassbaren Tod von Park Il Sung zu verarbeiten. Während die untergehende Sonne ein paar goldfunkelnde Strahlen in den Main zauberte, war es Kim nach allem möglichen zumute, nur nicht nach Romantik.

„Okay, so gute und enge Freunde waren wir zwar nicht. Aber wenn ein junger Mensch so plötzlich aus dem Leben gerissen wird, ist es einfach unfassbar. Und ihr bei der Polizei müsst mit so etwas täglich umgehen?“

„Ja, allerdings, und man wird sich wohl nie daran gewöhnen“, räumte Zorbas ein. „Wie sehr unterstützte Park eure Gruppe bei der Hilfe für Nordkorea? Und stimmt es, dass er die World Unity Mission aus persönlichen Gründen verließ?“

„Die persönlichen Gründe waren wohl Unstimmigkeiten mit anderen Mitgliedern, weil ihnen seine politische Aufklärung über Nordkorea zu weit ging. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er war da am etwas dran. Ich könnte mir vorstellen, dass er zumindest Kontakte zum NIS unterhielt.“

„Der NIS, was war das gleich nochmal?“

„Der National Intelligence Service, der Geheimdienst von Südkorea. Aber was denkst du über die World Unity Mission? Nur weil einzelne Mitglieder schwer durchschaubar sind, muss doch nicht die ganze Organisation kriminell sein, oder?“

„Wir haben in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Sektenbeauftragten diese Organisation nochmal genau überprüft. Bislang haben sie sich nach außen eher unauffällig verhalten und sind lediglich mit Aktionen für den Weltfrieden und die Einheit der christlichen Völker in Erscheinung getreten. Daran ist natürlich nichts Illegales.“

Zorbas wurde durch einen Handyanruf von Pokroff je unterbrochen. „Eben habe ich einen Anruf von Jiri Tomaczek bekommen, einem Freund von mir bei der Kripo in Prag. In einem Vorort haben sie ein Drogenlabor hochgenommen und drei mordverdächtige Dealer festgenommen. Die Hintermänner haben das Zeug in halb Europa vertrieben und dürften der organisierten Kriminalität angehören, Verbindungen werden bis nach Berlin und Frankfurt angenommen. Nun rate mal, was man dort produziert hat? N-Methylamphetamin und verwandte Substanzen.“

„Also möglicherweise auch das Mittel, das man Nadine Engelthal verabreicht hat?“

„Davon könnte man ausgehen. Mit etwas Glück wird heute oder spätestens morgen ein Beitrag in den Nachrichten gesendet.“

„Siehst du“, meinte Zorbas zu Schmidt, „wir müssen in der organisierten Drogenkriminalität unsere Täter suchen. Die Frage ist nur, wie wir eine Verbindung zu unseren Morden und Mordanschlägen herstellen können.“

Das Bundeskriminalamt schaltete sich umgehend ein und versuchte, die tschechischen Kriminalbehörden durch Ermittlungen in der Frankfurter Drogenszene tatkräftig zu unterstützen. Tatsächlich konnte ein Auftragsdealer mittleren Ranges festgenommen werden, der den N-Methylamphetamin-Handel mit Prag abwickelte und sich als der Chef eines Kuriers entpuppte, den man drei Monate zuvor mit Chrystal Meth im Verkaufswert von 10 000 Euro am Rhein-Main-Flughafen verhaftet hatte. Doch auf keiner der beiden Seiten kam man an die Hintermänner heran, die man in mehreren osteuropäischen Ländern vermutete. Vor allem, was Tschechien betraf, spekulierten die deutschen Medien vorschnell, die Korruption würde alle weiteren Ermittlungen im Keim ersticken. Die Tschechen wiederum konterten, die Abnehmer säßen auch in Deutschland, also müsse es auch dort ein organisiertes Vertriebsnetz geben, das wiederum von einflussreichen Kreisen in der Politik geschützt würde.

Pokroff fuhr in die Unfallklinik nach Seckbach und berichtete Professor Bornemann von der Entdeckung des Drogenlabors. Es sprach tatsächlich viel dafür, das hier auch die Substanz hergestellt wurde, mit der man einen Anschlag auf Nadine Engelthal verübt hatte. Aber natürlich kamen dafür auch andere womöglich noch unentdeckte Labors in Frage. Auch Siggi, Ansgar und Kurt, die ihren Jugendstrafen wegen versuchten Mordes entgegensahen, wurden eingehend zu den Crystal Meth-Lieferungen aus Prag befragt. Sie verweigerten hierzu jegliche Angaben, waren aber immerhin bereit, den rothaarigen Dealer so genau zu beschreiben, dass gesagter Mann in der Nähe des Hauptbahnhofes verhaftet werden konnte. Aber auch der Rothaarige biss sich lieber auf die Zunge, als irgendetwas über die Hintermänner auszusagen- zu groß war die Angst vor Vergeltungsanschlägen.

„Wir müssen uns wohl damit begnügen, wieder einmal nur die kleinen Fische geschnappt zu haben“, bilanzierte Krösch eines Tages bei einer dienstlichen Unterredung mit Pokroff in dessen Büro.

„Ja, und darüber hinaus haben unsere Behörden so viel Arbeit in die Ermittlungen gesteckt und weitere Händler und Zuträger festgenommen, um am Ende doch nur festzustellen, dass Crack immer noch das Hauptproblem in Frankfurt ist. Es gibt hier nur eine kleine Zahl an Konsumenten, die Crystal Meth auf Partys oder zur Leistungssteigerung im Job ausprobiert haben, um dem immer größeren Erwartungsdruck unserer ach so coolen Gesellschaft gerecht zu kommen. Eben dort könnte man auch eine veränderte Substanz erwarten, wie man sie Nadine Engelthal offensichtlich eingeflößt hat. Aber hier kommen wir einfach nicht weiter. Und wir haben auch den Überblick verloren, wo sich Yoko in der Zwischenzeit versteckt hält.“

Krösch widersprach. „Wir sollten Yoko nicht mit diesem neuen Fall in Zusammenhang bringen. Wenn Yoko überhaupt die gesuchte Täterin ist, dann hat sie Frau Engelthal ein hoch entwickeltes Designermedikament verabreicht, das lediglich auf der Basis von N-Methylamphetamin entwickelt wurde. Doch hier geht es um den breiten Markt mit Crystal Meth, das ist ein ganz anderes Geschäft. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Unsere Sondereinheiten halten zudem seit Wochen alle Augen und Ohren offen. Im Frankfurter Raum ist sie sicher nicht mehr, vielleicht hat sie sich sogar ins Ausland abgesetzt. Dann könnte sie wenigstens hier kein Unheil mehr anrichten.“

„Ein schwacher Trost“, entgegnete Pokroff mit gesenktem Blick. „Und was macht eigentlich unsere geheime Internetplattform, der Nadine Engelthal offenbar angehörte?“

„Leider auch Fehlanzeige. Die haben uns nicht gebleufft, sondern sämtliche wichtigen Informationen tatsächlich gelöscht, nachdem sie spitzgekriegt haben, was die Engelthal damit vorhat. Tatsächlich laufen alle Links hoffnungslos ins Leere.“

„Verdammt nochmal, warum kommt uns da immer jemand zuvor? Wir müssen uns schon noch weiter anstrengen, wenn wir am Ende nicht wie die Verlierer dastehen wollen.“ Dabei rotierten die Gedanken in Pokroffs Kopf weiter. Er ahnte, dass es irgendwo Zusammenhänge geben musste, in die auch Nadine Engelthal und Yoko verwickelt sein mussten. Doch er konnte das Puzzle in seinem Kopf einfach nicht zusammensetzen.

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Samstag, nach Christi Himmelfahrt

Zwei Tage nach Christi Himmelfahrt glich Frankfurt noch immer einer Stadt im Belagerungszustand. Die große Demonstration der Occupy-Bewegung mit befreundeten linken und antikapitalistischen Gruppen aus ganz Deutschland stand bevor. Und nach den ersten gewaltsamen Ausschreitungen im März, bei denen die Glasscheiben vieler Geschäfte in der Innenstadt zertrümmert worden waren, befanden sich Polizeiaufgebote der gesamten Republik in höchster Alarmbereitschaft. Die Goethestraße mit ihren Luxusboutiquen mochte zwar polarisieren, doch graute es vielen Frankfurtern vor erneutem Vandalismus, Übergriffen auf Menschen und Gebäude und Schaufenstersplittern, die sich in der Sonne und dem Glanz der Straßenlaternen wie funkelnde Kristalle über die City zerstreuten. Trotzdem hatten die Autofahrer in diesen Tagen viel Grund zum Fluchen, wenn sie statt den gewohnten heimischen Blauuniformierten auf schwäbische Kollegen trafen, deren Einsatzgebiete ebenso grün waren sie ihre Kampfanzüge – außer einem achselzuckenden „Noi“ hatten die kaum etwas zu vermelden, wenn man sie nach Umleitungsmöglichkeiten rund um den Anlagenring fragte.

In einer Studentenbude im Ostend saß eine Gruppe junger revolutionärer Russinnen und trank Wodka.

„Auf den Erfolgsschlag gegen die kapitalistischen Schweine und unsere sozialistische Revolution, die am Ende siegen wird“, prostete Olga in die Runde und blickte der Kampfgefährtin mit kurz geschorenen rötlichen Haaren und rotem Stirnband genau gegenüber fordernd in die Augen. „Man, Genossin Tanja, du guckst ja wirklich so eiskalt wie eine unterdrückte Partisanin aus dem winterlichen Jakutsk, die auf Rache sinnt und noch auf ihre große Stunde wartet. Doch heute ist ein Tag zum Feiern. Wenn wir später zur großen Kundgebung dazustoßen, werden wir diesen Mini-New Yorker Pseudozockern hier schon zeigen, was ein kommunistischer Hammer ist. Nastrowje!“

Doch die Kämpferin gegenüber war offensichtlich nicht in Feierlaune. „Etwas mehr Disziplin, wenn ich bitten darf“, entgegnete sie streng. „Ihr seid ja alle schon betrunken. Wenn ich etwas bei meinem Studium in Deutschland gelernt habe, dann die bittere Tatsache, dass der Alkohol den Kampfgeist der Arbeiterklasse schon seit der industriellen Massenausbeutung schwächt. Weshalb die Frankfurter leider vergeblich versuchten, ihre Apfelweinkneipen durch Wasserhäuschen zu ersetzen.“

„Aber nicht doch, nicht doch. Auch Breschnew und Jelzin liebten den Wodka….“

„Und wohin das geführt hat, das hat man ja gesehen. Am Ende musste er sich von einem deutschen Herzspezialisten behandeln und mit Ikonen bezahlen lassen, die dieser dann wiederum dem Frankfurter Ikonenmuseum stiftete. Komm Irina“, erwiderte die Kurzhaarige und packte die einzige Studentin am Arm, die ihr noch nüchtern und zuverlässig schien. Sie zerrte sie in die Küche und verschloss die Tür. Dann fischte sie aus der Tasche ihrer Bluse einen winzigen kamesinroten Stick mit glitzernden Sternchen, geeignet, um ihn in einem Nagelstudio zu verstecken.

„Wieviele seid ihr? Seit wann trefft ihr euch, zu welchen Stützpunkten haltet ihr Kontakt und an welchen Aktionen nehmt ihr teil?“

„Wie sind normalerweise sechs. Wir treffen uns regelmäßig seit letzten Sommer, haben ein Netzwerk zu allen wesentlichen Stützpunkten in Lateinamerika und Ostasien aufgebaut und unterstützen die Aktionen von Occupy und Bloccupy Frankfurt, um die Macht der Banken und ihrer imperialen Feudalknechte zu zerstören. Wir verneigen uns vor keinem Herrn außer vor den revolutionären Führern und ihren großen Nachfolgern, die der dekadenten US-Globalisierung die Stirn bieten“, erklärte Irina pathetisch.

„Sehr gut, auf dich ist wenigstens noch Verlass. Dir werde ich diesen Datenträger anvertrauen. Hier, da ist alles drauf, unsere Doktrin, unser Staatskonzept und unsere Losungen für die Zukunft. Bald wird unsere Nachrichtenagentur der Welt eine wichtige Botschaft überbringen. Unser Volk wird noch viele Opfer bringen müssen, doch wichtig ist die Stärke des Militärs, das für unsere Ideale kämpft. Auf dem Stick ist auch die Formel für das Medikaments, das uns hart und stark macht. Nur der dekadente Westen spricht von Drogen, weil er nichts kennt als den schädlichen Rausch, um vor der unerträglichen Realität des angeblich so paradiesischen Kapitalismus zu fliehen. Es ist wichtig, dass du die Szene in Frankfurt weiter beobachtest. Sie wollen eine billige abhängig machende Kopie des Medikaments auf den Markt werfen, um weitere Menschen in die Abhängigkeit der Drogenausbeuter zu führen. Doch dieser Stoff ist dazu geschaffen, um aus den kampfbereiten Genossen das Letzte herauszuholen, ihre Durchhaltekraft zu stärken. Dieser Datenträger ist nur für absolut zuverlässige Genossen aus der früheren Sowjetunion und Ostasien bestimmt. Ist das klar?“

„Na logisch. Aber sag mal, ist das nicht der Stoff, den auch die Nazis verwendet haben?“

„Erfunden haben es die Japaner. Die deutschen Nazis haben es nur missbraucht. Und wir waren kurz davor, die Erfindung zu perfektionieren.“

Während die kurzhaarige Tanja die Genossin Irina indoktrinierte und ihr den Stick in die Hand gab, hörte sie, wie die anderen fünf Russinnen im Nachbarraum tuschelten: „Na, die Kleine hat’s aber faustdick hinter den Ohren. Ich hab’s ja immer gewusst: Die Jakuten sind nicht nur Schlitzaugen, sondern auch ganz schön gewiefte Schlitzohren.“

Doch davon ließ sich die Kämpferin nicht irritieren. Während Tanja zurück zu den anderen ging, warf sie noch einen Blick aus dem Fenster und glaubte eine Kamera und ein Fernglas im vierten Stock der Mietskaserne schräg gegenüber zu entdecken. Dann folgte sie Tanja und gab ihre Kommandos in die Runde.

„Los jetzt, Genossinnen, die Pflicht ruft. Ich nehme den Stapel der Kampfschriften hier links und ihr teilt euch den Rest und kommt später nach.“

Sie entschwand mit ihrem Packen revolutionärer Schriften und ward schon Minuten später in den Wirren der demonstrierenden Massen nicht mehr gesehen. Während sie sich die dunkle Sturmmütze, den Schal und die Sonnenbrille tief ins Gesicht zog und sich für die Außenwelt perfekt und unauffällig in die organisierten Truppen der vermummten Schwarzen Garden einreihte, brachen Yokos innere Zweifel wieder auf. Würde sie ihre neue Identität als Tanja durchhalten? Kurze Haare, sibirische Herkunft mit leichtem Akzent, ihre neuen russischen Freundinnen hatten ihr das dank ihrer fast perfekten Sprachkenntnisse bisher offenbar abgenommen. Der russische Großvater, der irgendwo im koreanisch-russisch-chinesischen Grenzgebiet in ihrem Familienstammbaum aufgetaucht war, mochte ihr dabei geholfen haben.

Was aber, wenn ihre ganz ursprüngliche, eigentliche, wahre Identität jemals ans Licht kam? Yoko konnte sich glücklich schätzen, dass sie eine Weggefährtin aus dem Dunstkreis von Blockupy Frankfurt gefunden hatte, die sie unauffällig über die Landstraßen des hessischen Rieds und der Rheinebene über Ladenburg bis zu den Genossinnen nach Heidelberg geführt hatte. Das war vor etwa einer Woche gewesen, als die Kontrollen an den Ausfallstraßen von Frankfurt verstärkt worden waren. In Heidelberg hatte Yoko kurz nach ihrer Ankunft Irina kennengelernt, die regelmäßig nach Frankfurt pendelte und sie über die aktuellen Entwicklungen am Main unterrichtete. Irina hatte Yoko schließlich bei einer revolutionären Gruppe von russischen Studentinnen eingeführt, wo sie Aufnahme fand und ihr jetziges Aussehen annahm. Keine Frage, diesen jungen Frauen musste Yoko dankbar sein. Doch in den Augen ihrer ursprünglichen Auftraggeber waren vor allem die jungen und lebenslustigen Russinnen der Generationen nach Stalin bereits dekadente Revisionistinnen, die dem Kapitalismus verfallen waren. Yoko fühlte sich hin- und hergerissen. Sie wusste gar nicht, was sie von ihren Auftraggebern noch halten sollte, wo sie schon seit Jahren nichts mehr von ihren Eltern gehört hatte. Lebten sie überhaupt noch, oder hielten sie ihre Tochter wirklich für tot, weil sie offiziell für tot erklärt worden war? Sie konnte es nicht wissen. Sie versuchte irgendwo in der Mitte zwischen all diesen absurden Extremen zu navigieren und ihren eigenen neuen Weg zu finden.

Sehr bald hallten die gellenden Parolen durch die Frankfurter Innenstadt. Während die einen nur die internationale Solidarität beschworen, gingen die anderen noch einen Schritt weiter und skandierten „Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland, wir nehmen unser Schicksal selbst in die Hand!“ Der Demonstrationszug schlug einen Bogen und marschierte den Mainkai entlang Richtung Bahnhofsviertel, als sich eine kleine Gruppe des schwarzen Blocks plötzlich mit Transparenten und Regenschirmen verhüllte und mit ihren lauten Schreien und Drohungen einen massiven Polizeieinsatz zu provozieren drohte.

Die Staatsmacht zeigte ihre Zähne, die Polizisten formierten sich zur flexiblen Marschordnung einer modernen Schildkröte mit erhobenen Abwehrschildern, die rechte Hand an der Halterung des Gummiknüppels. „Haut ab, Ihr Bullenschweine!!!! Das ist unsere Demo, hier habt ihr nichts verloren, ihr Büttel und Folterknechte des Kapitalismus!“, gellte es durch die Reihen. „Haut ab, haut ab, haut ab!!!“

An der nächsten Kreuzung rückte abermals eine massive Front an Spezialkräften mit Schutzschildern, Gummiknüppel und Tränengasflaschen an und versuchte, den Demonstrationszug zu umzingeln und aufzulösen. Man konnte sich ausmalen, dass hier in Kürze mit einer Einkesselung zu rechnen war. „Verdammt, die trennen uns von unseren Genossen ab!“, rief ein Demonstrant durch die Reihen des schwarzen Blocks. „Und das nur, weil zwei unserer Kämpfer im Anlagenring Rauchbomben gegen die Willkür der Staatsmacht geworfen haben!“ Während die Beamten gegen die erhobenen Fäuste der Demonstranten vorgingen und einige von ihnen verhafteten oder mit dem Knüppel außer Gefecht setzten, konnte sich eine junge vermummte Frau gerade noch mit einem beherzten Sprung auf das Geländer eines Gründerzeithauses retten. Zwei Polizisten, die sie an ihrem wagemutigen Sprung zu hindern suchten, hatte sie mit einem Fußtritt k.o. getreten.

Die vermummte Frau grüßte das Pärchen im Eingang zum Balkon, das verschreckt hinter seinen Che- Guevara-Flaggen in Deckung ging mit ihrem Victory-Zeichen und rannte wie der Blitz durch die Wohnung Richtung Haustür. „Hasta la victoria siempre!“, rief ihr das Pärchen mit lateinamerikanischem Akzent hinterher.

Im Lauf durch das Treppenhaus riss sich Yoko das schwarze Tuch aus dem Gesicht, streifte ein blaues Sweatshirt über und verkleidete sich notdürftig mit einer schwarzen gelockten Perücke und einer anderen dunklen noch stärker spiegelnden Sonnenbrille. Mit diesem Requisit auf der Nase konnte sie Bilder der Videokameras wenigstens notdürftig reflektieren und zurückwerfen.

Bevor die nächste Einheit der bewaffneten Sturmtruppen anrückte, konnte sich Yoko rechtzeitig in die Moselstraße absetzen und rannte nun kreuz und quer durch das abgeriegelte Bahnhofsviertel Richtung Mainzer Landstraße. Schließlich erreichte sie die Mainzer Landstraße und rannte weiter Richtung Gallus, wo sie nach einigen Metern über die Frankenallee eine der Seitenstraßen erreichte. Sie wusste, dass sich hier ein halboffizieller Buchhändler niedergelassen hatte und eine Vielzahl an kommunistischen Standardwerken und Kampfschriften verkaufte – von Karl Marx „Das Kapital“ bis zu den Flugblättern des Leuchtenden Pfads in deutscher Übersetzung.

Mit letztem Atem erreichte die Frau den Laden und streckte dem Inhaber Christian Lockernagel die Hand zum Gruß entgegen.

„Grüß dich, Genosse. Mein Name ist Wei Jing aus Beijing. Ich hatte bei dir die Leitschrift des Großen Steuermanns für unser sinologisches Seminar bestellt.“

Lockernagel erwiderte den Gruß, ging kurz nach hinten, um sich das nordkoreanische Pateiabzeichen zu betrachten, dass sie ihm unauffällig in die Hand gedrückt hatte. Dann kehrte er zurück, schickte die beiden noch verbliebenen Kunden nach Hause und wandte sich seiner Genossin zu.

„Dein Besuch kommt sehr plötzlich in diesen schweren Zeiten. Zumal mich der Kadi auch auf dem Kieker hat. Also, was kann ich für dich tun?“

„Du musst mir helfen. Bei der Demo hat’s einen Zwischenfall mit Rauchbomben gegeben. Ich konnte den Bullen gerade noch so entwischen. Wenn die mich finden und verhaften, fliegt meine Tarnung auf. Und dann kann ich mir gleich einen Strick nehmen.“

„Aber hier gibt es doch so viele Buchläden und Gemeinden in der Nähe. Sag denen, du kommst aus dem Süden und dann nehmen die dich sicher auf.“

„Bist du verrückt, die sind evangelikal und liefern mich gleich aus. Bitte lass mich jetzt nicht im Stich!“

„Okay, aber nur für die nächsten Stunden.“ Lockernagel drehte sich verunsichert um. „Hier, nimm meinen Wohnungsschlüssel und geh durch den Hinterausgang. Die Luft ist hoffentlich noch rein. Wenn du in der Wohnung bist, gehe vorsichtig auf den Balkon zu und schaue hinter dich, bis dir meine Freunde ein Zeichen geben. Wir werden dich schon retten.“

Yoko sicherte die Lage und schlich sich vorsichtig das Treppenhaus hinauf. Im oberen Stockwerk schloss sie die Tür auf und tastete sich ins Wohnzimmer vor, wo ihr gleich die durchgewühlten Regale auffielen. Im Eingang stand ein Mann mittleren Alters, daneben ein zweiter Mann, offenbar asiatischer Herkunft. Ob Chinese, Japaner, Vietnamese oder auch Koreaner – selbst Yoko war sich da nicht so sicher. Yoko erkannte nur, dass es hier kein Zurück mehr gab.

„Guten Tag. Mein Name ist Eckhard Richter. Ich arbeite für den Verfassungsschutz. Wir wussten, dass Sie hierher kommen werden, wenn Sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Herrn Lockernagel haben wir schon im Visier. Und Sie stehen jetzt am Scheideweg.“ Richter winkte eine Frau aus der Küche herein. „Frau Lee, bitte durchsuchen Sie die junge Dame sehr genau. Sie können das besser und sensibler als ihr Kollege.“

Yoko warf den beiden Asiaten einen verächtlichen Blick zu. „Verräter! Einfach so die Seiten zu wechseln.“ Doch in diesem Moment hatte Richter schon seine Pistole gezogen.

„Es war für uns nicht leicht, uns geschickt zwischen den Fronten zu bewegen, ohne das Vertrauen des Chefs zu verlieren. Aber wir mussten, denn der Weg des Chefs führt uns in den Wahnsinn. Wir wissen, dass du das inzwischen auch so siehst und uns unterstützen willst, weil du sonst keine Zukunft mehr für dich siehst“, entgegnete der junge Mann, der sich als Yun Bon-Hwa vorstellte. „Ich stamme aus dem Süden, befürworte gewisse Werte des kommunistischen Nordens, aber glaube letztlich nur an ein einziges und einiges Korea, das friedlich vereint werden muss. So, wie es in Deutschland geschah. Das können wir nur in Frieden und Freiheit erreichen. Ich sollte die World Unity Mission unterwandern, aber letztlich haben sie mich mit ihren Zielen überzeugt.“

Yoko überlegte kurz: Hier handelte es sich also um die zwei Agenten, die auf ihrer Observierungsliste stehen sollten und die sich nun als Aktivisten und Friedensengel der World Unity Mission tarnten.

Frau Lee wies Yoko an, den Rucksack abzulegen, den Stick mit Informationen über eine neues Präparat auf den Tisch zu legen und sich mit den Händen an die Wand zu stellen. Dann befahl sie ihr, sich vorsichtig umzudrehen. „Setzen Sie sich auf den Holzstuhl und rühren Sie sich nicht!“ Frau Lee durchsuchte ihre Papiere und blätterte fast schon genüsslich in ihrem Reisepass herum, auf der Suche nach Namen, Identitäten und Visumsstempeln.

„Na, wie heißen wir denn nun?“, fragte Richter mit einfühlsamer Stimme.

„Wie es im Pass steht. Omura Yoko, 24 Jahre alt, Studentin aus Tokio mit Visum für Studienaufenthalt in Frankfurt.“

„Aha, und Ihren nordkoreanischen Pass haben Sie bei den Kollegen im Restaurant von Amsterdam gelassen, Choi Eun-Su? Und einen gefälschten chinesischen und südkoreanischen Pass haben Sie sicher auch noch?“

Zum ersten Mal seit den vergangenen Wochen wurde Yoko vor Schreck blass im Gesicht.

Richter lächelte sanft. „Sie sehen, wir sind über alles informiert. Auch über Ihren wahren Grund, warum Sie nach Europa gekommen sind. Diplomatentochter und Nachwuchskraft beim nordkoreanischen Geheimdienst, die ihre große Chance sieht, als ein cleverer Holländer das erste nordkoreanische Lokal in Amsterdam eröffnet. Eine wichtige Devisenquelle für den großen Führer in Pjöngjang, der viele solcher Lokale in China und Malaysia eröffnen ließ, da er die Einnahmen dringend für sein Atomprogramm braucht. Und weil die Lokale gute Umschlagplätze für Drogen sind und sich in den Hinterzimmern gut getarnte Büros unterbringen lassen, die zusammen mit dem Nordkoreanischen Geheimdienst Cyberattacken, afrikanischen Elfenbeinschmuggel und den Diebstahl von Bit Coins in mehrstelliger Millionenhöhe organisieren. Irgendwoher muss die Knete ja schließlich kommen, um bei den internationalen Sanktionen all die Waffen und den Luxus zu finanzieren, um die loyalen Parteigenossen bei Laune zu halten.

Und Amsterdam, die schöne Stadt der Grachten und der Weltoffenheit, Liebe, Gras, da kommt man doch in Versuchung, oder? Und derweil hungern in Ihrer Heimat die Menschen immer noch, es bewegt sich nichts, auch nicht unter dem Großen Nachfolger Kim Jong-Un, oder?“

Yokos Blässe wich einer plötzlich aufsteigenden Zornesröte: „Was denken Sie sich eigentlich? Wir müssen hart arbeiten, um das Restaurant zu unterhalten, zu kochen, die Kellnerinnen und Tänzerinnen zu kontrollieren und die Buchhaltung mit diesem geldgierigen holländischen Geschäftsmann zu regeln. Da bleibt höchstens Zeit für einen gemeinsamen Spaziergang, aber niemals für einen Ausflug ins Rotlichtviertel oder so!“

„Wie auch immer, wir haben Sie durchschaut. Sie waren ambitioniert und haben Ihre Chance genutzt. Frankfurt am Main, die Stadt von Occupy, südkoreanischen Gemeinden und Missionsvereinen, die sich für eine Wiedervereinigung einsetzen. Da gibt es jede Menge auszukundschaften. Also pendeln Sie zwischen Frankfurt und Amsterdam, dort geben Sie sich als Chinesin aus, hier spielen sie die japanische oder kampferprobte russische Studentin. Doch seit Sie in Europa leben und die Nachrichten Ihres Landes aus unseren Medien mitkriegen, denken Sie daran, die Seiten zu wechseln. Und was war das heute? Sie haben der Kommilitonin sicher nicht den richtigen Stick mit den Geheimformeln gegeben. Der ist wahrscheinlich längst in Heidelberg verloren gegangen. Und dann diese Pamphlete, diese Parolen, der Auftritt auf der Demo, das ist doch alles nur Schau. Doch nun müssen Sie sich entscheiden.“

„Es gibt nichts zu entscheiden. Bei der Frankfurter Polizei werde ich verdächtigt, einen Mord begangen zu haben. Doch wenn ich nach der Begegnung mit Ihnen zu meinen Leuten zurückkehre, werde ich liquidiert. Bei uns ist das etwas anders als bei Ihrem so genannten Verfassungsschutz. Wie heißt es so schön bei James Bond: Unser System duldet keine Versager.“

„Aber wir können Ihnen doch helfen und Sie schützen, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten.“

„Sie können gar nichts.“ Mit einem wendigen Satz war Yoko aufgesprungen und hatte sich dem schnellen Zugriff ihres Landsmannes entzogen, der sie daran zu hindern suchte.

„Bleiben Sie stehen!“, forderte sie Richter auf.

Yoko bewegte sich rückwärts Richtung Balkon, während Richter und Yun langsam auf sie zugingen.

„Kommen Sie nicht näher!“, schrie Yoko und zauberte aus ihrer hohlen Hand ein aufklappbares Taschenmesser mit scharfer Klinge hervor. Frau Lee langte sich hilflos in ihre Hosentasche und brachte nur ein kurzes und verzweifeltes „Unglaublich!“ hervor. Ein kurzer Moment hatte für Yoko genügt, um sie abzulenken und ihr das Messer unbemerkt zu entwenden.

„Na, das wollen wir doch mal sehen!“, brüllte Yun, packte sie überraschend, ruckartig und mit derartiger Kraft am Arm, so dass ihr das Messer aus der Hand fiel. Gerade wollte er sie in Handschellen legen, als sich Yoko mit einem heftigen Taekwondo-Sprung aus seiner Umklammerung löste, und ihm dabei noch die Pistole aus dem Halfter zog.

„Noch eine falsche Bewegung und ich schieße euch beide über den Haufen.“

Sie tippelte zwei weitere Schritte und drehte kurz den Kopf. Yoko hatte das Balkongeländer fast erreicht. Sie erklomm mit der einen Hand die Brüstung, in der anderen Hand immer noch die Pistole – und sprang! Fünf Sekunden später hörte man ihren gellenden Schrei und das zerspringende Glas eines Vordachs.

Richter und sein koreanischer Assistent rannten zum Geländer und blickten auf das zersprungene Glasdach einer Werkstatt, unter dem sich die matten Konturen eines gestürzten menschlichen Körpers erahnen ließen. Die Bebauung in den Hinterhöfen des östlichen Gallus war derart dicht und unübersichtlich, dass man den Zugang zu der Werkstatt von oben nicht erkennen konnte. „Na, das war’s dann wohl!“, konstatierte Richter mit gehässigem Grinsen. „Hab doch immer gewusst, dass unsere kleine Koreanerin nicht so tough ist, wie sie tut. Los, wir klettern über den Balkon nebenan zum Nachbarhaus. Bis die Bullen da sind und die Lage hier gepeilt haben, sind wir schon über alle Dächer dieser Stadt hinweg.“ Richter und Yun musterten noch einmal die umliegende zerklüftete Dachlandschaft, schauten auf das zersprungene Vordach und machten sich über die Nachbarhäuser aus dem Staub.

Richter und Yun waren behende über den Balkon und das benachbarte Vordach geklettert, hatten einen blonden Mann beiseite gestoßen und ihm das Handy entrissen, als dieser sie an der Flucht zu hindern drohte. Und doch war keine zehn Minuten später neben einem Rettungswagen auch eine Polizeistreife vor Ort. Ein Nachbar vom Hinterhaus schräg gegenüber hatte den Schrei und das Klirren der Scheiben gehört, sofort den Notruf betätigt und einen Mordanschlag gemeldet – und nun zahlte sich die Nähe der Feuer- und Rettungswache im Gallus aus, die trotz des Großeinsatzes für Occupy Frankfurt die nötigen Einsatzkräfte mobilisieren konnte. Der Hauseingang in den Hinterhof zur Werkstatt mit dem Dach aus Plexiglas war schon bald gefunden, bald darauf waren die Mainzer Landstraße und auch das Gebiet zwischen Frankenallee und Friedrich-Ebert-Anlage abgeriegelt. Lockernagel versuchte noch schnell zu entkommen. Doch sein Fluchtweg war ebenso abgeschnitten wie der zweier weiterer Männer, die sich als harmlose Stammbesucher des Hauses und des Buchgeschäfts bezeichneten. Sie hörten und spürten schon kurz darauf das wohl bekannte Klicken der Handschellen.

Weitere zehn Minuten später waren auch Zorbas und der neue Kollege Wagner vor Ort, nachdem sie vom Präsidium mit Blaulicht über den Alleenring gedüst waren und sich ihren Weg durch die hermetisch abgeriegelte Innenstadt freigeschlagen hatten. In der Frankenallee bewunderten sie die nahezu perfekte Absperrung mit Flatterband, die ihre Kollegen bereits vorgenommen hatten. Dann wurden sie von einer mittlerweile vertrauten und trotz aller Unruhe sicher und freundschaftlich klingenden Stimme in Empfang genommen.

„Ah, der Herr Zorbas und unser junger Freund, wie war noch gleich der Name?“ Klemens Krösch klopfte Wagner mit einem fast jovialen Lächeln auf die Schulter.

„Wagner“, ergänzte dieser.

„Ah, der Herr Wagner. Also, wir haben das Haus gesichert, das Gelände weiträumig abgeriegelt und zwei verdächtige Männer auf der Frankenallee festgenommen, die bestimmt aus der konspirativen Wohnung über der Buchhandlung fliehen wollten. Ihre Personalien werden gerade überprüft, die ausführliche Vernehmung erfolgt später. Natürlich behaupten sie, nichts von dem Mordanschlag und dem Sturz bemerkt zu haben….“

„Gerade habe ich gesehen, wie die Feuerwehr noch an der schweren Eingangstür hantiert. Haben Sie den Tatort im Innenhof des Hausen schon in Augenschein genommen?“, fragte Zorbas.

„Nein, dazu sind wir noch nicht gekommen. Aber nach dem Notruf zu urteilen ist die Frau wohl kaum noch am Leben“, versicherte Krösch.

Delrieux marschierte die Fressgass‘ und Zeil hinunter bis zur Konstablerwache, wo er mit seinem schwungvollen Schritt gerade noch die U-Bahn Richtung Bergen-Enkheim erwischte. Er stieg am Johanna-Tesch-Platz aus, der nach einer der engagiertesten Frauen in der Arbeiterbewegung Frankfurts benannt war, und nutzte die Gelegenheit für einen verlängerten Spaziergang durch die westlichen Wohnquartiere des Riederwalds zu seinem Wohnblock in der Karl-Marx-Straße. Ja, er war stolz, dass er in einer Straße wohnte, die noch den Namen eines großen Vordenkers tragen durfte, der trotz den etwas verwirrten Wegen, die seine politischen Nachfolger beschritten hatten, niemals verboten worden war, sondern sogar in einem Gedenkmuseum in der Geburtsstadt Trier geehrt wurde.

Delrieux schloss seine Wohnung auf, setzte sich, schenkte sich ein Glas Rotwein ein und begann seinen Gedanken nachzuhängen, als es klingelte. Offenbar war der Besuch schon etwas früher da als verabredet. Delrieux ging langsam aber zielgerichtet zur Tür.

„Guten Abend, Jacques. Ich habe eine Bahn früher erwischt, als ich hinsichtlich der Zuverlässigkeit unseres öffentlichen Nahverkehrs hoffen durfte. Ich hoffe, das geht in Ordnung“, grüßte ihn Christiane von Erbenstein.

„Ja klar, Christiane, kein Problem“, entgegnete ihr Gegenüber. „Ich bin nur auch gerade erst nach Hause gekommen. Bitte, nimm doch Platz.“

Die Kommissarin kam diesem Angebot gerne nach, nicht jedoch, ohne vorher einen prüfenden Blick durch die Wohnung geworfen zu haben. Neben einem Frankfurter Schrank und ein paar antiquierten Plüschsesseln dominierte vor allem ein mächtiger Schreibtisch mit breiten Schubladen und zwei großen Schließfächern. Tatsächlich: Die Buchregale mit den Werken zahlreicher revolutionärer Dichter und Denker waren alle um die Büste eines großen Mannes herumgebaut, der den Lieblingsclub des Hausherrn zweifellos verriet: Voltaire.

„Jacques, ich möchte mich zunächst herzlich bedanken, dass ich dieses Gespräch mit dir über den Club Voltaire führen kann, der ja in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag feiert. Ich könnte mir vorstellen, dass einer eurer früheren Gäste mit unseren jüngsten Fall zusammenhängt.“

„Wie bitte? Das wäre ja unglaublich! Delrieux horchte erschrocken auf. „Um wen soll es sich dabei handeln.“

„Das erkläre ich dir gleich. Lass uns erst mal über deine Zeit in den 70er und 80er Jahren sprechen.“

„Aber bitte, mein Name bleibt dabei draußen.“

„Na gut. Erzähl doch bitte nochmal, wann und wie du zu diesem dem Club gekommen bist.“

Delrieux erzählte von seinen ersten Besuchen im Kreis seiner linken Freunde, bei denen er noch den damaligen Studentenführer Daniel Cohn-Bendit, Max Frisch und Günter Walraff kennenlernte. Er berichtete von seiner Freundschaft zum Urgestein Heiner Halberstadt, den er schon bald bei der Organisation und der Bewerbung prominenter Gäste maßgeblich unterstützte.

„Es wird oft erzählt, dass auch Besucher aus den Reihen der Stasi und des Bundesnachrichtendienstes bei euch anwesend waren. Stimmt das eigentlich?“

Delrieux grinste. „Allerdings. Obwohl natürlich die meisten dieser Herren inoffiziell und namenlos bei uns verkehrten.“

„Und dir wurde niemand von denen später bekannt oder ist dir sonst in Erinnerung?“

„Nein. Leider nicht.“ Delrieux zuckte schmunzelnd mit den Achseln.

„Wirklich nicht? Bitte versuch dich zu erinnern. Das wäre natürlich hochinteressant.“ Christiane von Erbenstein blickte Delrieux eindringlich an und klimperte dabei so liebevoll und unwiderstehlich mit den Augen, dass ihr eigentlich niemand einen Wunsch abschlagen konnte.

„Und wenn es so wäre, würde ich es trotzdem nicht gerne erzählen. Auch bei uns ist Diskretion wichtig. Das musst du schon verstehen.“

„Ach, bitte.“ Christiane von Erbenstein blinzelte noch einmal verführerisch. „Wenn ich dir mein absolutes Wort gebe, dass ich es vertraulich behandele und nur sehr diskret für unsere Ermittlungen verwende. Aber es würde mich auch persönlich wahnsinnig interessieren.“

„Also, deine Hartnäckigkeit ist wirklich bewundernswert. Na gut, komm bitte mal mit. Dann zeige ich dir was. Aber nur ganz kurz.“

Delrieux ging zum Schreibtisch und öffnete das rechte der beiden Schließfächer. Er holte einen Ordner heraus, den er mit akribischem Blick durchforstete.

„Hier, das ist eine Gästeliste aus den späten Achtzigern, wenige Jahre vor der Wende. Da haben wir 1986 zum einen KD Wolff, der ja als Schriftsteller für seinen Künstlernamen bekannt ist. Leider wurde ich wenige Tage vor dem Auftritt krank und erfuhr so erst später, dass sich noch ein zweiter Interpret mit dem Namen KK Fuchs aus Rostock angekündigt hatte. Er war wohl auch hier und hat das Publikum mit seinem Auftritt erfreut. Aber ich habe damals schon in verschiedenen Karteien und nach der Erfindung des Internets auch immer wieder online recherchiert, außerdem viele Literaten und Verleger in meinem Freundeskreis gefragt. Einen KK Fuchs gibt es einfach unter diesem Pseudonym nicht. Es scheint eher wie ein…

„Wie ein Trittbrettfahrer, der sich unter einem ähnlichen Pseudonym und ein paar selbstgestrickter Verse an den bekannten Autor drangehängt hat, um hier in Wirklichkeit mit ganz anderen Ambitionen die Szene auszuleuchten…?.“

„So oder so ähnlich, vermute ich. Du hast deinen Beruf wirklich nicht verfehlt.“

„Haben KD Wolff oder andere Autoren jemals von Beobachtungen oder Schikanen und Belästigungen durch die Sicherheitsdienste berichtet?“

Delrieux fuhr sich mit dem Finger durch das Pony. „Nein, nicht dass ich wüsste. Aber das muss auch nicht sein. Ein linker bis sozialistischer Club, das war für die einfach nur bedingt von besonderem Interesse für größere Recherchen und Spionageangriffe, so lange die Clubchefs konsequent und loyal zu ihren sozialistischen Zielen standen.“

Christiane von Erbenstein beendete das Interview, nicht ohne ein stolzes Lächeln, bevor sie die Wohnung verließ und sich zu ihrem Auto begab. Nicht ohne dem Straßenschild „Karl Marx“ noch einmal eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Natürlich rief sie noch spät am Abend bei Pokroff an, um ihm ihre neuesten Erkenntnisse mitzuteilen. Nach dem sie ihm die wichtigsten Sätze auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte, meldete sich der leitende Hauptkommissar noch am späten Abend kurz zurück und bestätigte, die Nachricht verstanden zu haben. Natürlich war er zwischendurch für längere Zeit eingeschlummert. Nur bei dem Namen „KK Fuchs“ schien er für einen Moment hellwach zu sein. Wie auch immer, das klang nun wirklich sehr spannend, und am nächsten Morgen würden sie alles in Ruhe im Präsidium besprechen.

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Ein heftiges Holpern und Scheppern riss Yoko aus ihrem etwas verlängerten Sekundenschlaf heraus. An ein richtiges Nickerchen konnte und durfte sie freilich nicht denken. Und doch ließen sich die gelegentlichen Müdigkeitsattacken nicht ganz vermeiden, drängten , während ihr die Augenlider zuklappten, aus dem Unterbewusstsein die Schreckensbilder gnadenloser Parteisekretäre und Kommandanten nach oben, die Yoko durch Militärcamps gehetzt oder sie zu stundenlangen demütigenden Selbstkritiken und Selbstbezichtigungen gezwungen hatten. Denn in einem Land, in dem grundsätzlich niemand irgendjemandem traut, konnte am Ende nur als loyal gelten, wer sich widerstandslos und ergeben für Dinge beschuldigte und anklagte, die er niemals begangen haben konnte. Und dafür zur Strafe noch härtere Disziplinierungsmaßnahmen über sich ergehen lassen musste. Doch konnte es in einem solchen Land, das zudem große Teile der Bevölkerung hungern ließ und die wenigen zu erwirtschafteten Devisen in einen brutalen und allmächtigen, wenn auch völlig veralteten Militärapparat steckte, überhaupt noch eine Zukunft geben? Fragen, die sich die junge staats- und regimetreue Agentin, die noch vor kurzem die Kronjuwelen für Kim Jong Uns neue Schönheit ausgesucht hatte, niemals stellen durfte – und die sie trotzdem nicht verdrängen konnte.

Inzwischen war Yoko hellwach. Das Scheppern und Holpern schien kein Ende zu nehmen, und jetzt ging es auch noch einen Abhang hinunter. Hier musste es sich zweifellos um einen sehr abgelegenen und schlecht ausgebauten Waldweg handeln, wahrscheinlich eher ein besser ausgebauter Trampelpfad für Spaziergänger. Endlich kam der Lastwagen zum Stehen und die hintere Wagentür wurde aufgezogen. Das Öffnen der doppelten Wand kam ihr wie eine Befreiung aus einem Gefängnis vor.

„Ich hoffe, die Fahrt war erträglich, wenn auch nicht bequem“, nahm sie der junge Fahrer in Empfang, der sich mit dem Namen Miguel Velazquez vorgestellt hatte. Miguel hatte sie in der Tiefgarage unter dem Call Shop in Bockenheim in Empfang genommen, wo Yoko zum ersten Mal aus Baes kleinem Transporter umsteigen musste.

„Wo bin ich hier überhaupt?“ Alles was Yoko in der nächtlichen Dunkelheit erkennen konnte, war ein verfallendes Gehöft neben einem plätschernden Bach. Die einzige Funzel, die über dem Hauseingang vor sich hinglimmte und darauf schließen ließ, dass hier überhaupt noch ein Mensch wohnte, ließ mehr schlecht wie recht den Schriftzug „Taubenmühle“ erkennen.

„Willkommen in Nordhessen, besser gesagt im Herzen der Schwalm!“, rief Miguel mit heißerem Lachen.

„Wie bitte, weiter sind wir noch nicht gekommen?“ Yoko konnte es nicht fassen.

„Wundert dich das etwa? Zweimal wurden wir unterwegs noch kontrolliert, einmal vor Bad Vilbel und einmal kurz vor Friedberg, wo wir vielleicht gerade deshalb aufgefallen sind, weil wir die Umgehungsstraße nehmen wollten. Du kannst von Glück reden, dass unsere Spedition nur beste Wetterauer Kartoffeln und Zwiebeln transportiert und noch niemals irgendwie aufgefallen ist. Zudem hat unser Schweißer einfach fantastische Arbeit beim Einziehen der Doppelwand im Lkw geleistet. Selbst als wir einige Säcke ausladen mussten und die Stahlfugen in Innern des Wagens im Schein der Taschenlampen etwas durchblitzten, haben die bei der zweiten Kontrolle in Friedberg mit ihren Hunden keinen Verdacht geschöpft. Zumal wir ja hinter die Tür auch noch einige Zwiebeln deponiert haben.“

Yoko rümpfte die Nase. „Wie könnte ich das je vergessen? Selbst Kimchi kann für euch westliche Nasen nicht penetranter riechen. Doch wie geht es jetzt weiter?“

„Ganz einfach, jetzt folgt die Übergabe.“

Miguel hatte noch nicht ausgesprochen, als Yoko erneut ein Motorengeräusch hörte und sich die Heuballen in der gegenüberliegenden Scheune bewegten. Langsam schob sich die Schnauze eines Kleintransporters hervor, als der Motor abermals verstummte und die Fahrertür geöffnet wurde.

Zum Vorschein kam ein grauhaariger dickbäuchiger Mann mit ungepflegtem Dreitagebart, bekleidet in Jeans und Cowboystiefeln. Langsam und bedächtig ging er auf Yoko zu, seine gelben Zähne bitzten unter einem derben, fast gehässigen Lachen vor.

„Na, du kleines Luder, du! Du stellt ja vielleicht Sachen an!“, grüßte er.

Yoko schluckte nervös. So einer hatte ihr jetzt gerade noch gefehlt.

„Man, da kommt ja einiges bei dir zusammen, am Ende auch noch der Raub von Daten und Personaldokumenten…“

Nun stand der Dickbäuchige direkt vor ihr und schlug ihr mit seiner dicken Pranke auf den Rücken, so dass Yoko fast den Halt zu verlieren drohte.

„Hey man, Kleine, war doch nur’n Spaß. Ich bin der Uwe Knauff von Winkler Transporte in Kassel. Kannst ruhig Uwe zu mir sagen. Ich hoffe, du hast deine braune Echthaarperücke noch dabei.“

„Wie, ich verstehe nicht recht?“, stammelte Yoko verlegen.

„Ganz einfach. Neulich, als dieses komische Okuupai Kämp- ach mann, mein Englisch ist so schlecht-, also als dieses Lager in Frankfurt kontrolliert wurde, ist irgendeinem von den Bullen aufgefallen, dass die Tochter von dem Chef keinen Perso mehr hat, weil der ihr angeblich von so’ ner Asiatin geklaut wurde. Mann, wenn dass der Vater von der Jetta mitgekriegt hätte, wo seine Tochter sich so rumtreibt und dass man ihr auch noch die Papiere mopst, der wäre voll ausgerastet. Also hat sich die Henriette mit dem Bullen zusammen lieber an mich gewendet. Denn ich gehöre bei Winkler sozusagen zum Inventar. Ich hab das dann gedeichselt und einige Tage später unsere Flucht heute Nacht organisiert.“

Yoko setzte sich etwas verlegen die Perücke auf, einmal zur Probe mit und ohne Sonnebrille.

„Na also, geht doch einigermaßen. Wenigstens fürs Erste. Man, Du steigst jetzt vorne bei mir ein und bist meine Beifahrerin. Man, ich müsste eigentlich direkt weiter nach Schwerin und muss nun wegen dir einen Riesenumweg machen.“

„Und wo genau fahren wir hin?“ Yoko wusste noch immer nicht, wie sie ihren neuen Chauffeur einschätzen sollte, der auf den ersten Blick wenig sympathisch aussah, aber offenbar solche Mühen auf sich nahm.

Uwe lachte abermals auf. „Na, wohin wohl? Richtung entmilitarisierte Zone, sprich ehemalige innerdeutsche Grenze. Die weiteren Anweisungen kommen dann von unterwegs. Und jetzt los, wir müssen sehen, dass wir noch eine ordentliche Strecke zurücklegen, ehe es hell wird.“

„Eine Frage noch? Wie hieß dieser Polizist?“

„Das kann und darf ich dir nicht sagen. Ich musste ihm mein Wort geben. Respektiere das bitte.“

Der Kleintransporter von Winkler fuhr an, und die Taubenmühle war bald wieder in der vollständigen Dunkelheit verschwunden.

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Um Punkt neun Uhr trafen sich Pokroff, von Erbenstein, Zorbas und Wagner im Konferenzraum zur Lagebesprechung. Noch bevor die anderen Kollegen irgendwelche Fragen stellen oder Vorschläge machen konnten, ergriff Pokroff gleich das Wort.

„Liebe Kollegen, was ich jetzt sage, fällt mir alles andere als leicht. Aber wir haben es hier mit einer sehr schwierigen und delikaten Angelegenheit zu tun, die möglicherweise sogar unsere eigenen Reihen betrifft.“

Zorbas, von Erbenstein und Wagner warfen sich gegenseitig irritierte Blicke zu.

„Nein, keine Angst. Mit euch hat das nichts zu tun.“ Pokroff gab sich Mühe, versöhnlich, fast etwas gütlich zu lächeln, bevor er in seiner Erklärung fortfuhr.

„Wir haben drei Fälle von Mord oder versuchtem Mord zu lösen, die auf irgendeine vertrackte Weise zusammenhängen. Und wir haben eine verdächtige und flüchtige Asiatin aufzuspüren, bei der sich die Hinweise mehr und mehr verdichten, dass sie offenbar aus Nordkorea stammt und sich eine japanische Identität zugelegt hat. Weil wir da fast etwas überfordert sind, hat man uns einen erfahrenen Kollegen vom Bundeskriminalamt zur Seite gestellt….“

„Herrn Krösch?“, hakte Wagner vorsichtig nach.

„Genau. Was habt ihr bisher für einen Eindruck von ihm?“

Achselzucken. „Eigentlich ganz nett, kollegial und wirklich kompetent“, meinte Zorbas.

„Dem würde ich nicht widersprechen“, bestätigte von Erbenstein.

Pokroff nickte verständnisvoll. „Das sehe ich zunächst auch so. Aber mir wurde inzwischen nochmal bestätigt, dass er aus der Nähe von Potsdam kommt und zumindest als junger Erwachsener noch in der DDR lebte. Dann konnte er das Land verlassen, doch das hatte offenbar seinen Preis. Möglicherweise ist Herr Krösch nicht ganz unbefangen. Schon bei den früheren Ostdeutschen galt das, was bei den Nordkoreanern bis heute eisernes Gesetz ist. Und in diesem Punkt wurde offenbar bei Herrn Krösch eine Untersuchung eingeleitet.“

„Willst du damit etwa sagen…?“ Zorbas blickte seinen Chef entgeistert an.

„Ich will damit gar nichts sagen. Krösch hat früher beim Bundesgrenzschutz gearbeitet. Deshalb wurde mir von einem hochrangigen Kollegen der Bundespolizei etwas anvertraut, das ich für unsere Ermittlungen berücksichtigen soll. Aber das ist freilich ein Dienstgeheimnis. Ich möchte euch einfach nur bitten, vorläufig etwas auf Distanz zu Herrn Krösch zu gehen. Und jede gemeinsame Aktion mit ihm ist vorher unbedingt mit mir abzustimmen.“ Pokroffs Blick wurde streng. „Das ist eine Dienstanweisung. Verstanden?“

„Eye, Sir.“ Von Erbenstein blitzte ihren Chef an. „Aber kommen wir jetzt zu einem Geheimnis, das mir mein Informant anvertraut hat, der natürlich auch nicht mit Namen genannt werden will, wenn es irgendwie geht.“

„Nun machen Sie uns aber neugierig.“ Wagner rieb sich die Hände, als wollte man ihm gleich einen Thriller erzählen, dessen Auflösung er kaum noch erwarten konnte.

„Es geht um einen geheimnisvollen Besucher, der in den 80er Jahren im Club Voltaire verkehrte. Auch er kam aus der DDR und er trug sich dort mit dem Künstlernamen KK Fuchs ein. Das wirkte unauffällig, da er zusammen mit einem Frankfurter Kollegen mit Namen KD Wolff kam. Nach außen entstand sogar leicht der Eindruck, die beiden seien ein Künstlerduo. Doch das war natürlich alles nur Tarnung. Wir müssen herausfinden, wer sich hinter KK Fuchs versteckt.“

„KK Fuchs“, wiederholte Pokroff langsam und bedächtig. „Vermutlich derselbe, der sich auf dem Internetforum zum Stichwort Dianne als der Magier bezeichnet und nun sämtliche Links und Einträge zu löschen versucht“, meinte Pokroff. „Weißt du, wann dieser seltsame Besucher in den Club Voltaire kam?“

„Irgendwann im Jahr 1986.“

„1986?“, wiederholte Wagner. „Da feierte der Sozialistische Deutsche Studentenbund seinen 40. Geburtstag. Ich hab da mal was für ein Referat in der Schule recherchiert.“

Zorbas schaute auf seine Uhr. „Wir haben im übrigen noch den Besuchstermin bei Bae“, erinnerte er.

„Genau. Den übernimmst du zusammen mit Wagner. Ihr inspiziert dort jede Ecke, lasst euch von dem alten Schlitzohr bloß nicht an der Nase herumführen. Danach fahrt ihr weiter zu den Zeitungsredaktionen in der Frankenallee und recherchiert in den Pressearchiven, was es da für Veranstaltungen im Jubiläumsjahr 1986 gab. Sicher wird es dort archivierte Texte und Bilder zum Club Voltaire aus diesem Jahr geben. Irgendwo wird sich unser KK Fuchs dort sicher verewigt haben.“

„Heute ist Sonntag. Du weißt, dass auch die Redaktionen immer mehr Personal abbauen“, gab Zorbas zu bedenken. „Texte aus den vergangenen Jahren können wir mit etwas Geduld mittlerweile auch selbst online recherchieren. Aber die Pressedatenbanken reichen höchstens bis in die 90er Jahre zurück. Für noch ältere Artikel aus den 80er Jahren werden wir einen Archivar brauchen, der uns die Textmappen oder gar Bände wenn nötig aus dem Keller holt und uns die richtigen Ausgaben heraussucht. Ich wage zu bezweifeln, ob der uns so kurzfristig zur Verfügung steht.“

„Versucht es halt. Und wenn nicht, können wir immer noch morgen im Institut für Stadtgeschichte nachfragen. Die können uns dann wenigstens umfangreiches Textmaterial bereitstellen“, meinte Pokroff.

„Und wir beide?“, fragte von Erbenstein.

„Wir finden jetzt die Adresse von Friederike Fassbender heraus und statten ihr einen kleinen Besuch ab. Denn die Lounge öffnet ja erst heute Abend.“

„Soll ich nicht mitfahren? Schließlich habe ich Friederike Fassbender zum ersten Mal dort getroffen und befragt“, insistierte Zorbas.

„Keine Widerrede, du fährst mit Wagner zu Bae. Und zwischendurch fragt ihr nochmal bei den Kollegen, ob es inzwischen eine Spur von Yoko gibt. Komm, Christiane.“

„Und was, wenn Krösch sich zwischenzeitig meldet?“, fragte Zorbas.

„Dann verweist ihr ihn an mich. Aber das glaube ich gar nicht. Entweder genießt der sein freies Wochenende, oder er hat andere Aktivitäten zu planen.“ Pokroff zwinkerte Zorbas zu, bevor er sich mit Christiane von Erbenstein aus dem Präsidium verabschiedete.

Friederike Fassbender wohnte mit ihrem Lebensgefährten Andreas Schmoll im nördlichen Ostend, in Blickweite zum Mousonturm und der Naxoshalle. Auf der Fahrt dorthin erzählte Christiane von Erbenstein von den Abhörgeräten, die sie mit ihrem Mann Georg in dessen Apartment im Mühlbergschloss gefunden hatte. Doch Pokroff schien ihr nicht recht zuzuhören.

„KK Fuchs“, nuschelte er immer wieder halblaut in seinen nicht vorhandenen Bart. KK. Es gibt nur einen Verdächtigen weit und breit, auf den diese Initialen passen…“

„Waldemar, wie findest du das? Die ganze Wohnung von Georg ist voll von Abhörgeräten. Wir haben sicher noch nicht alle gefunden. Wahrscheinlich steckt dieser komische Barpianist José dahinter. Er ähnelt dem Mann, der kurz vor dem Mordanschlag an der Engelthal im Westhafentower gesehen wurde.“

„Und er ähnelt auch der Beschreibung des Mannes, der mit Rosso gestern übereilt ins Flugzeug nach Bologna gestiegen ist. Er heißt übrigens Giuseppe Bernardi.“

„Aha, und was passiert jetzt mit unseren beiden Italienern? Übernehmen das die dortigen Kollegen?“, wollte die Kommissarin wissen.

„In gewisser Weise, ja. Sie versuchen, an seinen Hintermann Carmine Forino heranzukommen und den beiden illegalen Menschenhandel und Entführung nachzuweisen. Auf diesem Weg kommen wir vielleicht doch noch zur Aufklärung des Mordes der nordkoreanischen Zirkusartistin. Denn auch da scheint es einen Zusammenhang zu geben.“

„Und warum hast du das vorhin nicht auf der gemeinsamen Besprechung gesagt?“ Von Erbenstein kannte ihren Chef und wusste, dass er gewisse Dinge nicht jedem Kollegen im Team bedenkenlos anvertraute.

„Weil die ganze Angelegenheit mehr als abenteuerlich ist und ich selbst auch nicht recht weiß, was ich davon offiziell halten soll. Und vor allem, weil Sawinsky vorerst nichts davon erfahren darf, sonst kann ich meinen Hut nehmen. Aber im Moment ist es unsere einzige Chance, an Rosso heranzukommen.“

Die Kollegin schluckte. „Du meinst doch nicht, du leitest hinter dem Rücken von Sawinsky irgendwelche Ermittlungen ein?“

„Christiane, ich bin unser Teamchef, und ich alleine habe zu verantworten, was ich mit Sawinsky wie abstimme und was nicht. Und jetzt vergisst du die Information mit Italien am besten wieder, verstanden?“

„Eye, Sir. Okay, und was genau soll nun der Besuch bei dieser Barinhaberin bewirken?“

„Nun, sie wird mir ein paar Details zu einem ihrer Bilder beantworten müssen. Aber überlass das ruhig mir.“

„Und die Sache mit Krösch und seinen gewissen Diensten für die Ausreise in die Bundesrepublik?“

Pokroff biss sich auf die Zunge. „Kann ich nicht sagen. Möglicherweise gibt es da einen Zusammenhang. Aber warten wir es ab.“

Von Erbenstein warf ihrem Chef einen irritierten Blick zu. Sie war zwar seine vagen Andeutungen über irgendwelche Indizien und Eingebungen für neue Ermittlungen gewöhnt, aber manchmal konnte das auch ganz schön nerven. Dann klingelte Pokroffs Handy.

„Ja, hier spricht Professor Bornemann. Also ich fasse mich kurz, denn ich will Ihnen nicht zu viel Hoffnungen machen. Aber inzwischen wurde mir gemeldet, dass Nadine Engelthal die Augen kurz bewegt hat, als ein guter Freund sie besuchte.“

„Was sagen Sie da?“ Pokroff konnte nicht recht fassen, was er gerade gehört hatte.

„Vorsicht bitte, das ist wenn überhaupt erst ein allererstes Zeichen. Daraus können wir noch nicht sicher ableiten, ob und wann sie aufwacht. Und dann hat da noch eine junge Dame angerufen. Sie sprach tadellos Deutsch. Na ja, vielleicht ein ganz leichter asiatischer Akzent. Aber bevor ich näheres erfragen konnte, hat sie aufgelegt. Die Nummer kam wohl von einem Call Shop und ließ sich nicht zurückverfolgen.“

„Na, das klingt ja sehr hoffnungsvoll. Besten Dank, Herr Bornemann.“ Pokroff legte auf. Wieder ein Detail mehr, das er rasch seiner Kollegin weitergab.

Pokroff und von Erbenstein parkten im Musikantenweg und liefen die wenigen Schritte zu Fuß. Sie klingelten und hatten Glück. Friederike Fassbender wollte soeben ihren Montagsspaziergang antreten und klimperte bereits mit dem Wohnungsschlüssel, als sie die beiden Kommissare wieder sanft in ihre Wohnung zurückdelegierten.

„Muss das gerade jetzt sein?“, fragte Fassbender unwillig.

„Ich fürchte ja.“ Pokroff zog einen Computerausdruck aus seiner Tasche. „Frau Fassbender, was können Sie mir zu diesem Bild sagen?“

„Was soll damit sein? Ein ganz normales Gemälde vom Eschenheimer Turm. Man kann ja die Katharinenkirche im Hintergrund erkennen.“

„Eben nicht. Das Bild wurde am Computer nachbearbeitet. Wer sich die Proportionen des Turms genau ansieht, erkennt, dass der Künstler ursprünglich den Flatowturm in Potsdam gemalt hat.“

„Selbst wenn, das Bild habe ich vor ein paar Monaten auf einem Flohmarkt gekauft. Es gefiel mir einfach. Nach der Herkunft habe ich mich nie genauer erkundigt. Ob das nun ursprünglich dieser oder jener Turm war und was genau daraus entstanden ist, das fällt ja wohl unter die künstlerische Freiheit.“

„Diese Geschichte glaube ich Ihnen aber nicht.“ Pokroff musterte Friederike Fassbender so scharf, dass sie zusammenzuckte. Was wiederum auch Christiane von Erbenstein sichtlich verschreckte. Gerne hätte sie nun genauer gewusst, was diese seltsame Befragung wirklich bezwecken sollte. Frau Fasbender tat ihr fast etwas leid, aber natürlich wollte sie ihrem Chef auch nicht in die Parade fahren. Deshalb entschloss sie sich für einen diplomatischen Weg.

„Ganz ruhig, Frau Fassbender, regen Sie sich bitte nicht auf. Bedenken Sie bitte, dass Ihr Lokal im gleichen Hochhaus wie das Büro von Frau Engelthal und nur wenige Meter vom Ort des Mordanschlags entfernt ist. Deshalb ist jedes auch noch so geringe Detail wichtig. Herr Pokroff wird Ihnen gleich erklären, warum das Bild für uns eine gewisse, aber eben nicht zu unterschätzende Bedeutung bei unseren Ermittlungen hat.“

Pokroff warf seiner Kollegin einen dankbaren Blick zu. „Wir verdächtigen Sie persönlich ja gar nicht, mit der Sache selbst etwas zu tun zu haben. Aber die genaue Herkunft des Bildes lässt für uns gewisse Rückschlüsse zu, die Sie gleich verstehen werden.“

Friederike Fassbender holte tief Luft und überlegte derweil, wo genau sie mit ihrer Geschichte anfangen sollte.

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Bae hatte Zorbas und Wagner mit der nun schon gewohnten einladenden Geste aus Freude, Demut und Entschuldigung hereingebeten. Solche Gesten konnte man nur verstehen, wenn man wusste, welche besondere Bedeutung Höflichkeit, Gastfreundschaft und Respekt im Wertekanon ostasiatischer Länder besaßen. Man konnte in eine schwierige, sogar peinliche Situation geraten und zugeben müssen, dass man unterlegen war und einen Fehler begangen hatte. Wichtig war es nur, nie sein Gesicht zu verlieren.

„Setzen Sie sich bitte“, bat Bae die beiden jungen Kollegen in sein Wohnzimmer. Städteansichten von Seoul, Landschaftsbilder der südkoreanischen Küste und eine großzügige koreanische Kommode aus Zypressenholz mit honigfarbenen Türen prägten die Einrichtung. Bae hatte extra grünen Tee zubereitet, den er zusammen mit süßen Reiskuchen seinen Gästen anbot.

„Bitte bedienen Sie sich!“, forderte er sie auf.

„Nicht doch, nicht doch. Wir wollen nur genau wissen, was gestern Nachmittag passiert ist und uns dann nochmal ihre Wohnung und ihr Geschäftsgelände anschauen.“

„Das lässt sich nicht so schnell erklären.“ Bae schmunzelte lieblich. „Sie wissen, dass ich vor vier Jahren verhaftet wurde, weil man mich verdächtigte, eine Zirkusartistin aus Nordkorea umgebracht zu haben?“

„Ja, aber was hat das mit unserem jetzigen Fall zu tun?“, hakte Wagner vorschnell ein und erntete dafür einen kritischen Blick von Zorbas.

„Sehr viel. Damals war ich genauso in Gefahr wie heute. Denn immer wenn in Frankfurt etwas passiert, was mit Korea zu tun hat, will man mich am liebsten aus dem Weg räumen. Hinzu kommt, dass Frau Engelthal zu meinen Kundinnen gehörte. Uns verband eine Art gemeinsame Liebe und Verbundenheit zu diesem unglückseligen Land. Deshalb haben wir uns gegenseitig in unser Vertrauen gezogen.“

„Bitte erklären Sie uns die Zusammenhänge“, bat Zorbas.

„Offiziell bin ich vor zwanzig Jahren als südkoreanischer Bürger in Deutschland eingereist und habe in Frankfurt mein Geschäft eröffnet. Aber ich stamme ursprünglich aus der so genannten Demokratischen Volksrepublik und konnte 1972 über den Amrokkang fliehen. Das ist der Grenzfluss zu China, den Sie unter dem Namen Yalu kennen. Mit dabei waren auch ein Mann und eine Frau, die von Yodok und anderen grausamen Lagern berichteten, wo sie gefoltert wurden. An die Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber die Frau erwähnte sogar etwas von medizinischen Experimenten, von denen die Welt erfahren müsste. Schleuser brachten uns über den Fluss, der nachts nur spärlich bewacht wurde. Wir schlugen uns durch bis an die Küste und gelangten als blinde Passagiere auf einem Schiff bis nach Incheon. Dort griff uns die südkoreanische Grenzpolizei auf, hielt uns zunächst für Spione und brachte uns für ein halbes Jahr in ein Quarantänelager, ehe wir uns endlich in Seoul niederlassen durften.“

„Und weiter?“, drängte Zorbas.

„Als vor vier Jahren der Staatszirkus aus Pjöngjang in Frankfurt gastierte, kamen auch Nordkoreaner zum Einkaufen in meinen Laden. Aber das waren Agenten des Geheimdienstes, die herausfanden, dass ich Frau Engelthal von meinen Erlebnissen erzählt hatte und das wir gemeinsam nach einer Möglichkeit suchten, um diese schrecklichen Ereignisse an die Öffentlichkeit zu bringen. Kurz darauf töteten sie die Artistin vor meinem Geschäft. Wahrscheinlich musste sie nur sterben, um mich ins Gefängnis zu bringen und auszuschalten. Und dann tauchte diese geheimnisvolle Yoko auf. Manchmal werden nordkoreanische Agentinnen extra geschult und legen sich eine japanische Identität zu. Aber diese Yoko war anders. Sie begann an ihrer Mission zu zweifeln und suchte einen Vertrauensmann…“

„Krösch?!“, hakte Zorbas nach.

„Ja, Herr Krösch sagte mir, er kann sie als hochrangiger Beamter des Bundeskriminalamtes beschützen, wenn sie überlaufen will. Dann kam es aber neulich zu dieser gefährlichen Situation in dem sozialistischen Buchladen ein paar Straßen weiter. Sie können sich die Durchsuchung sparen. Ja, Herr Krösch hat mich gebeten, Yoko zu helfen und ich habe sie mit einem Lieferwagen wegbringen lassen.“

„Wohin ging die Reise?“, fragte Wagner. „Sicher nicht nach Bornheim.“

Bae zuckte mit den Schultern. „Raus aus Frankfurt und irgendwohin Richtung Norden. Mehr weiß ich nicht.“

„Sicher nicht?“, hakte Zorbas nach.

„Nein.“

„Wie auch immer, Herr Bae, wenn Sie einer möglichen Überläuferin geholfen haben, dann wird die Gegenseite da sicher nicht tatenlos zusehen.“ Bae zuckte zusammen und schaute die beiden Ermittler erschreckt an, als habe er sich diese neue Situation auch erst eben klargemacht. „Sie sind in Gefahr und brauchen eigentlich Polizeischutz. Das Mindeste wären Angehörige oder Freunde, bei denen Sie einige Tage sicher unterkommen könnten.“ Zorbas schaute den Koreaner besorgt an.

„Ja, sicher, ich weiß da schon jemanden. Ich rufe besser gleich ein Taxi.“

„Nein, wir werden Sie hinbringen. Und vor Ihrer neuen Unterkunft werden wir sicherheitshalber einen Polizeiwagen postieren. Zu wem wollen Sie?“

Zu meiner koreanischen Freundin Kang Nayung. Sie wohnt dort seit einiger Zeit mit ihrem Mann im Ostend.“

„Na los, worauf warten wir dann noch!“ Schnellen und sicheren Schrittes ging Zorbas zusammen mit Bae und Wagner hinunter zu seinem Dienstwagen und fuhr los, während Bae telefonierte und seine Notlage erklärte. Keine zehn Minuten später kamen sie in einer Seitenstraße des Parlamentsplatzes an, wo Bae mit ein paar demutsvollen Worten der Entschuldigung die Klingel betätigte. Von den oberen Stockwerken aus hatte man einen herrlichen Überblick über den Ostpark und konnte ganz weit im Hintergrund die leuchtenden Zinnen des Main Plaza in der Abendsonne leuchten sehen. Bei der Begrüßung der Freundin wiederholte sich die Demutsgeste, Zorbas und Wagner mussten fast schmunzeln, als Bae zu einer tiefen Verbeugung ansetzte.

„Darf ich Ihnen meine Freundin Kang Nayung vorstellen? “Bae schien regelrecht um Erlaubnis zu fragen.

„Sagen wir doch um der deutschen Korrektheit Willen lieber Kang-Gerstner“, antwortete die huldvoll lächelnde Dame mit kurzgeschnittenem glänzend schwarzen Ponny in nahezu makellosem Deutsch und verwies auf ihre bessere Hälfte, die bereits aus dem Hintergrund nahte. „Und das ist mein Mann Ingo Gerstner.“

„Sehr erfreut, meine Herren“, grüßte Gerstner herzlich. „Dann mal rein in die gute Stube.“

„Oh nein“, wehrte Zorbas höflich ab. „Nur keine Umstände. Aber irgendwoher kenne ich Ihren Namen. Richtig, Sie sind doch der Taxiunternehmer, der vor fünf Jahren fast Konkurs anmelden musste.“

„Nicht doch, nicht doch, meine Herren. Davon ist längst keine Rede mehr.“ Gerstner nahm seine Frau liebevoll in die Arme. „Nayung stammt aus einer reichen Familie in der Nähe von Seoul und konnte mich nach ihrer Erbschaft großzügig unterstützen. Aber nun kommen Sie doch erstmal rein. Und seien Sie unbesorgt, wir werden unseren lieben Herrn Bae hüten wie unseren Augapfel.“

„Aber wir werden zur Sicherheit einen Polizeiwagen vor Ihrem Haus postieren“, erklärte Zorbas.

„Gott sei Dank, da bin ich beruhigt“ Nayung seufzte erleichtert. „Nun wissen wir ja, dass nichts mehr schief gehen kann.“ Und zu Bae sagte sie auf Koreanisch: „Dann mach es dir erst mal bequem und ruhe dich aus. Ich werde dir Bulgogi mit Reis und Kimchi kochen, damit du dich stärken kannst. Nachher gibst du mir deine Schlüssel, und ich lasse einen unserer Fahrer die restlichen Sachen aus deiner Wohnung in der Hohenstaufenstraße holen. Du wirst ja sicher doch einige Tage bei uns bleiben.“

Zorbas und Wagner verabschiedeten sich von dem liebenswürdig lächelnden Ehepaar. „Na dann Ihnen erst mal alles Gute, Herr Bae, uns Ihnen beiden vielen Dank.“

„Oh nein, wir haben zu danken“, entgegnete Gerstner. „Schließlich haben Sie Herrn Bae extra hierhergefahren. Aber das ist auch besser, nach allem, was passiert ist.“

„Keine Ursache“, rief Wagner zurück, während die beiden Kommissare bereits durch das Treppenhaus nach unten zum Ausgang liefen. Zorbas wollte sofort Pokroff anrufen und ihm die Neuigkeiten mitteilen. Doch der ging nicht ans Handy. Offenbar steckte er selbst noch mitten in der Vernehmung.

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„Also schön“, begannn Friederike Fassbender ihre Erzählung. „Das Bild stammt tatsächlich aus Potsdam. Es zeigt wohl auch den Flatowturm, wie sie richtig vermuteten. Vor vielen Jahren schenkte es mir ein Student, der sich gerade im Malen versucht hatte. Ich nahm ihn für ein paar Nächte in meiner Wohnung auf, er war damals auf der Flucht vor der Polizei. Aber ich wollte ihm helfen, weil ich von seiner Unschuld überzeugt war. Und dafür schenkte er mir zum Dank das schöne Bild. Später sah ich dann, welche Ähnlichkeit der Flatowturm zum Eschenheimer Trum hat und kam auf die Idee, es in einem Grafikstudio so bearbeiten zu lassen, dass es in die Frankfurter Stadtlandschaft passt.“

Pokroff räusperte sich. „Das klingt leider immer noch viel zu abenteuerlich, um wahr zu sein. Das Grafikstudio hat professionelle Arbeit geleistet, aber meine Frau ist Kunsthistorikerin mit einem sehr scharfen und geübten Blick . Der Künstler hatte schon viel früher seine Initialen übermalt, die sie aber noch als KK erkennen konnte. Das sind auch die Anfangsbuchstaben von Klemens Krösch.“

Friederike Fassbender zuckte mit den Augen. „Das muss ein Zufall sein.“

„Ganz sicher nicht, denn auch Herr Krösch stammt aus Potsdam und kam erst später unter, sagen wir, auch etwas abenteuerlichen Umständen nach Frankfurt. Und jetzt bitte raus mit der Sprache: In welchem Verhältnis stehen Sie zu Herrn Klemens Krösch und warum hat er Ihnen das Bild geschenkt?“

Friederike Fassbender holte noch einmal tief Luft. „Meine Vorfahren stammen aus Brandenburg, meine Mutter kam erst in den fünfziger Jahren hierher und heiratete einen gebürtigen Kölner. Der Name Fassbender ist im Rheinland häufig, passt aber natürlich auch gut zu den Küfern in Sachsenhausen. Mein Vater Friedel ist, sagen wir, ein kleiner PR-Gag. In Wirklichkeit hieß er Fritz. Und Klemens Krösch ist der Bruder meiner Mutter, also mein Onkel. Er will nicht, dass ich über sein früheres Leben spreche. Auch nicht über seine Tätigkeit als Maler.“

„Der aber erst einige Jahre später in den Westen durfte?“

„Nein, er durfte natürlich nicht. Er war damals bei der Marine in Rostock und setzte sich bei einer Überseefahrt in Kiel oder Hamburg ab, um sich dann bis hierher durchzuschlagen. Er begann eine Ausbildung bei der Bahnhofspolizei, die später in den Bundesgrenzschutz und die Bundespolizei überführt wurde. Er lebte sich privat und beruflich gut hier ein und konnte zum Bundeskriminalamt wechseln. Doch dann kam ein früherer Kamerad, der inzwischen für die Stasi arbeitete, auf Besuch in Frankfurt bei ihm vorbei und zwang ihn, bei der Polizei zu spionieren. Er setzte unsere Verwandtschaft drüben unter Druck und erpresst meinen Onkel bis heute. Wenn mein Onkel etwas gegen diesen Stasikamerad oder seine, wie ich glaube, zunehmend kriminellen Machenschaften unternimmt, dann droht er selbst mit seiner Vergangenheit aufzufliegen.“

„Und wie bitte heißt dieser Kamerad?“

„Das müssen Sie mir glauben, das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Es gibt in unserer Familie eine stille Übereinkunft, dass über diesen Namen niemals gesprochen wird. Noch nicht einmal meine Mutter kennt ihn.“

„Das fällt mir zwar immer noch schwer zu glauben. Aber immerhin, ein Stück weiter sind wir. Auch wenn es, ehrlich gesagt, eine ziemlich schwere Geburt war. Aber es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass wir über ihren Onkel sprechen müssen“, betonte Pokroff.

„Und wie geht es jetzt für meinen Onkel weiter?“, fragte Friederike Fassbender.

„Wenn dieser Stasikamerad Ihren Onkel erpresst, dann ist er vielleicht noch zu ganz anderen Dingen fähig“, meinte Pokroff. „Ihr Onkel darf jetzt nichts Unüberlegtes tun. Auch wenn es widersprüchlich klingt, vielleicht ist es besser, wenn Sie ihm erst mal nichts von unserem Gespräch sagen. Denn wir müssen eine Panikreaktion vermeiden.“

„Ich weiß nicht recht, aber wenn Sie meinen.“ Fassbender blickte Pokroff ungläubig an.

„Kann ich mich darauf verlassen?“

Fassbender nickte betreten. Pokroff und von Erbenstein reichten ihr die Hand und verließen die Wohnung.

„Glaubst du ihr?“, fragte von Erbenstein, als sie außer Hörweite im Treppenhaus waren.

„Nicht wirklich. Sie rückt mit der Wahrheit nur scheibchenweise heraus. Es ist verständlich, dass sie Krösch schützen will. Aber für mich liegt es auf der Hand, dass er sich hinter dem Kürzel KK verbirgt. KK wie KK Fuchs. Der Stasikamerad ist wahrscheinlich nur erfunden und vorgeschoben.“

„Aber glaubst du wirklich, dass sie sich an die Absprache hält und nicht doch versucht, ihren Onkel zu warnen?“ Die Kommissarin blickte ihren Teamleiter betreten an.

„Wir können es nur hoffen. Abgesehen davon wundert es mich, dass sich Krösch bei mir nicht mehr gemeldet hat. Vielleicht ist er längst auf Tauchstation gegangen, weil er ahnt, dass er in Bedrängnis gerät.“

Noch bevor seine Kollegin irgendetwas auf diese Einschätzung sagen konnte, betätigte Pokroff sein Handy. Doch dieses Mal ging bei Zorbas nur die Mailbox dran. Pokroff nutzte die Zeit, um Bechthold über die neuesten Ergebnisse zu informieren und ihn um einen weiteren Gefallen zu bitten.

„Kannst du deinen Kontaktmann bei der Gauckbehörde anrufen und ihn bitten, ob er über die Stasi-Dokumentationsstellen in Berlin oder Rostock etwas über einen Agenten mit dem Kürzel KK oder KK Fuchs herausfinden kann?“

„Versuchen kann ich’s. Aber heute am Sonntag wird das ganz bestimmt nichts mehr. Eine Privatnummer habe ich im Moment leider nicht.“ Pokroff seufzte. Mit einer anderen Rückmeldung konnte er nicht wirklich rechnen. Zwischenzeitig rief Zorbas zurück, vermeldete Baes Berichte und dessen Eingeständnis, Yoko im Auftrag von Krösch weggebracht zu haben. Pokroff fühlte sich hin- und hergerissen: Einerseits sah er seine Theorie bestätigt, dass Krösch unzuverlässig und verdächtig war, für die Gegenseite zu arbeiten und seine Polizeiarbeit bewusst zu sabotieren. Andererseits, wo mochte Yoko nun sein? Wollte ihr Krösch wirklich helfen oder sie beiseite schaffen, weil er ihr selbst nicht trauen konnte? Und dann kam Zorbas natürlich mit der Nachricht, den Pressearchivar knapp verpasst und nur noch Redakteure gefunden zu haben, die ihm nicht helfen konnten, da sie keinen Zugang zu den Altbeständen hatten.

Mit einiger Mühe rang sich Pokroff dazu durch, wenigstens die Chance für den verbliebenen Sonntag zu nutzen und endlich mal wieder eine reguläre Mahlzeit mit seiner Frau einzunehmen. Immerhin hatte Carola für diesen Abend Ochsenbrust mit Grüner Soße versprochen – Pokroffs zweites Lieblingsessen. Aber an Entspannung war nicht wirklich zu denken.

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An diesem Nachmittag war es drückend heiß in den engen Gassen von Neapel. Don Justo saß nervös in seiner Bar auf der Piazza San Gaetano und schlürfte seinen Espresso, als er in etwa 200 Meter Entfernung fünf Männer mittleren Alters in Leinenjacken mit rot-weißen Ordensbändern und antiquierten Trachtenhüten entgegenkommen sah. Es waren die klassischen feluche, jene Spitzhüte, die man in den italienischen Studentenorden der goliardia trug, wie man die Burschenherrlichkeit südlich der Alpen nannte. ,Immerhin, sie halten sich an die Vereinbarung und die Erkennungszeichen‘, dachte Justo. ,Aber wenn sie heute nicht erfolgreich sind und einige der Brüder hochgehen lassen, dann kann ich mein Testament machen.‘

Andererseits konnte es auch ein großer Tag für Don Justo werden. Der Stadt- und Tunnelführer von Neapel kannte neben den offiziellen auch einige private teilweise geheime Eingänge in das unterirdische Höhensystem von Napoli sotteranea. Doch heute würde er endlich beweisen können, dass sich darunter ein ganzes Netz bisher unbekannter Gänge verbarg, dass niemand mehr kannte – oder niemand mehr kennen sollte. Don Justo hatte nochmal einige Tage extra recherchiert, seine junge Kollegin Laura aus der Universitätsbibliothek hatte ihm noch den ein oder anderen Tipp gegeben. Aus seiner Zeit in Bologna hatte Don Justo einen Studienfreund mit Namen Alfredo Strazzari, der als Notar arbeitete und einen Cousin in Frankfurt hatte. Alfredo war Mitglied in einem Studentenorden und hatte wiederum gute Kontakte zu Carlo Bartoli, der in Bologna eine Sonderkommission gegen das organisierte Verbrechen leitete und einen hochrangigen Camorrista suchte, der sich in den Bergen der Emilia-Romagna als Bauer getarnt versteckt halten sollte.

„Buon juorno, commissario“, grüßte Justo mit unverkennbar neapolitanischem Akzent. „Mamma mia, Sie sind spät dran.“

„Buon giorno“, grüßte Bartoli zurück. „Scusi Signore, aber die Straßen hier sind ziemlich verstopft.“

„So ist Napoli jeden Tag“, antwortete Justo ungerührt und sah die fünf Herren mit eindringlichem Blick an, sich erst gar nicht niederzulassen. „Allora, avanti, gehen wir.“

Bartoli steuerte mit seiner Truppe zielsicher auf den offiziellen Tunneleingang an der Piazza San Gaetano zu. Doch Jon Justo schnalzte unmissverständlich mit der Zunge.

„Halt, nicht diesen Weg“ Dort drüben geht es lang!“

Die Herrengruppe entfernte sich schnellen Schrittes von der Piazza und bog von der nächstgelegenen Hauptstraße mindestens zwei oder drei Mal in verwinkelte Nebengassen ein, in der Bartoli schon bald die Orientierung verlor. Vor einem Gemüsegeschäft rutschte er fast auf einer Palette Tomaten aus, die ein runzliger Händler auf dem Straßenpflaster feilbot, während sich sein Hintermann in einer Wäscheleine verfing. Nein, in Bologna wäre so etwas undenkbar, brummte Bartoli vor sich hin. Dann hatten sie es endlich geschafft. Justo klingelte an einer Tür, rief mehrere Frauen- und Männernamen hinein. Doch nichts geschah.

„Pino?“ , versuchte er es erneut.

Nichts geschah. Justo wartete einen Moment, versuchte es ein zweites und drittes Mal und war schon der Verzweiflung nahe, als endlich ein altes Mütterchen öffnete.

„Giulietta, was hat das zu bedeuten..?“

„Mach dir keine Sorgen, Pino musste mal schnell weg. Na los schon, hinein mit euch, oder wollt ihr mit eurer Verkleidung Karneval spielen?“ Giulietta grinste. „Je weniger man euch auf der Straße sieht, desto besser. Ich zeig euch den Weg.“

Giulietta führte den Männertrupp durch die enge Wohnung vorbei an der Küche, aus der eine Riesenportion Pasta mit Tomatensoße dampfte. Dann ging es eine schmale steinige Wendeltreppe hinunter in den Weinkeller, in dem einige selbstgekelterte Korbflaschen mit rotem Traubenmost im gelben Tuff vor sich hinblubberten. Schließlich öffnete Giulietta eine Tür.

„Va bene, Justo, du weißt, wo es lang geht. Und falls etwas schief geht, ich habe euch natürlich niemals gesehen. Ach ja, und die Hüte lasst ihr besser hier. Die werden euch da unten nur lästig.“

„Schon gut. Warte etwa zehn Minuten und schicke die Kollegen in die übernächste Gasse, etwa zweihundert Meter weiter.“ Justo zeigte auf einen Namen, den er auf einen Notizzettel gekritzelt hatte. „Den Hauseingang finden sie dann schon.“

Giulietta schloss die Tür und schon war es sackdunkel. Justo holte seine Stablampe heraus und gebot dem Trupp, das Gleiche zu tun. „Willkommen in unserer Unterwelt. Die Metropolitana ist dagegen richtig langweilig.“ Justo kicherte.

Doch Bartoli war es nicht nach Lustig zumute. „Porca miseria, wo sind wir hier?“, fluchte er.

„Das ist natürlich kein offizieller Eingang. Er führt in ein Labyrinth von Gängen, das die Stadtverwaltung von Napoli vor fünf Jahren aus ihren Plänen gestrichen hat. Offiziell war es eh nie bekannt.“ Don Justo lachte laut auf. „Die Stadtväter haben nämlich Angst, dass es hier unten spukt. Es fragt sich nur, wer hier spukt.“

Etwa zehn Minuten lang ging es durch eine schwarze verborgene Welt, in der Justo hin und wieder die Umrisse von Latrinen erleuchtete. Hierhin hatten sich im Zweiten Weltkrieg die Neapolitaner geflüchtet. Dazwischen wurden immer wieder archäologische Mauerreste sichtbar. Stammten sie von den alten Griechen, den alten Römern oder doch aus dem frühen Mittelalter? Egal, hier unten flossen die Jahrhunderte in einander, hatten Raum und Zeit keine Bedeutung mehr. Sehr wohl aber die niedrige Decke, an der sich Marco Ruffoni, der Hintermann Bartolis, fluchend den Kopf anstieß.

„So, und jetzt noch einmal nach links“, delegierte Justo seine Leute in einen engen Seitengang, an dessen Ende ein schummeriges rotes Lämpchen leuchtete. Ein Madonnenaltar, damit den Verirrten in dieser Unterwelt ein Licht aufgehen sollte.

„Hab ich’s doch gewusst“, triumphierte Justo und klopfte auf Holz. Dann holte er einen Dieterich hervor und leuchtete mit der Stablampe auf das Schloss, das er nach einigem Probieren schließlich knacken konnte.

Danach ging es noch einmal einige Meter durch einen engen Stollen, bevor ein breitschulteriger Mann den Weg versperrte. Rechts daneben fiel ein Lichtschein durch einen Gulli und gab den Blick auf einen Kehrichthaufen frei.

Justo zog ehrfurchtsvoll seine blaue Stoffmütze und verneigte sich mit einer offenbar einstudierten tiefen Verbeugung.

„Ah, Don Justo, was liegt an? Du weißt, dass du hier nicht durchkannst. Dieser Gang ist nur noch für Sonderdienste und Anwohner mit Sondergenehmigung freizugeben. Eine Vorschrift der Stadt, aus Sicherheitsgründen.“

„Das hier ist eine Sonderführung für hochdekorierte Ingenieure des Tiefbauamtes von Bologna. Natürlich haben wir die vorher angemeldet.“ Justo zog ein zusammengefaltetes Formular aus der Jackentasche. Bartoli glaubte, darin die grünen Umrisse eines Geldscheins zu erkennen.

Der Breitschultrige nahm das Kuvert und steckte es ein, ohne den Inhalt genauer zu prüfen. „Also gut. Ich wusste doch, dass wir uns verstehen. Gleich die erste Tür rechts.“

Der Breitschultrige wich von der Tür, die er mit einem großen Eisenschlüssel aufsperrte. Kaum waren die Männer hindurch, da schloss er hinter ihnen zu. „Okay“, korrigierte Justo. Er wollte also sagen, die übernächste Tür links.“ Nach ein paar Metern leuchtete sie Justo aus , dahinter verbarg sich ein Raum mit einer weiteren Tür und dahinter eine Abstellkammer. „So, Signori, und nun halten Sie sich bitte bereit.“

Justo setzte noch einmal seinen Dietrich an und schob ein Regal beiseite, das man von innen vor diese letzte Tür geschoben hatte. Er drückte sie auf, und schon glaubten Bartoli und seine Truppe, ein gleißendes Licht zu sehen, so hell und blendend wie aus einer jenseitigen Welt. Doch es war ein fahles Neonlicht, das stakkatoartig in einem tiefen Raum flackerte, in den niemals Tageslicht eindringen konnte. Und schon zuckten etwa zehn junge Frauen mit asiatischen Gesichtern zusammen.

„Keine Angst, wir sind von der Polizei!“, rief Bartoli und zückte seinen Dienstausweis. Kurz darauf zogen er und seine vier Begleiter ihre Dienstwaffen. Man konnte schließlich niemals wissen.

Die Frauen schreckten von ihren Nähmaschinen auf. Sie waren offenbar illegale Einwanderinnen, die Plagiate von hochwertiger Markenkleidung herzustellen hatten. Bartoli ging auf die einzige ältere Frau mit leicht ergrauten Strähnen zu und zeigte ihr einen Ausdruck vom Foto der jungen toten Nordkoreanerin mit Leberfleck, die man vor vier Jahren in Frankfurt gefunden hatte. Im Hintergrund war in leuchtenden Lettern der Name des Zirkus Pjöngjang zu erkennen.

„Kennen Sie diese Frau?“, fragte er eindringlich.

Betretenes aber indifferentes Nicken. Die ältere Näherin, die sich später als Mailin Chao zu erkennen geben würde, wusste nicht recht, wie sie mit der plötzlichen völlig unerwarteten und überraschenden Situation umgehen sollte.

„Verdammt, kennen Sie diese Frau? Es geht um ein Verbrechen. Die Frau wurde wahrscheinlich ermordet.“

„Ja, sie arbeitete früher hier“, antwortete die Frau in gebrochenem Italienisch. „Aber wir sind Chinesinnen.“

„Grazie, Signora. Aber wo geht es hier wieder heraus? Und wo wohnen die, die euch hier unten wie Sklavinnen gefangen halten?“

Die ältere Chinesin machte eine erklärende Handbewegung, erst geradeaus, dann nach rechts und dann wieder nach links.

„Das geht dann also zum anderen Ausgang heraus“, stellte Justo fest. „Das entspricht in etwa dem Hintereingang zu der Adresse, die ich den Kollegen der Sonderkommission von Neapel auf den Notizzettel gekritzelt habe.“

Nun ging es wider retour, hinaus aus der Werkstatt durch den Gang und dann rechts hinein, bis der Gang nach einigen Metern wieder vor einem Regal stoppte, hinter dem sich eine mit einem Spezialschloss verriegelte Tür befand. Die würde Justo nicht mit seinem Dietrich aufbekommen. Nun versuchte er es doch mit einer SMS, die beim dritten Versuch aus den Tiefen der Höhlen zum Glück ankam.

Keine fünf Minuten später läutete es Sturm in der Via Atri. Als nach dem dritten Versuch nicht geöffnet wurde, gab Commissario Carlo Sansoni den Befehl, die Tür aufzubrechen. Doch alles was sie vorfanden, war Assunta Orlando, eine beherzte kräftige Matrone, die sich gegen den Überfall der Staatsgewalt lauthals zu wehren wusste.

„Was fällt Ihnen ein“, brüllte sie Sansoni aus vollem Hals an. „Ich werde mich bei Ihren Vorgesetzten beschweren.“

„Ganz ruhig, Signora. Kollegen haben uns gerade informiert, dass man in Ihrem Keller nahe des Abgangs in die unterirdischen Gänge eine Werkstatt gefunden hat, in der Chinesinnen illegal gefangen gehalten werden und Plagiate nähen müssen.“

„Wie bitte, wie kommen Sie zu einer solch unglaublichen Unterstellung? Von meinem Haus aus gibt es keinen Zugang zu den Höhlen. Sie sind von unserem Viertel aus nicht zugänglich. Und wenn es da unten trotzdem eine solche Werkstatt gibt, dann muss sie zu einem der Nachbarhäuser gehören. Jeder weiß hier, dass ich für Ordnung im Viertel sorge und schon zweimal Jungen dabei erwischt habe, wie sie den Alfa Romeo des Padrone im Kaufladen nebenan klauen wollten. In meinem Haus gibt es keine Kriminalität.“

„Signora Orlando, Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Pläne manipuliert und alte Zugänge zum Tunnelsystem als nicht vorhanden oder zugemauert erklärt wurden. Wir hatten aber schon seit langem Hinweise, dass es bei Ihnen im Untergeschoss nicht mit rechten Dingen zugeht. Und wir haben Hinweise, dass Sie mit Carmine Forino verwandt sind, den man schon lange verhaften und anklagen will, auch wenn ihm natürlich angeblich nichts nachzuweisen ist. Und nun führen Sie uns entweder in den Keller, oder wir suchen uns den Weg selbst.“

Assunta Orlando versuchte, der Polizia den Weg zu versperren. Doch sie merkte, dass sie die Männer nicht aufhalten konnte. Mit voller Wucht stürmte der fünfköpfige Trupp der Sonderkommission in die Wohnung und bahnte sich seinen Weg bis zu einer Abstellkammer, wo sie auf eine Schrankwand stießen. Doch diese sollte sich nur als Attrappe erweisen. Schnell hatten sie auch die dahinterliegende Tür aufgebrochen und rannten in den Gang, wo sie kurz darauf mit den Männern von Bartoli zusammentrafen.

„Benvenuti nella Napoli sotteranea“, hieß Bartoli die Truppe willkommen und verwies auf die Chinesinnen, die seine Kollegen aus der Werkstatt herausführten. Als die beiden Mannschaften in das Haus zurückgingen, hörten sie noch Schritte von Männern, die sich offenbar schnell entfernen wollten. Doch es war zu spät. Bartoli und Sansoni holten die Flüchtigen ein und hatten kurze Zeit später auch Totò und Gennaro gestellt, Assuntas Söhne. Bei ihnen wurden Lieferaufträge für Jeans und Poloshirts gefunden. Nun gab es kein Halten mehr. Doch Assunta wollte sich nicht kampflos geschlagen geben. Sie schrie auf die Beamten ein, versuchte sich und ihre Söhne zu rechtfertigen und die italienische Staatsgewalt in Grund und Boden zu verdammen. Erst als die Polizisten rührungslos in ihren Positionen verharrten und Assunta schließlich die Stimme versagte, sank sie nach fünf Minuten auf einen Hocker.

Bartoli ging ruhigen Schrittes auf sie zu und zog ein Foto aus der Sakkotasche. „Sie müssen jetzt gar nichts mehr sagen, Signora Orlando. Wir wissen, dass das alles sehr viel auf einmal für Sie ist. Eine kurze Kopfbewegung genügt uns.“ Bartoli kannte die omertà, die Mauer des Schweigens, die es niemals zu durchbrechen galt.

„Ist das die Villa von Luigi Rosso in den Bergen der Emilia-Romagna, in der sich Carmine Forino versteckt hält? Wir wissen, dass er ein Cousin zweiten Grades, aber durchaus ein vertrauter Verwandter von Ihnen ist.“

Assuntas Kopf blieb regungslos, so lange und genau man auch hinschauen wollte. Doch ein leichtes Zucken mit den Augen konnte sie nicht verbergen. Schon kurze Zeit später klickten die Handschellen.

Danach ging alles sehr schnell. Zwei Stunden später wurde Carmine Forino in Dovadola verhaftet, einem Bergdorf in der Nähe von Castel Bertinoro. Kurz darauf gingenLuigi Rosso und Beppi den Kollegen in Ferrara ins Netz. Das Hotel, in dem sie eingecheckt hatten, um sich im Erdbebengebiet von San Felice und Mirandola zu engagieren, war über die dortige Tourist Information schnell ausfindig zu machen. Beppis Aussehen passte ziemlich genau auf die Beschreibung eines Mannes, der die junge Chinesin unter einem fadenscheinigen Vorwand aus der Kellerwerkstatt mitgenommen hatte. Die Indizien reichten bei beiden für eine Verhaftung aus. Rosso schaltete seinen Anwalt ein, der es auf die übliche Tour versuchte: Die Aussagen der Chinesin, die man ihr unter Druck in einer ihr völlig fremden Sprache abgenötigt hätte, seien widersprüchlich und vor Gericht sicher nicht zu verwerten. Ansonsten habe Rosso lediglich einige Zeit gutgläubig seinen alten Freundes Forino in seiner Villa untergebracht, ohne jedoch etwas von dessen kriminellen Machenschaften geahnt zu haben. Auch Beppi, der getrennt vernommen wurde und versuchte, seinem Boss die gesamte Schuld in die Schuhe zu schieben, hatte erwartungsgemäß kein Glück. Seine Opferrolle als kleiner Handlanger, der immer nur ausgenutzt wurde, kaufte ihm niemand ab. Und so musste sich das ungleiche Gespann wohl oder übel auf einen längeren Aufenthalt hinter Gittern einstellen.

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Der Montagmorgen begann für Pokroff mit einer Überraschung. Sawinsky hatte sich noch einen Tag frei genommen. Normalerweise wäre das eine schlechte Nachricht gewesen, da er die neue Lage umgehend mit seinem Vorgesetzten hätte besprechen müssen. Doch Pokroff kannte seinen Chef, der ihm Krösch aus voller Überzeugung verordnet hatte, dass seine Mordkommission alleine mit den Ermittlungen überfordert gewesen wäre. Sawinsky zählte auf Krösch und würde nur schwer glauben, dass sein Mann vom Bundeskriminalamt sich plötzlich als ehemaliger Stasimann entpuppt hatte, der womöglich noch immer mit dem nordkoreanischen Geheimdienst zusammenarbeitete. Immerhin, diese schwierige Mission blieb Pokroff nun erspart. Doch dafür musste er nun die Ermittlungen alleine koordinieren, konnte nur noch auf Christiane von Erbenstein als seine rechte Hand zählen. Und natürlich auf Bechthold von der Bundespolizei, der ihm aber die Antwort noch schuldig blieb. Doch dann kam ein erster Lichtblick: Die Kollegen aus Neapel vermeldeten per E-Mail die erfolgreiche Enttarnung des illegalen Textillabors und die Verhaftung von Forino, Rosso und Beppi.

Bechthold ließ noch immer auf sich warten. Dafür meldete sich Zorbas gegen 11 Uhr. „Wir haben Glück gehabt!“, verkündete er stolz. „Die Mitarbeiterin vom Lesesaal hatte noch eine Archivmappe vom Club Voltaire in ihrem Regal liegen.“

„Und, nun sag schon!“, drängte Pokroff.

„Negativ. Ich fürchte, das war abermals ein Reinfall. Es ist nur ein einziger Zeitungsartikel von 1986 erhalten, in dem KD Wolff kurz erwähnt ist. Aber die Fotokopie ist ziemlich schlecht, der Name der Zeitung und das genaue Datum sind kaum zu lesen.“

„Und was ist mit unserem KK Fuchs?“

„Von dem ist an keiner einzigen Stelle etwas zu lesen. Aber das klingt doch logisch. Wer immer sich dahinter verbirgt, er wollte völlig unerkannt bleiben, hat weder seinen Namen genannt noch einem Pressefotografen die Erlaubnis gegeben, ein Bild von ihm zu machen. Als man ihm im Club Voltaire das Gästebuch reichte, hat er aus Höflichkeit diesen komischen Codenamen hineingeschrieben, nur damit halt irgend etwas drinsteht, was zu KD Wolff passt. Auf dem Aufmacherbild zum Artikel ist deshalb nur KD Wolff bei seiner Lesung zu erkennen.“

„Das gibt’s doch nicht“, fluchte Pokroff in sich hinein. „Hast du auch wirklich genau nachgeschaut?“

In diesem Moment, als Zorbas die losen Seiten in die Archivmappe zurücklegen wollte, kullerte ein herausgerissener Abschnitt mit einem zweiten Bildchen heraus. „Warte mal. Da ist noch ein kleines Foto, das möglicherweise zum Hauptartikel geholt. Aber darauf ist nur ein junger verkleideter Zauberer zu erkennen, der das Publikum unterhält. Ohne Namensnennung.“

„Sagtest du Zauberer?“ Pokroff schoss die Erinnerung an die gelöschten Links auf dem Forum Dianne wieder in den Kopf, unter denen sich auch ein „Magier“ befand.

„Ja, ein Zauberkünstler.“

„Warte im Institut auf uns. Ich komme mit Christiane dorthin. Und anschließend fahren wir zu Bechthold.“

Pokroff ging ins Nebenzimmer, wo seine Kollegin mit ihrer Hundedame saß. Neben ihr stand eine französische Presskanne mit intensiv duftendem Kaffee.

„Christiane, wir müssen gleich..ach sag mal seit wann hast du diese Presskanne? Du trinkst doch sonst immer Instantkaffee?“

„Bist du verrückt, den habe ich nur die vergangenen Tage zur Überbrückung getrunken, weil unsere Kaffeemaschine mal wieder kaputt war. Doch jetzt habe ich mir dieses tolle Gerät geholt. Genial. Der Kaffee kann sich setzen und wird nach etwa vier Minuten mit dem Stahlsieb nach unten gedrückt. Die Franzosen sagen dazu übrigens Cafetière…“

„Sagtest du Cafetière?“ Der intensive Kaffeeduft brachte Pokroff auf eine ganz neue Idee.

„Ja, wieso?“

„Wie nannte Franco Marinelli die zerbrochene Kanne, die Yoko angeblich kaputtgemacht hat?“

„Da verwechselst du was, das war eine Caffettiera. Aber worauf willst du hinaus?“

„Das erkläre ich dir später. Komm, wir müssen los“, forderte er sie kurz und knapp auf.

„Eye, Sir. Sie kommt aber mit“, betonte von Erbenstein und zeigte auf Sissi.

Pokroff schüttelte dien Kopf. „Doch nicht der Hund….“

„Man weiß nie, wozu wir ihre Spürnase noch brauchen können“, insistiere die Kommissarin.

Pokroff und von Erbenstein waren schon fast aus der Tür heraus, als ihnen die Sekretärin hinterherrief: „Gerade kam ein Anruf vom koreanischen Lokal in der Hohenstaufenstraße. Herr Bae ist wahrscheinlich entführt worden. Jedenfalls sind die Scheiben in seinem Geschäft eingeschlagen. Und da hat der Lokalinhaber schräg gegenüber nachgesehen und festgestellt, dass auch die Wohnung durchwühlt ist. Er hat bei einer koreanischen Freundin im Ostend angerufen. Doch dort ist er angeblich auch nicht. Von Herrn Bae gibt es offenbar keine Spur.“

„Was sagen Sie da? Aber das kann doch gar nicht sein!“, protestierte Wagner, der gerade hereingekommen war. „Wir haben ihn doch sicher bei Freunden mit Polizeiwagen untergebracht und die wollten nur seine Sachen holen lassen…oh nein! Die Wohnung mit Hinterausgang zum Ostpark. Ich glaube, das Taxiunternehmen steckt auch mit dahinter!“

„Davon müssen wir ausgehen. Ich lasse gleich einen Funkspruch an die Reviere los. Aber jetzt müssen wir weg. Los, du fährst“, gebot Pokroff seiner Kollegin und erklärte kurz, er habe noch ein wichtiges Telefonat zu führen. Nach dem Funkspruch und der bangen Hoffnung, Bae werde doch noch unversehrt auftauchen, rief er in Marinellis Lokal an. „Scusi, ich meine Entschuldigung, ist die Paola Mandiani heute zu sprechen?“

„Am Apparat. Sie haben Glück. Ich bin gerade hereingekommen.“

„Das trifft sich gut. Sagen Sie bitte, man erzählte mir, Sie hätten etwas von, na ja, sagen wir Yokos Privatleben und möglichen Problemen mit ihrer Aufenthaltserlaubnis mitbekommen?“

„Na ja, ich habe da mal so eine Szene beobachtet. Mit einem großen dunkelhaarigen bärtigen Mann. Der verhielt sich komisch und schob ihr irgendeinen Zettel mit einer Anwaltsadresse zu. Ich hatte mich kurz vorher gebückt, um etwas aufzuheben, und da dachte er wohl, ich kriege es nicht mit.“

„War dieser Mann auch an dem Tag da, als Frau Engelthal zusammenbrach?“

„Ja, zweimal kurz. Aber da war er ganz anders drauf. Er kam zu mir an die Bar und plauderte locker drauf los, fast so, als wollte er mit mir flirten.“

„Und was haben Sie in diesem Moment genau gemacht?“

„Na, was wohl? Ich stand hinter der Bar und habe gearbeitet. Ich glaube, ich habe gerade Kaffee gemacht.“

„An der Espressomaschine?“

„Nein, die hat doch gestreikt. Ich habe die Caffettiera genommen…“

„Wie hat die ausgesehen?“

„Na, so, wie eine Caffettiera immer aussieht.“

„Also eine italienische Stahlkanne, die man auf den Herd stellt, damit damit das aufkochende Wasser von unten durch das eingebaute Filtersieb mit Druck in den oberen Teil der Kanne strömt.“

„Nein, die war nicht aus Stahl, sondern aus Glas.“

„Vielen Dank, Frau Mandiani, Sie haben mir sehr geholfen.“

Christiane von Erbenstein musste eine Vollbremsung machen, da sie vor lauter gespanntem Hinhören fast ein Auto aus einer Seitenstraße übersehen hätte.

„Aha, jetzt verstehe ich, was du meinst. Das war also so eine Kanne, wie ich jetzt eine habe.“, stellte von Erbenstein fest.

„Richtig, das war keine italienische Caffettiera, sondern eine französische Cafetière, eine offene Glaskanne, die mit dem Latte Macchiato –Glas gemeinsam zu Bruch ging. Wahrscheinlich ist sie das Tatmittel.“

Knapp zwanzig Minuten später kamen Pokroff und von Erbenstein im Institutsgebäude im Refektorium des Karmeliterklosters an. Noch bevor sie hinauf in den Lesesaal gehen konnten, kam ihnen Zorbas bereits auf der Treppe entgegen. „Hier sind der Artikel und das Bildchen“, rief er ihnen entgegen.

Pokroff riss ihm die Papierstücke fast aus der Hand. „Kein Zweifel, das Bildchen muss zum Artikel über den Club Voltaire gehören. Hier, sieh mal Christiane, ein schöner junger Mann.“

„Und noch ein bezaubernder dazu. Schwarze Haare, Vollbart, könnte mit etwas Fantasie fast, nee, halt , doch nicht, man wenn doch nur die Qualität etwas besser wäre. An dem Tag muss der Kopierer genauso gestreikt haben wie bei uns immer der Kaffeeautomat.“

„Hm, wenn wir das nochmal kopieren, können wir gar nichts mehr erkennen.“ Zorbas zeigte bei der Aufsicht seinen Dienstausweis vor und erwirkte bei der Aufsicht, die kopierte Seite und das kleine Bildchen in einer Klarsichthülle mitnehmen zu dürfen. Dann ging es weiter zum Hauptbahnhof, zur Wache der Bundespolizei. Unterwegs klärte Pokroff den jungen Kollegen über das Verschwinden von Bae auf, was dieser bestürzt zur Kenntnis nahm.

„Die Koreanerin und der fast bankrotte Taxiunternehmer, da hätte ich Verdacht schöpfen müssen. Offenbar kann man gar niemandem mehr trauen.“ Doch Pokroff beruhigte ihn. „Nein, Wagner und du, ihr müsst euch gar keine Vorwürfe machen. Die Lage ist so verzwickt, dass niemand mehr durchblickt.“

„Gut, dass ihr kommt“, rief ihnen Bechthold an der Wache am Hauptbahnhof entgegen. „Ich habe hier auch etwas sehr Interessantes für euch. Die Rostocker haben tatsächlich einen hauptamtlichen Mitarbeiter gefunden, auf den das Kürzel KK passt. Es handelt sich dabei um den Decknamen Kim Kupferfeld.“

„Kim? Das ist in Europa ein Jungen- oder Mädchenname. In Korea ist es einer der drei meistverbreitetsten Familiennamen“, stellte Zorbas fest.

„KK, Kim Kupferfeld“, wiederholte Pokroff grübelnd. „Kupferfeld, das ist die deutsche Übersetzung für Copperfield. Ein Magier, der für die Stasi arbeitete und gute Kontakte nach Korea unterhielt. Nach Nordkorea, um genau zu sein. Haben wir dazu auch ein Bild?“

„Kommt gleich“, sagte Bechthold und zog ein Blatt aus dem Faxgerät.

„Aha, nochmal der gleiche junge Mann, mit etwas lichteren Haaren. Oder vielleicht auch einfach nur ohne Perücke. Ich darf mal schnell beim Einwohnermeldeamt anrufen und fragen, ob hier in Frankfurt ein Herr gemeldet ist, auf den die Beschreibung von Kim Kupferfeld passt? Denn der, den wir suchen, steht bestimmt nicht im Telefonbuch.“

Das Telefonat dauerte trotz leichter Störungen im zentralen Computersystem der Stadtverwaltung keine zehn Minuten. Vom Hauptbahnhof aus ging die Fahrt direkt weiter Richtung Bockenheim, immer in Blickweite zum Europaturm. In der Frauenlobstraße bog das Dreierteam in einen Seitenweg ein, der Pokroff zum Grinsen brachte: „Diebesgrundweg. Eigentlich hätten wir uns gleich denken können, dass wir unseren Mann hier suchen müssen.“

Die gesuchte Adresse befand sich hinter einem wuchtigen mehr als mannshohen Tor, dessen Pfeiler von blaugoldenen Weltkugeln bekrönt wurden. „Seht ihr, Frankfurt ist eben doch ein globales Dorf“, schmunzelte Zorbas. Pokroff parkte den Wagen einige Meter weiter im Verbindungsweg durch die Kleingartenkolonie über die Vereinsgaststätte Ginnheimer Höhe zum Grüneburgpark und der Bundesbank. Er bestand darauf, dass die Pudeldame, für die sich mittlerweile der Name Sissi eingebürgert hatte, einstweilen im Auto bleiben musste. Die geräumige, schneeweiß gekalkte Backsteinvilla verbarg sich fast vollständig hinter Mauern, Bäumen und Dornenhecken. „Los, wir versuchen es über das Nachbargrundstück, dort kommen wir notfalls über den Zaun“, schlug Pokroff vor. „Die Funkstreife, die ich unterwegs verständigt habe, muss gleich hier sein.“

„Halt, was soll…!“, versuchte eine Nachbarin zu protestieren, doch die drei Ermittler zückten nahezu synchron ihre Dienstausweise, wie sie es für solche Situationen immer wieder geübt hatten. „Pst, Noteinsatz!“, zischte Pokroff halblaut zurück, worauf die ältere Dame aufgab und das Trio über das hintere Gartenmäuerchen auf das Grundstück der Zielperson kletterte.

Mit der entsicherten Waffe schlichen Pokroff, von Erbenstein und Zorbas an der Hauswand entlang durch den Garten. „Formation Krebs“, befahl Pokroff, und schon gingen die drei seitwärts an der Wand entlang. Eine Atlaszeder, in der ein Eichhörnchen turnte, und ein paar kleinere Tannen, sonst war nichts Auffälliges zu erkennen. Vom Nachbargrundstück aus miaute ein Kater herüber, als wolle er seinen Rivalen herausfordern. Zorbas war als erster an der Terrassentür, die nur angelehnt war. Das Polizeitrio tastete sich vorsichtig durch das Wohnzimmer , bis sie Stimmen hörten.

„Wo ist Yoko? Wie konntet ihr sie schon wieder entkommen zu lassen?“

„Du musst verstehen, die unübersichtliche Verkehrssituation wegen Occupy. Aber keine Sorge, der Kartoffeltransporter liefert Yoko kurz vor Magdeburg ab, wo unser getreuer Spirituosenhändler die Kleine übernimmt. Eine Sonderlieferung mit edlem Armagnac in die Nordkoreanische Botschaft in Berlin. Dort wird man sich um unsere Agentin kümmern. Aber das war das letzte Mal. Alfred, ich mache da nicht mehr mit! Ich steige aus, endgültig. Das hat doch alles keinen Zweck mehr. Zum Glück waren die Ermittlungsbehörden in Prag sehr kooperativ. Und die wenigen Hinweise, die fast bis nach Frankfurt durchgedrungen wären, konnte ich vorher abfangen. Doch du kannst das Ganze jetzt nicht einfach in die Slowakei verlagern. Auch wenn die Dienstmaschine aus Pjöngjang bald in Bratislava ankommen soll…“

„Sag du mir nicht, was ich zu tun habe. Du kannst gar nicht aussteigen. Du steckst genauso mit drin wie wir auch. Denkst du, ich lasse mir meinen Plan von dir kaputt machen? Reicht schon, dass sich dieser verdammte Maccaroni nach Italien abgesetzt hat. Von dir lasse ich mir nicht auch noch in die Suppe spucken! So, und jetzt kümmerst dich um unseren Freund.“

Die Tür zur Bibliothek stand einen winzigen Spalt offen und man konnte ahnen, wohin die Hand des Mannes wanderte, der gerade in drohendem Tonfall gesprochen hatte. Ein wahrer Blickfang war jedoch der Bibliotheksraum selbst: An zwei Seiten zierten ihn Fenster mit diversen bunten Glasmalereien.

„Hände hoch, Polizei!“, schrie Pokroff, der sich inzwischen wieder an die Spitze des Trios vorgearbeitet hatte, und stieß die Tür auf. Dann blickte er ebenso wie seine Kollegen in die fassungslosen Gesichter von vier Männern.

„Ah, Herr Krösch, sehr aufschlussreich, Sie hier zu sehen! Und die Herren Yun und Richter, das sind doch auch bekannte Gesichter. Und Sie da drüben sind der Hausherr, nehme ich an? Ganz langsam aufstehen, die Hände oben lassen und herüberkommen!“

„Aber Herr Pokroff, ich bitte Sie! Sie können mich durchsuchen und werden auch nicht die kleinste Waffe an meinem Körper finden. Wir hatten nur gerade eine kleine Besprechung für unser Kunst- und Kulturnetzwerk.“

„Ach ja, und Ihr so genannter Freund, von dem Sie gerade sprachen, gehört wohl auch dazu? Wer ist damit gemeint?“

„Oh, nur ein guter Bekannter aus der Innenstadt, den wir später noch treffen wollen.“

Von Ihren Netzwerken, die über halb Europa bis nach Nordkorea reichen, haben wir ebenso genug wie von Ihren miesen Zauber- und Taschenspielertricks, Herr Kühn“, rief Christiane von Erbenstein.

„Ich kann das alles erklären, Herr Pokroff. Es ist nicht so, wie Sie denken. Ich, ich bin da unfreiwillig in etwas hineingeraten“, flehte Krösch mit erhobenen Händen.

„Schon gut, Herr Krösch, zu Ihnen kommen wir später. Sie warten mit Yun und Richter im Nebenzimmer.“ Inzwischen waren vier Streifenpolizisten durch die Terrassentür gekommen. „Bringen Sie ihn herüber.“

Zwei der uniformierten Kollegen taten wie ihnen geheißen. Die anderen beiden blieben mit den drei Kommissaren bei den anderen beiden Herren.

„So, Herr Kühn, und jetzt zu Ihnen. Seit wir ein paar alte Akten, Zeitungsfotos und schließlich den Einsatzbericht der Kollegen aus Neapel über ihren werten Kompagnon Rosso erhalten haben, fügen sich die letzten Puzzlesteine zusammen.

Kühns Augen flackerten kurz auf. Aber er war bemüht, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen“, beteuerte er.

„Alfred Kühn alias Kim Kupferfeld. NVA-Marineoffizier und hauptamtlicher Mitarbeiter der Staatssicherheit mit dem Spezialgebiet Nordkorea. Der Vater half als Pionier beim Wiederaufbau der Stadt Hamhung, die im Koreakrieg zerstört worden war. Ein längerer Studienaufenthalt in den 1970er Jahren an der Universität von Pjöngjang. Zudem begnadeter Zauberer wie schon der Großvater, der früher auf Jahrmärkten in Potsdam aufgetreten ist.“

Kühns Miene blieb regungslos.

„Über Ihr so genanntes Netzwerk konnten Sie den Kontakt zu Rosso herstellen, der als Geschäftsmann häufig in Berlin tätig ist. Vor ein paar Jahren, als Sie zeitweilig in Potsdam lebten, konnten Sie ihn persönlich kennenlernen. Aus Potsdam kennen Sie freilich auch Herrn Krösch, der ebenso wie Sie bei der Marine in Rostock gedient und sich frühzeitig in den Westen abgesetzt hat. Darauf begannen Sie, seine Familie zu drangsalieren. Sie konnten in Ihrer Mission als Agent immer wieder hinüberreisen und setzten Herrn Krösch spätestens bei ihrem Frankfurtbesuch 1986 mächtig unter Druck. Wenn er seinem sozialistischen Vaterland drüben nicht ein paar Gefälligkeiten erweisen würde, müssten die Verwandten in Potsdam mit viel schlimmeren Schikanen rechnen…

„Ihre blühende Fantasie möchte ich haben.“ Kühn versuchte ein abfälliges Grinsen. „Doch nur mal rein theoretisch angenommen, das, was Sie da alles Absurdes behaupten, würde wirklich stimmen, so stünde es doch in keinerlei Zusammenhang zu den Fällen, in denen Sie in den letzten Wochen ermitteln. Und beweisen können Sie schon mal gar nichts!“

„Oh doch, Herr Kühn, das kann ich. Kommen wir zurück zu Luigi Rosso, der bis gestern zusammen mit seinem Partner Carmine Forino in den Katakomben von Neapel eine illegale Textilwerkstatt für Chinesinnen ohne Aufenthaltsgenehmigung unterhielt. Als vor vier Jahren der Staatszirkus von Pjöngjang in Frankfurt gastierte, kam Ihnen eine Idee. Etwa zeitgleich begann die weltweite Banken- und Wirtschaftskrise, zudem leben und arbeiten in Frankfurt zahlreiche Südkoreaner in florierenden Wirtschaftsunternehmen. Deshalb wollten Sie mit Ihren Kontaktleuten vom nordkoreanischen Geheimdienst eine Agentin in Frankfurt platzieren.“

„Das wird ja immer abstruser!“, entgegnete Kühn.

„Keineswegs. Eine ältere chinesische Textilarbeiterin in Neapel hat eine jüngere Kollegin auf einem Polizeifoto erkannt, die unserer Yoko verblüffend ähnlich sieht. Welcher Europäer kann schon Koreaner und Chinesen unterscheiden? Rosso und Forino ließen in Ihrem Auftrag die junge Chinesin entführen und nach Frankfurt bringen. In der Nähe vom Zirkus brachte sie Rossos Handlanger Giuseppe bei Nacht und Nebel um und platzierte sie vor Baes Laden, damit der verhaftet wird und nicht länger mit Frau Engelthal und anderen engagierten Menschenrechtlern Recherchen über die Missstände und Menschenfolterungen in Nordkorea anstellen kann. Nun konnte unsere junge begnadete Artistin, ihre Position als Agentin einnehmen. Das Zirkusteam identifizierte die ermordete Chinesin als besagte Artistin, die daraufhin in Nordkorea offiziell für tot erklärt wurde. Wahrscheinlich weiß nicht einmal die eigene Familie, dass sie als Spionin mit ihrer neuen japanischen Identität als Yoko in Frankfurt lebt. Nun konnte sie, wenn nötig, mit Komplizen Firmen, christliche Gemeinden der Südkoreaner und humanitäre Organisationen wie die World Unity Mission unterwandern. Ein paar der rund 150 offiziell registrierten Nordkoreaner in Frankfurt mögen ihr geholfen oder sie zusammen mit Ihnen kontrolliert haben, auf den Rest hatte Yoko selbst ein umso wachsameres Auge.“

Kühns Miene versteinerte.

„Es gehört seit vielen Jahren zu den Methoden des nordkoreanischen Geheimdienstes, Spezialagentinnen in japanischer Sprache und Kultur auszubilden, damit sie hier nicht als Bürgerinnen eines kommunistischen Landes auffallen. Hätte man Yoko geschnappt, dann unter ihrer falschen Identität. Denn als Nordkoreanerin wurde sie hier offiziell ermordet, dafür wurde die tote Chinesin an Yokos Stelle in der Heimat beigesetzt. Ein perfider Plan. Doch war Ihre Agentin wirklich noch zuverlässig? Sie sollte sich persönlich an Frau Engelthal heranmachen, die wertvollen Schmuck designte, und dabei nebenher die Prachtcolliers für Kim Yong Uns neue Frau aussuchen. Sie sollte sie überwachen, ausspionieren und nach erfolgter Lieferung wenn nötig ausschalten. Doch Frau Engelthal und der Südkoreaner Park Il Sung, der offenbar für den NIS arbeitete, schafften es auch ohne Bae, ihre Recherchen fortzuführen und auf ein Internetforum zu stellen. Dadurch wäre die Welt nicht nur über die grausamen Lager in Nordkorea informiert worden, sondern auch über ihr neues Rauschgift. Deshalb sollte Park durch Yoko in eine Falle gelockt und getötet werden. Doch sie warnte ihn und warf mit ihrem Messer absichtlich daneben. Sie aber lauerten ihm zusätzlich mit der Armbrust im Grüneburgpark auf, schafften als Gärtner getarnt die Leiche weg und entsorgten sie im Zeilsheimer Wäldchen. Über den Verbindungsweg durch die Kleingärten sind sie ja schnell dort. Dann sollte endlich Frau Engelthal sterben. Sie wollten das selbst erledigen, zumal sie als Zauberer unbemerkt eine normale gegen eine mit Gift präparierte Kaffeetasse austauschen können. Sie gaben Yoko extra Anweisung, an diesem Tag nicht im Lokal zu arbeiten. Doch Yoko folgte Ihnen nicht, tauschte im letzten Moment doch den Dienst mir der italienischen Kollegin, die Yoko unter Druck setzte, weil sie offenbar etwas von ihrem Doppelleben mitbekommen hatte…“

„Sie spinnen ja.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Sie waren am Tag des Anschlages zwei Mal im Lokal. Das erste Mal brachten Sie ihrem Freund Reinhard Zander ein Designbuch vorbei. Aber da war Frau Engelthal noch nicht da. Sie stellten Ihrem Freund eine Dose Süßstoff-Tabletten auf den Tisch, damit er sie später hinüberreicht und wir denken sollen, dass daraus das Gift kam. Dann gingen Sie und kamen einige Minuten später nochmal wieder. Da war Frau Mandiani gerade noch da und kochte Kaffee. Und zwar mit einer Cafetière. Sie plauderten angeregt mit ihr, sprachen vielleicht sogar mit den Händen, wie es die Italiener gerne tun, um sie abzulenken und die hochkonzentrierte Tablette im richtigen Moment in die offene Kanne zu werfen. Eine kleine unscheinbare Tablette aus der Hand eines geübten Magiers. Es hätten noch drei Leute danebenstehen können, und keiner hätte etwas bemerkt. Sie löste ich auf, bevor Frau Mandiani das Sieb herunterdrückte, was ein paar Minuten dauert. Doch dann kam Yoko, die gegen ihre Anweisung den Dienst getauscht hatte. Yoko nahm das Glas und auch die Kanne auf dem Tablett mit hinaus, um Frau Engelthal einzuschenken. Von Ihrem Plan und der Überdosis wusste sie wahrscheinlich nichts. Aber als sie aber sah, wie die Engelthal zusammenbrach, konnte sie Eins und Eins zusammenzählen und wusste, dass der Verdacht auf sie fallen würde. Also ließ sie die Kanne ebenso fest wie das Glas fallen, damit beides zerbrach, und provozierte so ihren Rausschmiss. Alleine das Stahliseb musste sie irgendwo unauffällig verbergen und später entsorgen.“

Kühns Gesicht lief feuerrot an.

„Was haben Sie schon für eine Ahnung? Der Westen ist seit der Wende nur doch dekadent geworden. Nordkorea ist eines der letzten Länder dieser Welt, in dem noch wahre kommunistische Werte gelebt werden, die ich gerne unterstützen mag. Und dazu stehe ich auch!“, erklärte Kühn mit pathetischer Miene.

„Als ob Ihnen kommunistische Werte etwas bedeuten würden? Sie sind genauso ein geldgieriger und mieser Verbrecher wie Rosso oder Forino, mit denen Sie hier in Frankfurt und womöglich auch in Berlin einen ganz neuen lukrativen Drogenmarkt aufziehen wollten. Sie wussten durch Ihre Agententätigkeit, dass die Nordkoreaner seit dem Koreakrieg in ihren Lagern mit dem Aufputschmittel N-Methylamphetamin experimentieren. Und Sie wussten ebenso, dass sie über die internationale Drogenmafia in den weltweiten Handel mit Crystal Meth verstrickt sind, weil sie dringend die Devisen brauchen. Hergestellt wird das Zeug vor allem in Tschechien, wo kürzlich ein Drogenlabor hochgenommen wurde. Ob das nun in Frankfurt als Straßen,- Party- und Designerdroge oder als aufputschendes Medikament für Workaholics gehandelt wird, darüber mag der Markt entscheiden. Doch damit nicht genug. Sie kauften sich über Najung Kang in Gerstners Taxiunternehmen ein, um selbst die ahnungslosen Fahrer als Ihre getarnten Handlanger einzusetzen. Ach ja, und dann ist da noch Ihre Briefkastenfirma in Luxemburg, über die Sie das nordkoreanische Restaurant in Amsterdam, die Spring Bus Tours und womöglich auch die Logistik für den Staatszirkus gewinnbringend und steuerfrei betrieben haben. Nein, mit kommunistischen Werten hat das nun wirklich nichts zu tun.“

Kühn sagte nichts mehr.

Pokroff sah Kühn minutenlang an. Eine gefühlte Ewigkeit. „Wo ist Bae?“

Kühn schüttelte den Kopf, teilnahmslos wie ein Kellner einer HO-Gaststätte.

„Den haben wir nicht.“

„Na los, ich höre!“, schrie ihn Pokroff an.

Kühn grinste.

„Wir stellen das ganze Haus auf den Kopf!“

„Das können Sie ruhig tun. Sie würden ihn niemals finden, selbst wenn er hier wäre.“

Pokroff winkte einen Uniformierten heran.

„Herr Kühn, ich nehme Sie wegen Mordes an Park Il Sung und versuchten Mordes an Nadine Engelthal fest. Zum Glück ist Frau Engelthal aus ihrem Koma erwacht. Dafür dürfte der Mordanschlag auf Wolf Schahl auf Ihr Konto gehen.“

„Was? So ein Quatsch, das war Rosso, dieser verdammte Looser!“ Kühns Augen glühten.

„Wie auch immer, Sie werden einen guten Anwalt brauchen! Und wo verdammt noch mal ist Bae?

„Ich sagte doch bereits, der ist nicht hier.“

Pokroff instruierte seine Kollegen. „Los, abführen!“

Pokroff räusperte sich und atmete tief durch. Christiane von Erbenstein blickte ihn fragend an. „Na, dann schauen wir mal, was unser lieber Kollege vom BKA macht.“ Zorbas wartete bereits im Nebenzimmer. Er hatte Yun und Richter mit ihrer Lage konfrontiert und sie eingehend befragt. Sie hatten den Vorwurf der Mittäterschaft nach anfänglichem Zögern zumindest nicht abgestritten. Eine eingehende Befragung würde im Präsidium erfolgen.

Pokroff blickte Krösch eindringlich an.

„Und nun zu Ihnen. Ich verstehe ja, dass Kühn Sie unter Druck gesetzt hat. Aber seit vier Jahren haben Sie praktisch die Seite gewechselt und arbeiten diesen Verbrechern in die Hände. Vor vier Jahren übernahmen Sie die Ermittlungen im Fall des nordkoreanischen Zirkusmordes und ließen Sie absichtlich ins Leere laufen. Ebenso wie die internationalen Ermittlungen zum Drogenlabor und den Crystal-Meth-Handel in Prag, Amsterdam und Frankfurt. Sie täuschten uns mit präparierten Sticks, auf denen nur das über Korea draufstehen sollte, was sowieso jeder weiß. Sie kamen unseren Einsätzen mit ihren Leuten immer wieder zuvor und ließen Yoko, Richter und Yun entkommen. Vor allem aber deckten und schützten Sie dieses Schwein von einem Herrn Kühn. Warum, zum Kuckuck nochmal?“

„Wissen Sie, wie das ist, wenn man mit der Familie Jahre lang unter Druck gesetzt wird, weil man mal eine Dummheit begangen hat und abgehauen ist? Yoko aber wollte ich helfen, denn sie wollte am Schluss überlaufen. Was denken Sie, wer Zorbas das Billigangebot von Dutch Spring Tours zugesteckt hat, damit Yoko ihn schon in Amsterdam kennenlernen konnte, wo sie zusätzlich den Restaurantservice als Devisenquelle mit einrichten sollte? Dort hat die Flucht nur leider nicht geklappt, weil sie so gut von ihren Aufpassern aus dem Restaurant bewacht wurde. Ich habe auch im Salon Schehrle das rote Haarfärbemittel gekauft und den Brief an Zorbas schreiben lassen. Doch dann kam an der Main-Neckar-Brücke der Mordanschlag auf Wolf Schahl dazwischen. Am Ende habe ich mit Bae ihre Flucht im Lieferwagen organisiert.“

„Die offiziell wohin gehen sollte?“

„In die nordkoreanische Botschaft von Berlin. Aber der Wagen wurde in Nordhessen umgeladen.“

„Und weiter?“

„Das übernehmen meine Kollegen in Norddeutschland. Ich kenne im Moment auch keine Details. Der Einsatz darf durch nichts gefährdet werden. Das müssen Sie schon verstehen. Aber glauben Sie mir, sie ist in Sicherheit.“

„Aber es geht hoffentlich nicht über Magdeburg?“

„Wohl eher nicht.“

Pokroff ließ einen kurzen Funkspruch los, noch einmal eine Verstärkung der Polizeikontrollen an den wichtigen Fernstraßen Richtung Berlin anzuordnen. Dann blickte er Krösch mehr als misstrauisch an.„Hoffen wir mal für Sie, dass das auch stimmt. Ach ja, wie sieht es mit dem Stoffkörbchen und der Botschaft in der Yushu-Schrift aus?“

„Fragen Sie doch Liebhardt, der hat selbst bestätigt, dass die Zeichen zu den gefälschten Goldkettchen gehören und auf das 14. Jahrhundert verweisen.“

„Na schön, lassen wir es gut sein für heute. Doch Sie verstehen, dass ich auch Sie verhaften muss.“

Krösch nickte stumm.

Die Streifenpolizisten brachten Krösch und Kühn hinaus. Von Erbenstein ging zum Auto und holte Sissi heraus. Die Pudeldame sprang freudig vom Hintersitz und lief bei Fuß neben der Kommissarin her. Als Sie jedoch in die Nähe von Kühn kamen, knurrte und bellte sie, riss förmlich an ihrer Leine.“

„Aus!“, gebot ihr die Kommissarin.

„Verdammt nochmal, ersparen Sie mir wenigstens den Köter da!“, zischte Kühn.

„Tja, sie weiß schon, warum sie manche Leute nicht riechen kann.“ Nun musste auch Pokroff grinsen.

Die Spurensicherung unterzog die gesamte Villa von Kühn einer Generalinspektion. Doch von Bae fand sich keine Spur. Der Suchtrupp wollte schon fast aufgeben, als ein Beamter unter der benachbarten teilweise von Gestrüpp überwucherten Garage den Eingang zu einem verborgenen Keller zu entdecken glaubte. Er ahnte Schlimmes, Erinnerungen an die Kellerverließe von Josef Fritzl und Wolfgang Priklopil wurden wach. Doch der Eingang war zugeschüttet. Fehlanzeige. Es war zum Verzweifeln.

Mit verzweifelten Gesten erklärte die Spusi Pokroff ihre Kapitulation. Doch der Ermittler wollte sich keinesfalls geschlagen geben, schaute sich zunächst etwas irritiert und dann zunehmend sicherer im Bibliotheksraum um. „Bringt mir Kühn zurück!“, verlangte er.

Der mehrfache Täter, dem man von Entführung bis zu vollendetem Mord nun fast alles vorwerfen konnte, stand immer noch mit regungsloser Miene da.

„Wo ist Bae?“, wiederholte Pokroff erneut seine Frage, doch wesentlich lauter, gereizter und eindringlicher als je zuvor.

„Ich sagte doch, Sie können ihn gar nicht finden, selbst wenn er hier wäre. Wäre, wie gesagt.“ Kühn grinste.

Pokroff ließ Kühn zurück in die Bibliothek führen. Hatte der Hauptkommissar hier wirklich etwas übersehen? Er blickte sich noch einmal minutenlang genau um. Dann kam ihm die Erleuchtung. „Ich glaube, Sie haben sich zu früh gefreut. Die Nordwand dieses Zimmers ist ein einziger Bleuff. Es kann dort nicht hinaus ins Freie geben. Die Fenster werden von hinten beleuchtet, damit es echt aussieht. Und es fällt gar nicht mal auf, weil der Raum durch die Bäume draußen eher dunkel ist und hier öfter mal das Licht brennt.“

Pokroff lief an der Wand entlang und tastete sich vorsichtlich bis zum Bild empor.

„Herr Kühn, wo ist die Fernbedienung? Ich bin sicher, hinter dem Bild verbirgt sich eine Wand, die sich automatisch öffnet.“

Mit abschätzendem Blick wies Kühn auf den Sekretär schräg gegenüber. Dort lagen gleich mehrere Fernsehbedienungen, doch beim vierten Versuch der dritten Bedienung klappte es endlich Die Wand mit dem Bild öffnete sich, dahinter kam ein Vorhang zum Vorschein.

Pokroff und die Beamten zogen den Vorhang zurück und blickten auf einen fast kahlen Raum mit einer Werkbank und einem Heizungsrohr, an das Bae mit einem Haushaltsseil gefesselt war. „Kümmern Sie ich auf jeden Fall auch um Yun“, forderte Bae, kaum, dass er befreit war. „Seine Familie stammt aus Kaesong in der Sonderwirtschaftszone. Er ist die rechte Hand von Kühn, er hat hier alles mitorganisiert und Yoko überwacht. Ach ja, schauen sie mal in der Werkbank und in dem Zeitungsstapel dahinter nach. Dort werden Sie allerhand Interessantes finden.“

In der Sicherheitsschublade einer Werkbank versteckt fanden die Beamten endlich den originalen Stick, den Kühn von Krösch bekommen hatte, nachdem ihn dieser wiederum von Yoko bekommen und ausgetauscht hatte. Und im Zeitungsstapel für das Altpapier verbarg sich schließlich ein Textausdruck mit einigen biografischen Notizen von Nadine Engelthal, die die drei Kommissare bereits auf dem Weg ins Polizeipräsidium mit Spannung und Neugierde lasen:

Die Geschichte meiner Familie

Hiermit möchte ich, Nadine Engelthal, die Geschichte meiner Familie aufschreiben und so auf die schlimmen Verbrechen an der Menschheit aufmerksam machen, die sich im Kalten Krieg im gesamten Ostblock zugetragen haben und heute leider immer noch in der Demokratischen Volksrepublik Nordkorea passieren. Nun, da mit dem Tod von Kim Jong Il und der Nachfolge von Kim Jong Un eine – vielleicht- neue Zeit beginnt, sollen die übrigen Länder der Welt ihre Chance erkennen und das Regime endlich dazu zwingen, sich der Verantwortung zu stellen und die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern. Meine Familiengeschichte ist leider ein- wenn auch nur kleiner- Teil dieser Verbrechen. Vieles kannte ich lange Zeit nur vom Hörensagen durch meine Großmutter in Frankfurt am Main, die vor fünf Jahren gestorben ist. Doch inzwischen gibt es dank Internet und einigen politischen Fachbüchern und Biographien von geflüchteten Spionen die Möglichkeit, viele Details zu überprüfen und so der Wahrheit näherzukommen.

Ich wurde am 14. April 1970 als Tochter von Matthias Lauen und Jana Lauen, geborene Simanek, in Heidelberg geboren. Bis zu meinem fünften Lebensjahr lebte ich mit meinen Eltern in der Steckelsgasse im Stadtteil Handschuhsheim. Dort war mein Vater am 10. September 1965 als Medizinstudent im Haus von Rudolf Falke eingezogen. Inzwischen ist bekannt, dass Herr Falke gebürtig aus Rostock stammt und von 1953 bis 1955 als sogenannter „sozialistischer Bruderhelfer“ der DDR beim Wiederaufbau der im Koreakrieg zu 90 Prozent zerstörten Industriestadt Hamhung in der Demokratischen Volksrepublik Korea mithalf. 1957 konnte er sich in die Bundesrepublik absetzen, doch seine Verwandten in Rostock waren die ersten Jahre weiterhin schlimmen Schikanen und Übergriffen durch das Ministerium für Staatssicherheit ausgesetzt. Das änderte sich erst, als 1963 Rudolf Falkes Tante Sabine und ihr Ehemann Wilfried Kühn einwilligten, für die Staatssicherheit zu arbeiten. Durch das Ehepaar Kühn und weitere bis heute unbekannte inoffizielle Mitarbeiter war auch Rudolf Falke, der seit 1961 in Heidelberg lebte, weiterhin unbemerkt der Beobachtung und Kontrolle durch die Staatssicherheit ausgesetzt. Es muss angenommen werden, dass einige dieser Mitarbeiter auch regelmäßige Kontakte zum Nordkoreanischen Geheimdienst unterhielten.

Am 10. Juni 1968 wurde der Heidelberger Student Ku Bong entführt und verschleppt. Angeblich war er Chinese. Inzwischen gilt es als sehr wahrscheinlich, dass es sich um den Koreaner Yun Bo Kyung handelte, der 1964 aus Nordkorea über China nach Südkorea geflüchtet war und seit dem Wintersemester 1965/66 als Stipendiat der Republik Korea an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main studierte. Doch im Juni 1966 verdächtigte das damals noch totalitäre Regime unter der südkoreanischen Militärdiktatur von Park Chung Hee viele seiner Studenten und Krankenschwestern in der Bundesrepublik der Spionage und zwang sie zur Rückreise. Wer dem nicht folgte, wurde entführt. Yun Bo Kyung versteckte sich unter falschem Namen in Heidelberg bei Franke, wurde aber von ostdeutschen und nordkoreanischen Agenten enttarnt und gekidnapt. Laut verschiedener Zeitungsberichte von damals kamen die koreanischen Agenten wie bei den anderen Entführungen offiziell aus Seoul, spionierten jedoch in diesem Fall als Doppelagenten für den kommunistischen Norden. Wahrscheinlich starb Yun in einem südkoreanischen Zwangslager.

Yun hatte in Heidelberg Kontakt zu meiner Mutter Jana aufgenommen, die im August 1968 von Prag über Österreich nach Heidelberg geflohen war. Jana hatte von ihrem Vater ein Päckchen mit einem kunstvoll verzierten Stoffkörbchen mitgenommen. Das Körbchen war gefüllt mit vergoldeten Ketten, doch der wirkliche Wert bestand in den goldenen Ketten, die die Nordkoreanerin Hong Ran in einem Lager und Militärlazarett in den Bergen Nordkoreas eingewebt hatte. Eine Koreanerin machte mich auf einem Kunstmarkt erstmals auf diese geheime doch sehr effektive Technik aufmerksam, geheime Nachrichten aus den Lagern zu schmuggeln. Sie berichtete auch von einer Fernsehdokumentation über schwere Misshandlungen in einem nordkoreanischen Lager während des Koreakrieges. Dort hatte mein Großvater, der tschechische Medizinprofessor Stanislav Polacek, grausame Menschenversuche mit dem Medikament Pervitin, auch bekannt als Hitler-Speed (derselbe Wirkstoff, nämliche Metamphetamin ist in Crystal Meth enthalten), und zugesetzen Fluoriden durchgeführt, um eine Hochleistungsdroge für das nordkoreanische und tschechische Militär zu entwickeln. Hong Ran brachte das Körbchen mit der Botschaft zu einem Bauern, der sie für einige Tage aufnahm, jedoch später denunziert wurde.

Leider haben meine Eltern aus diesen Vorfällen nicht die nötigen Konsequenzen gezogen. Nachdem mein Vater Matthias sich 1966 zunächst bei meiner Großmutter in Frankfurt versteckt hielt, zog er mit meiner Mutter sehr bald wieder in das Haus von Rudolf Falke ein. So konnte er wieder durch Mittelsmänner über den nordkoreanischen Geheimdienst kontaktiert werden. 1975 gab meine Mutter der Versuchung nach, mehrere Luxuscolliers im Auftrag des nordkoreanischen Agenten Kim Yong Ryul herzustellen, der 1975 mit einer Delegation einen Technikkurs bei den Mercedes-Benz-Werken in Stuttgart absolvierte. Damals wurden die Colliers übergeben. Doch meine Eltern und die Delegation wurden sich vermutlich nicht über den Preis einig oder es gab sonst irgendwie Streit. Jedenfalls liegt es nahe, dass der tödliche Autounfall meiner Eltern auf eine Manipulation am Bremsschlauch zurückgeht. Nun habe ich selbst einen Auftrag angenommen, als Schmuckdesignerin hochwertige Colliers für die zukünftige Frau von Kim Yong Un herzustellen. Doch ich werde dieses Regime enttarnen.“

„Mein Güte, was für ein dramatisches Schicksal!“, entfuhr es Christiane von Erbensein. „Nadine Engelthals Eltern kommen verachtenden Menschenversuchen in Nordkorea auf die Spur und lassen sich doch für dieses Schreckensregime einspannen. Und dann begehen sie einen Fehler, werden Opfer eines Autounfalls, und Nadine verliert mit einem Mal Vater und Mutter. Und nun will sie das ganze Schicksal aufdecken, die Wahrheit ans Licht bringen und wird selbst Opfer eines heimtückischen Mordanschlags!“

„Das ist allerdings sehr dramatisch und traurig“, stimmte ihr Pokroff zu. „Doch hoffen wir, dass wir in dem ausgedruckten Text auch den Schlüssel finden, um die Botschaften des Sticks zu entschlüsseln und zu verstehen. Denn irgendwie ahne ich, dass wir es da wieder mit chiffrierten Zeichen zu tun haben.“

Und mit dieser Vermutung sollte Pokroff Recht behalten.„Oh nein, nicht schon wieder!“, stöhnte er, als er zwar die Textdateien auf dem Stick öffnen konnte, ihn abermals eine Fülle fremdartiger rundlicher Schriftzeichen entgegenlachte. Es handelte sich um einen mehrseitigen Text in koreanischer Hangul-Schrift, der mit der englischen Überschrift „The Secrets of Korean Astronomy“ überschrieben war, etwa in der Mitte des Textes war die einfache Skizze einer Sternenkarte eingefügt.

„Nicht doch, nicht doch“, beschwichtigte Zorbas. „Davon dürfen wir uns nicht irritieren lassen. Lass uns lieber diese Sternenkarte genauer betrachten. Wie war das noch gleich, auf Nadine Engelthal wurde ein Anschlag verübt, mit einem neuartigen Gift oder einer neuartigen Droge, nicht wahr? Schaut euch die Skizze an, sie zeigt Himmelskörper, die in Ketten oder in Sechsecken angeordnet sind. Sie ähneln verblüffend der aufgestickten blauen Sternenkarte auf dem Stoffkörbchen. Was aber, wenn diese Skizzen in Wahrheit gar keine Himmelskonstellationen abbilden, sonder in Wahrheit chemische Formeln?“

„Durchaus möglich, aber mich dürft ihr nicht fragen, ich war in Chemie immer eine Niete“, räumte von Erbenstein achselzuckend ein. „Was meinst du, Waldemar?“

Pokroff dachte einen Moment lang nach, versuchte sich wieder an seinen Schulunterricht zu erinnern und an den alten vollbärtigen Chemielehrer, der ihm wie ein Schulmeister immer wieder versuchte, irgendwelche Formeln einzutrichtern. Doch allzuviel hatte er davon auch nicht behalten. Doch dann fiel ihm wieder die Geschichte von dem Spaziergang und der Begegnung mit Sonja Bernburger ein, von der ihm Carola neulich erzählt hatte. Wie sie mit Sonja auf die andere Mainseite zum türkis schimmernden Westhafen Tower geblickt hatte, der für die Frankfurter einfach das „Gerippte“ ist, weil es an ein Ebbelweiglas erinnert. Doch dann diese Assoziation, dass sich hinter den gerippten Strukturen einfache Rauten verbergen, die sich jedoch wiederum zu Davidsternen zusammensetzen lassen. Ein Sternenmuster, das aber im Kern doch die einfachen Muster regelmäßiger Sechsecke aufweist. Sechsecke, wie sie auch in chemischen Formeln vorkommen..

„Verdammt nochmal!“ Pokroff schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Krösch hat uns auch mit der Botschaft auf dem Stoffkörbchen verladen. Aber jetzt hat er endgültig verloren, dank deinem schnellen und großartigen Einfall, Evangelos!“

„Man tut, was man kann.“ Zorbas schmunzelte. Da war es endlich einmal wieder, das eher seltene Lob seines Chefs.

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Einige Tage nach seiner Verhaftung hörte Marcel zum ersten Mal, dass seine Mutter offenbar langsam aus dem Koma zu erwachen schien. Christiane von Erbenstein verkündete ihm die Nachricht, als sie ihn in der Untersuchungshaft in Weiterstadt besuchte.

„Marcel, deine Mutter empfing vor kurzem Besuch von Herrn Schneider und bewegte ihre Augenlider. Das hat uns Professor Bornemann vor kurzem mitgeteilt. Was sagst du dazu?

Marcel blickte die Kommissarin etwas irritiert an. „Heißt das, sie lebt und kommt wieder richtig zu sich?“

„Diese Möglichkeit könnte zumindest bestehen. Denn im Koma ist man zwar ohne Bewusstsein, doch der Mensch nimmt offenbar auch in dieser Situation viel mehr Signale aus der Umwelt wahr, als wir bislang dachten.“

„Schneider, ist das nicht der frühere Lover meiner Mutter?“

„Ja, sie war mit ihm zusammen und ist offenbar immer noch eng mit ihm befreundet. Deshalb hat sein Besuch bei ihm wohl diese Reaktion ausgelöst.“

Marcels Miene blieb indifferent. In Gedanken durchlebte er die letzten Monate, die häufigen Streitereien, die schließlich dazu geführt hatten, dass er von seiner Mutter keine Zahlungen mehr erhielt und den Kontakt zu ihr fast vollständig eingestellt hatte.

„Marcel?“

„Hm?“

„Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, deine Mutter zu besuchen und dich mit ihr zu versöhnen?“

„Ich weiß nicht. Und wie soll das gehen, so lange ich hier noch einsitze?“

„Ich denke, in diesem besonderen Fall würde der Haftrichter einer Besuchserlaubnis zustimmen. Und wenn du dich weiterhin kooperativ zeigst und uns bei der Suche und Sicherstellung der Drogen hilfst, dann wird das deine Sozialprognose und somit dein Urteil wesentlich begünstigen.“

Marcel zeigte sich weiterhin indifferent und bat noch eine Nacht über der Idee schlafen zu dürfen.

Christiane von Erbenstein machte sich auf den Heimweg. Sie wusste zwar nicht sicher, ob sich Marcel wirklich für einen Besuch bei seiner Mutter entscheiden würde. Aber sie hatte gute Hoffnungen. Auch, was die weitere Entwicklung und das Urteil von Marcel betraf.

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Pokroff blickte Krösch streng und wütend zugleich an. „Von wegen da Altkorea im 14. Jahrhundert! Dachten Sie wirklich, wir würden das nicht rauskriegen! Wir haben zu dem Körbchen auch den Stick gefunden, und Zorbas hat auch eine Idee, was sich darauf verbirgt. Ein Text über Geheimnisse der koreanischen Astronomie, womöglich über diese rätselhafte Sternkarte auf Marmor, von der sie neulich erzählt haben. Aber bevor wir uns darüber unterhalten, berichten Sie mir zunächst, welche Botschaft das Körbchen wirklich enthält. Hier, Hier, bitte sehr!“

Pokroff knallte Krösch ein Blatt Papier und eine Plastikbeutel mit den Papierstreifen des Stoffkörbchens auf den Tisch. „Ich gebe Ihnen eine halbe Stunde Zeit, um die Schnipsel zusammenzulegen und mir dann zu erzählen, was wirklich darauf steht.“

„So lange brauche ich nicht.“ Krösch blickte grimmig zurück, seine Augen verengten sich zu Schlitzen.. „Den Inhalt kenne ich auch so. Und ich brauche höchstens zehn bis zwanzig Minuten, um die Schnipsel grob zu sortieren und den Wortlaut aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Sie können das Ergebnis später wissenschaftlich überprüfen lassen.“

Krösch hatte nicht zuviel versprochen. Fünfzehn Minuten später war der Text aufgeschrieben. Er lautete:

Ich, Hong Ran, geboren am 24. März 1938 in Najin, wurde am 5. September 1951 wegen angeblichen Diebstahls einer Essensration verhaftet und mit verbundenen Augen in ein Gefängnis unserer Volksrepublik gebracht. Den genauen Ort kenne ich nicht. Dort hat man mich immer wieder gefoltert und geschlagen und mich zur Behandlung meiner Knochenbrüche in ein Feldlazarett gebracht. Ich wurde operiert, doch meine Brüche verheilten nur sehr schlecht. Am Ende meines viermonatigen Aufenthalts kam „Stan“, ein leitender Oberarzt aus Europa, und verabreichte mir immer und anderen Gefangenen wieder Injektionen, damit wir uns besser fühlen und die Schmerzen leichter ertragen konnten. Schon vor meiner Entlassung wurde ich zur harten Zwangsarbeit im benachbarten Lager eingesetzt, musste schwere Steine im Bergwerk schleppen und leidete Hunger. Nach den vielen Injektionen bekam ich schlimmes Herzrasen. Die Injektionen wurden gestoppt. Wir hörten, dass „Stan“ der tschechische Arzt Stanislav Polacek war. Ein Gefangener war Chemiker und vermutete, dass Polacek mit Metamphetamin und Fluoriden experimentierte. Er sollte ein besonders starkes Medikament für das nordkoreanische und tschechische Militär entwickeln. Mit diesen Mittel sollten wir den Koreakrieg gewinnen. Doch nur wenige der 200 Gefangenen haben die Versuche überlebt. Nach meiner Entlassung am 3. Januar 1964 musste ich schwören und unterschreiben, mit keinem über meine schlimme Zeit zu sprechen. Doch die Welt soll erfahren, dass es viele grausame Lager in der Volksrepublik gibt, das größte und schlimmste in Yodok.

„Sehr aufschlussreich“, bedankte sich Pokroff. „Und was bitte verbirgt sich hinter der Formel auf diesem Stick? Ich vermute doch die Formel für dieses scheinbar so wundersame Medikament, für das Menschen so grausam gefoltert wurden?“

„Der Text erklärt die in Fels gravierte Konstellationenkarte in der Festung Pyungyang in Koguryo, die bei einer chinesischen Invasion verloren ging. Es ist nur eine Kopie der Chonsang-Karte erhalten, wörtlich ,die natürliche Ordnung der Himmelskörper und ihrer Regionen, die sie bestimmen.‘ Aber die zugehörige Skizze ist nur stilisiert. Die Sechsecke und die Sternenketten zeigen in Wirklichkeit die Strukturen der Moleküle für verschiedene Fluormetamphetamine. Je nachdem, ob man das Fluoratom an der zweiten oder vierten Position des Benzolringes anbringt, entstehen verschiedene Derivate des Metamphetamins, die mal stärker und mal schwächer wirken. In der Form von Salzen sind diese Derivate in heißem Wasser löslich. Heute hat man gewisse Erfahrungswerte, weil diese Substanzen vor ein paar Jahren auch als Designerdrogen einer israelischen Firma in Japan auftauchten. Darauf basierend kann man die Wirkungsweise des neuen Mittels nun perfektionieren. Doch damals war man erst am Anfang dieser neuen Entwicklung.“

„Na also, es geht doch! Besser spät als nie. Eine Sternenkarte auf einem Körbchen und einem Stick als Code für eine neue Chemieformel. Das würde fast schon wieder Respekt verdienen, wenn da nicht dieser schreckliche Umstand wäre, dass Sie nicht nur Kühn und seine kriminellen Machenschaften gedeckt haben, sondern ein Terrorregime, das unschuldige Menschen wegen Nichtigkeiten in Lager verschleppt, foltert und als lebendige Versuchskaninchen für neue Superdrogen missbraucht! Haben Sie sich eigentlich jemals klar gemacht, dass diese Gräueltaten den Verbrechen der Nazis kaum nachstehen? Mann, Krösch, wie konnten Sie nur?“

„Und haben Sie sich als Bürger eines freien Landes jemals klargemacht, was es bedeutet, in einem Zwangsregime aufzuwachsen und selbst nach dem glücklichen Fall einer friedlichen Wiedervereinigung, von dem Korea derzeit noch nicht mal träumen kann, bis in die Gegenwart erpressbar zu bleiben? Nein, Sie können das nicht verstehen und ich erwarte es auch gar nicht von Ihnen.“

„Moment mal, so einfach ist das nicht. Zum einen können Sie mit Ihrer Vergangenheit in der DDR nicht alles entschuldigen, und zum anderen habe auch ich meine Kindheit teilweise noch in der Sowjetunion erlebt und gespürt, was es heißt, wenn man nicht mal den eigenen Schulkameraden trauen kann, weil der KGB überall seine Helfer hat. Aber, was rede ich überhaupt……“, Pokroff wurde von einem kurzen Klopfen unterbrochen, dem er entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten mit einem schnellen „Ja, bitte“ antwortete. Denn die Sekretärin Diemer gab ihm wie verabredet einen mehrseitigen Ausdruck verschiedener Polizeiberichte in die Hand.

„Wo ist Yoko?“, fragte Pokroff jetzt noch einmal mit sehr eindringlichem Blick und Tonfall. „Wir haben die Kollegen im gesamten Land alarmiert, doch es ist bei keiner einzigen Polizeikontrolle ein verdächtiges Fluchtfahrzeug aufgefallen. Vielleicht wurde sie längst von Gangstern aus Kühns Dunstkreis gedkidnappt und getötet.“

„Nein, seien Sie versichert, dass ihr nichts passiert ist, weil sie clever genug ist, nur den richtigen Leuten zu vertrauen. Auch in unseren Kreisen gibt es echte und vor allem aufrichtige Profis, die um ihre Sicherheit besorgt sind. Aber es ist besser, wenn ich die genauen Pläne nicht kenne. Als Sie in Kühns Villa kamen und uns verhafteten, drohte die Situation gerade zu eskalieren, weil wir Streit hatten und ich mich ein für allemal von Kühns Verbrechen lossagen wollte. Kühn hätte mir kaum noch geglaubt, wenn ich ihm gesagt hätte, Yoko sei mir durch eine Unachtsamkeit unserer Leute entwischt. Er hätte mich durch seine Leute einsperren und foltern lassen, bis ich den genauen Fluchtplan unter schlimmsten Schmerzen verraten hätte. Aber so konnte ich nichts verraten, weil ich selber nichts weiß. Außer vielleicht, dass Yoko nicht in die Nordkoreanische Botschaft nach Berlin, sondern auf einem geheimen Weg außer Landes gebracht wird.“

„Ich weiß zwar nicht, ob ich Ihnen das glauben soll, aber na schön. Mal schauen, was meine Kollegen zu den Formeln und den Übersetzungen des Textes sagen. Wenn ich mich dann empfehlen dürfte.“ Pokroff schüttelte ratlos den Kopf, als er den Raum verließ. Keine Frage, der Stress der vergangenen Tage war nicht spurlos an ihm vollen Tragweite zu begreifen.

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Die Sonne senkte sich langsam über den Abendhimmel und tauchte die Altstadtsilhouette von Görlitz mit der Pfarrkirche Sankt Peter und Paul in ein romantisches rot-goldenes Licht. Yoko blickte durch das Wohnzimmerfenster eines Plattenbaus zur Fußgängerbrücke über die Neiße, die sie problemlos und ohne Kontrollen hatte überqueren können. So wie es ihr Uwe versichert hatte, nachdem er nach einer langen Fahrt über die Rhön und den Thüringer Wald auf der Höhe von Erfurt endlich seine Zielkoordinaten erfahren hatte. Irgendwo unterwegs glaubte Yoko sogar einen einsamen Wachturm neben einem Stückchen Zaun zu erkennen, die offenbar zum Grenzmuseum Schifflergrund gehörten. Wie konnte der Eiserne Vorhang hier verschwunden sein und das Land noch immer teilen? Eine Frage, die womöglich noch kommende Generationen beschäftigen würde.

In Görlitz hatte sie sich dann mühelos einer Stadtführung angeschlossen und war über die Altstadtbrücke ins polnische Zgrozelec hinübermarschiert. Dort hatte sie sich gleich einen Friseur und eine Kosmetikerin gesucht, die die Echthaarperücke durch eine natürliche Dauerwelle mit brauner Tönung und eingeflochtenen Strähnchen ersetzten und ihr durch eine angedeutete doppelte Lidfalte ein größeres Auge zauberten. Denn nun musste Yoko wieder mit ihrer geklauten Identität als Henny Winkler leben. In den folgenden Tagen würde sie nach Breslau gehen und sich als deutsche Slawistin mit einem Auslandssemester in Schlesien ausgeben.

Yoko schaltete den Fernseher ein und versuchte abwechselnd über deutsche und polnische Fernsehsender die aktuellen Fernsehnachrichten zu empfangen. Endlich erwischte sie einen kurzen Beitrag über die Verhaftung von Alfred Kühn und Klemens Krösch, der kurz aber bestimmt in die Fernsehkameras rief: „Die Nordkoreanerin habe ich gerettet!“ Yoko stutzte: War er also tatsächlich ihr Lebensretter? Dann wurde ihr eigenes zum Glück nur sehr unscharfes Bild gezeigt, das Franco Marinelli vor einigen Wochen von ihr fotografiert hatte. Dann zeigte ein weiterer Beitrag, wie eine Polizeieinheit das Paektusan Restaurant in Amsterdam stürmte, Pieter Tempelaers und Willem de Vries abführten. Das Personal würde mit der nächsten Maschine nach Pjöngjang zurückfliegen, das einzige nordkoreanische Restaurant in Europa war Geschichte! Doch noch bevor sie die jüngsten Meldungen richtig aufnehmen und verarbeiten konnte, hörte sie Schritte und schaltete sofort den Fernseher auf.

„Ah, unsere kleine Freundin? Dir geht es gut? Nun ich kann dir auch Danuta vorstellen, meine Frau.“ Janusch sprach nur leidlich gut Deutsch, aber Yoko noch viel weniger Polnisch. Sie hatte ihn am Neißeufer von Zgrozelec getroffen, ihm einen Geldschein gegeben und um zwei Übernachtungen gebeten.

„Ja, besten Dank, es ist sehr lieb, dass ihr mich aufgenommen habt. Hier habe ich nichts mehr gefunden und drüben auf der deutschen Seite sind die Preise so teuer. Ich schaue mir nur zwei Tage Görlitz an und dann fahre ich wieder zurück..“

„Woher aus Deutschland kommst du?“, fragte Danuta.

„Aus Frankfurt. Ich meine natürlich aus Frankfurt am Main. Dom, alter Rathausplatz und viele Wolkenkratzer. Eine sehr schöne und irgendwie interessante Stadt.“

In diesem Moment wurde es Yoko noch einmal klar: Frankfurt war tatsächlich für vier Jahre ihre Heimat geworden. Eine Heimat, die sie vermutlich nicht wieder sehen würde.

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Am nächsten Tag rang sich Marcel dann doch dazu durch, eine Besuchserlaubnis zu stellen. Fünf Tage später fuhr er im Gefangenentransport in die Seckbacher Unfallklinik. Christiane von Erbenstein hatte sich ihren Arbeitstag so eingerichtet, dass sie ihn begleiten konnte. Doch auf dem Weg dorthin überkamen ihn erneut Zweifel an seinem Entschluss.

„Was ist, wenn sie mich gar nicht sehen will? Wir haben uns schließlich im Streit voneinander getrennt.“

„Ich denke, jede Mutter würde sich in einer solchen Situation freuen, ihren Sohn wiederzusehen. Und wenn es noch so etwas wie Liebe zwischen euch beiden gibt, dann wird sie deinen Besuch sicher als Versöhnung verstehen, wenn sie dich wahrnehmen kann,“

Bornemann nahm Marcel am Eingang des Seckbacher Unfallkrankenhauses in Empfang. Und er war nicht alleine. „Na, Alter, dann wollen wir mal. Ich dachte, du könntest vielleicht etwas Schützenhilfe gebrauchen.“ Wolf Schahl hatte sich von den Folgen seines unfreiwilligen Bades im Main inzwischen wieder erholt und wollte Marcel beistehen. Schließlich hatte er sich von den anderen drei Kumpanen distanziert und sich nicht dazu hinreißen lassen, ihn abzufüllen und die Main-Neckar-Brücke hinunterzustoßen. Bornemann führte Marcel und Wolf durch die langen von Neonlicht durchfluteten Gänge des Krankenhauses in die Intensivstation. Zuerst zeigte sich Marcel geschockt, als er seine Mutter an der Herz-Lungen-Maschine angeschlossen sah. Dann setzte er sich zu ihr ans Bett und blickte ihr noch etwas scheu und unsicher ins Gesicht.

„Mama?“

„Versuche es nochmal und ergreife ihre Hand“, ermutigte ihn von Erbenstein.

„Mama.“

Zaghaft nahm Marcel ihre Finger, als würde er sich immer noch nicht recht trauen . Diese Prozedur wiederholte er mehrmals. Doch dann glaubte er eine Regung im Gesicht seiner Mutter beobachten zu können.

„Sie hat mich angeblinzelt.“ Marcel blickte die Kommissarin fragend an.

„Und gelächelt hat sie auch, hast du das nicht bemerkt?“

„Wirklich? Meinen Sie also, sie freut sich? Wo ich doch nicht mal selbst sicher bin, ob ich mit ihr wieder richtig vertragen kann.“ Marcel blickte die Kommissarin ungläubig an.

„Schon der gute Wille zählt.“

Marcel nickte. Und Wolf klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

Eine Einschätzung, die sich als richtig erweisen sollte. In den folgenden drei Tagen kam Schneider regelmäßig zu Besuch und streichelte Nadine Engelthals Hand. Auch Lisa Naumann schaute noch einmal vorbei. Dann glaubte Schneider schließlich zum ersten Mal ihre Stimme zu hören.„Frank?“ Schneider sprach ihr so lange zu, bis sie seinen Namen wiederholte und auch ihm zaghaft über die Hand streichelte. Als Bornemann hörte, dass seine Patientin tatsächlich aus dem Koma erwacht war, klopfte er dem Freund anerkennend auf die Schulter. Doch der Weg sollte sich tatsächlich noch als lang erweisen. Bis Nadine Engelthal ganze Sätze sprechen und sich langsam in ihrer Umwelt zurechtfinden konnte, sollten noch Wochen vergehen. Dass ihr Sohn vorerst im Gefängnis saß und sie selbst Opfer eines Mordanschlags geworden war, musste sie erst einmal begreifen. Doch sie befand sich auf den stetigen Weg der Besserung und würde bald wieder ein einigermaßen normales Leben führen können. Davon war nun auch Bornemann überzeugt.

Lisa Naumann witterte Morgenluft: Erst konnte sie in ihrem Online-Magazin „Art of Frankfurt“ die dramatische Geschichte von der wundersamen Genesung der Schmuckdesignerin Nadine Engelthal veröffentlichen- und nun versprach die Verhaftung von Alfred Kühn und Klemens Krösch sogar noch eine weitere atemberaubende Story. Tatsächlich glühten schon bald die Drähte – zumindest die ihrer eigenen Telefonleitungen, als sie mit zahlreichen Rundrufen die Mailboxen der Frankfurter Tageszeitungen malträtierte.

„Endlich kann ich die lückenlose Verstrickung der Frankfurter Polizei in die Machenschaften der Camorra, der Stasi und des Nordkoreanischen Geheimdienstes über 30 Jahre lang belegen. Die Familie Wiesinger ist das fehlende Glied in der Kette. Leute, das wird euer Aufmacher!“ rief sie in den Anrufbeantworter.

Irgendwann kam wenigstens ein Rückruf: „Gut, dass sie angerufen haben, unser Internet spinnt gerade. Tja, ihre Geschichte ist natürlich sehr interessant. Wir werden das in der Redaktionskonferenz besprechen. Schwierig wird das nur, wenn Sie eine bekannte und geschätzte Frankfurter Familie von Medizinern und Polizeibeamten namentlich nennen und angreifen. So lange juristisch nichts erwiesen ist, könnten uns noch die Nachfahren der Wiesingers einen Strick daraus drehen. Wir werden uns wieder bei Ihnen melden.“

Seit diesem Tag wartete die investigative Journalistin auf Antwort. Dafür schlugen die Frankfurter Tageszeitungen regelrechte Schlammschlachten um Alfred Kühn und Klemens Krösch. Während Kühn mit lebenslänglicher Haft zu rechnen hatte, konnte Krösch zumindest auf eine Kronzeugenregelung mildernde Umstände hoffen. Mit der gleichen Taktik versuchte freilich auch Beppi in Italien seine Bosse Luigi Rosso und Carmine Forino ans Messer zu liefern. Doch ihm haftete die Mordanklage wegen Wei Ching Song an, und er vermochte mit seinem von täglichen Launen und Trieben nicht wirklich einen reumütigen Charakter zu zeigen.Doch auch die K11 bekam ihr Fett weg: Wie konnte sie jahrelang mit einem Kollegen vom BKA zusammenarbeiten, ohne seine Verstrickungen mit der internationalen Spionage aufgrund seines Vorlebens zu DDR-Zeiten zu bemerken? Schließlich ergossen sich die Medien in Spekulationen, wieso die Polizei in Frankfurt und anderen Städten Yoko nicht auf ihrer Flucht hindern konnte. Sie hatte nun gute Chancen, in die Liste der Top Ten der meistgesuchten Spione aufzusteigen.

Das Jahr ging einigermaßen geruhsam zu Ende, die Zahl der Kapitalverbrechen hielt sich in Grenzen. Auch die Drogenszene beruhigte sich zumindest oberflächlich, wenngleich die Probleme im Bahnhofsviertel nicht wirklich verschwanden. Und sich die Drogenkommission ernsthafte Sorgen machen musste, ob Crystal Meth oder ähnliche zusätzliche Horrordrogen nicht doch dauerhaft Einzug in Mainhattan halten würde. Doch später sollte sich herausstellen, dass in Frankfurt Crack dauerhaft den Markt beherrschen würde.

Kurz vor Weihnachten konnte Kommissar Pokroff endlich ein paar freie Tage nehmen und seine Frau sogar zum Weihnachtsmarkt der Künstler im Römer begleiten, was er schon lange nicht mehr getan hatte. Wobei sich Carola Pokroff die längste Zeit an besagtem koreanischen Kunststand aufhielt und sich von den mit kunstvollen Blumenmustern geschmückten Körbchen und Deckchen bezaubern ließ, die dort feilgeboten wurden.

„Na Schatz?“, lächelte sie ihre bessere Hälfte an und wies mit ihrer rechten Hand in Richtung der hinteren Stellwand. „Wäre das nicht ein schönes Schmuckstück für unser Wohnzimmer?“

Ihrem Gatten schwante nichts Gutes. Nein, eines dieser schmucken Körbchen oder Deckchen konnte sie mit dieser Geste unmöglich meinen. Wohl eher das große Wandbild, das den Grüneburgpark samt Koreanischem Garten in voller Frühjahrsblüte zeigte. Rechts neben dem Bild prangte der stolze Preis: 300 Euro. Pokroff bewegte die Gedanken im Geiste hin und her. Ein teures Bild, das ihn ewig an einen seiner jüngsten und nervenaufreibendsten Fälle erinnern würde, wollte er sich zunächst einmal gar nicht vorstellen. Andererseits: Eigentlich sah das Bild mit seinen angedeuteten Tulpenbeeten, die der Maler im Zuge seiner künstlerischen Freiheit vor dem Pavillon angelegt hatte, eigentlich ganz hübsch aus. Immerhin, es waren keine Kimjongilien. Und außerdem würde er mit dieser Investition seine Sorgen um ein adäquates Weihnachts- und zusätzliches Geburtstagsgeschenk endgültig ad acta legen können. Carola gehörte nämlich zu jenen romantischen Winterkindern die an einem besonders dunklen und kalten Dezembertag kurz vor Heiligabend geboren worden war. Überzeugt von dieser Idee lächelte Pokroff schließlich zurück, steckte die Visitenkarte der Gruppe ein und ließ das Bild mit einem roten Punkt markieren. Vielleicht konnte man ja über den Preis doch noch verhandeln.

In Pjöngjang deutete sich zum Jahreswechsel eine kleine Sensation an: Das futuristische Ryugyong-Jong Ju Yong-Stadion erstrahlte im grellen Scheinwerferlicht, die Girlie-Popband Moranbong verzückte ihr Publikum mit süßlich-peppigen Klängen, junge zierliche Schönheiten servierten Armagnac, Whisky und exzellentes Fingerfood auf dem Silbertablett und bestückten die meterhohen Pyramiden mit edelstem Champagner. Der große Nachfolger Kim Jong Un hatte zum opulenten Silvesterempfang geladen, die Nomenklatura pflegte den Smalll-Talk mit den Delegierten, um Mitternacht wurde das exzessive staatliche Feuerwerk abgebrannt, das die sonst aus Strommangel stockdunklen Straßen der Hauptstadt für einige Minuten erleuchtete. Am Neujahrstag ertönte dann die vollmundige Ansprache des Diktators, die wirtschaftliche Verbesserungen, mehr Wohlstand für die Bevölkerung und eine weitere Annäherung an die südliche Teilrepublik.

In den zu groß geratenen Räumen der deutschen Botschaft, die noch aus den Zeiten der DDR stammten und sich mit der Büste Lenins und der altehrwürdigen volkseigenen Karte der Demokratischen Volksrepublik schmückten, gab es in den folgenden Tagen nur ein Thema: Was hatte das zu bedeuten? Betrat hier womöglich ein neuer junger Gorbatschow die Weltbühne? Nur drei Monate später sollte derselbe Diktator der Welt mit einem Atomkrieg drohen und sich somit das Image eines verzogenen diktatorischen Bengels, eines „Bubidiktators“ einhandeln. Am Ende würde er sogar seinen eigenen Onkel hinrichten lassen.

Am Neujahrsmorgen erhielt Evangelos eine SMS mit folgenden Worten: „Frohes Neues Jahr, Evangelos! Hinter mir strahlt der erleuchtete Eifelturm. Suche mich nicht. Ich muss meinen Ort und meine Identität noch oft wechseln. Für dich bleibe ich Wei Jing.“

Zorbas schaute auf den Display. Der Absender war natürlich unterdrückt, wie man es erwarten konnte. So jemanden in der großen weiten Welt zu suchen, schien wenig aussichtsreich. Zorbas dachte an den leuchtenden Eifelturm, rechnete neun Stunden zurück. Die SMS musste kurz nach Mitternacht abgeschickt worden sein. Im Land der Morgenröte war es jetzt schon früher Abend. Zorbas dachte kurz nach: Japan, das lag zu nahe bei der koreanischen Halbinsel, gerade einmal schräg gegenüber. Das wäre zu gefährlich. Das Bild von Tokio war warhscheinlich nur ein Fake. Yoko konnte überall auf der Welt sein, wo sie unter ihrer chinesischen Identität ein neues Leben beginnen konnte, doch ganz sicher nicht im ehemaligen Feindesland, das Korea Jahrzehnte lang besetzt hatte.

Zorbas änderte seine Pläne und beschloss, sich mit seinen Freunden doch besser nicht in einer Sushi Bar im Bahnhofsviertel zu treffen. Irgendwie stand ihm der Sinn mehr nach Gyros und Souflaki. Er dachte noch oft an Yoko, die er als Wei-Jing in Amsterdam kennengelernt hatte und wahrscheinlich nie wieder sehen würde. Auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sollte es Metropolen mit China- und Koreatowns und nachgebauten Eifeltürmen geben. Jung und ambitioniert genug, um sich in so einer Welt durchzuschlagen, sollte sie allemal sein. Das hatte sie schließlich bewiesen.

Epilog

Ostermontag 2024

Würdig, aber auch traurig blinzelte die bronzene Asiatin in die von dichten Wolken verdeckte Morgensonne hinein. Diese so genannte Trostfrau hatte so gar nichts gemeinsam mit der jungen, athletischen und dynamische Choi Eun-Su, die vor zwölf Jahren unter ihren Tarnnamen Yoko, Wei Jing, und Tanja Frankfurt unsicher gemacht hatte. „Schau mal, Waldemar, ist das nicht rührend“, schmunzelte Carola Pokroff. „Die trägt ja immer noch den roten Schal und die rote Mütze, die ihr die Koreanerinnen aus der Gemeinde für die kalte Jahreszeit gestrickt haben.“

„Na ja, in der heutigen Zeit müssen wir uns eben alle warm anziehen“, brummelte Pokroff und setzte ein vorsichtiges Grinsen auf. Dabei musste er unweigerlich auch an den russisch-ukrainischen Krieg und den russischen Patriarchen denken, auf dessen Rückhalt die Macht im Kreml immer wieder setzte. Das Ehepaar befand sich nämlich bei besagtem Trostfrauendenkmal unweit der früheren evangelischen Versöhnungskirche, die seit einigen Jahren als Auferstehungskirche der Serbisch-Orthodoxen Gemeinde diente. Und der Geistliche, der gerade aus der Kirche herauskam, brummelte ebenfalls einige Verse der Liturgie, wenn auch etwas melodiöser als Pokroff.

Zwar kam außerhalb der Gottesdienste auch die Musik der Serbischen Gemeinde aus der Konserve, doch waren es wenigstens in guter Qualität aufgenommene Gesänge, die wirklich von Menschen stammten. Das war längst nicht mehr selbstverständlich. Die Kollegen vom Betrugsdezernat hatten immer öfter mit kriminellen Geschäften zu kämpfen, bei denen Künstliche Intelligenz in Wort und Klang zum Einsatz kam. Immer mehr geheime Texte, Formeln und sonstiges geistiges Eigentum wurde schließlich geklaut in nebulösen Clouds gespeichert. Auch so mancher angehender Akademiker musste sich die Frage gefallen lassen, ob seine Abschlussarbeit wirklich seinem Geist und seiner Feder entsprang. Einem genialen Geist wie Goethe wäre das sicher nie passiert.

Apropos: „Unseren Osterspaziergang habe ich mir eigentlich anders vorgestellt“, brummelte Pokroff weiter. „Warum sind wir eigentlich nicht ans Mainufer gegangen, um dann anschließend in die Gerbermühle einzukehren, wie das alle Frankfurter tun, die etwas auf ihre lokale Kultur halten?“

„Ganz einfach, mein Schatz. Weil du der Erste gewesen wärest, der sich beschwert hätte, wenn wir dort keinen Parkplatz gefunden hätten“, entgegnete Carola augenzwinkernd. „Ganz davon zu schweigen, dass unsere Autobatterie zickt und die von dir bevorzugte Ladesäule einer Bürgerinitiative weichen musste, die an dieser Stelle lieber den Asfalt entsiegeln wollte.“ Die Pokroffs hatten sich nämlich vor ein paar Monaten endlich auch ein Elektroauto angeschafft- ihr Beitrag für eine klimaneutrale Stadt, wie sie Frankfurt in absehbarer Zeit werden wollte.

Inzwischen schienen sich die Spuren der jungen nordkoreanischen Agentin irgendwo in der Neuen Welt verloren zu haben. Der Fall von Choi Eun-Su alias Yoko hatte in Frankfurt selbstverständlich für einiges Aufsehen gesorgt. Doch nicht nur deshalb hatte sich die koreanische Gemeinschaft in Deutschland dazu durchgerungen, die Geschichte ihres Landes genauer auszuarbeiten und in wichtigen größeren Städten Denk- und Mahnmale zu errichten. Und da die Ehefrau von Kommissar Pokroff für gewöhnlich gut vernetzt war, hatte sie bald auch Kontakt zum Verein Pungyeong Weltkulturen geknüpft, der im Februar 2020 das Trostfrauen-Denkmal in der Sondershausenstraße eingeweiht hatte: Ein Denkmal, das ein junges, gebrochenes Mädchen im Schatten einer alten Frau zeigt und somit an die hunderttausende Prostituierte erinnert, die dem japanischen Militär aus Korea, China, Malaysia und anderen Ländern zu dienen hatte. Traurig nur, dass die Einweihung des Denkmals eher wenig Beachtung fand, da bereits der Corona-Lockdown seine ersten Schatten vorauswarf.

Frankfurt wurde zwar nicht zu einer Stadt, in der Crystal Meth je so richtig Fuß fassen konnte, denn dafür war die Konkurrenz durch Crack und Heroin zu stark. Doch dafür stellte nun die Legalisierung von Cannabis die Polizei vor neue Herausforderungen. Und dass immer mehr Leute aus der Partyszene zu Lachgas griffen, fand Pokroff alles andere als lustig. „Warum“, so fragte er, „muss sich alles immer nur verändern, und das meistens zum Schlechten? Warum kann nicht manches einfach so bleiben, wie es ist?“

Die tröstenden Worte kamen wie so oft von seiner besseren Hälfte: „Dein alter Rucksack und deine alten Hosen, die bleiben doch so, wie sie sind.“ Jedenfalls so lange, wie sich Pokroffs Schneiderin noch nicht auf ihr Altenteil zurückziehen wollte.

Im Namen des Autors

Wenn man so einen Krimi schreibt und dabei eine fiktive Geschichte erzählen möchte, die wirklich lebenden Personen, Schauplätzen und deren Umstände nicht zu nahe tritt, dann ist die Suche nach passenden Namen und Standorten für den Roman eine der Königsdisziplinen. Denn am Ende versucht man doch das fiktive Geschehen mit den realen Hintergründen zu verweben, damit das Geschehen authentisch wirkt.

Bis heute gibt es im östlichen Gallus in der Hohenstaufenstraße einen Asia Markt mit koreanischen und chinesischen Spezialitäten. Vor einigen Jahren erzählte mir der koreanische Inhaber, der etwas den alten Bae inspiriert haben mag, von einem Gastspiel des Nordkoreanischen Staatszirkus in Frankfurt im Europaviertel. Damals seien auch Nordkoreaner in seinem Geschäft gewesen, die er an ihrem Akzent und ihrer vorsichtigen, zurückerhaltenden Art erkannt haben will, ähnlich wie das bei deutsch-deutschen Besuchen vor der Wende 1989 auch öfter passiert ist.

Bevor das Skyline Plaza eröffnete, gab es im östlichen Gallus zudem ein koreanisches Restaurant, eine koreanische Buchhandlung und auch ein linksalternatives deutschsprachiges Buchgeschäft. Und auf der Mainzer Landstraße befand sich der etwas antiquierte Friseursalon Schwab, der Namenspate für den Salon Schehrle war- auch wenn dort, passend zur Handlung in Heidelberg, kurpfälzisch und nicht schwäbisch gesprochen wird. Dass der Name des Salons, der mit dem Handwerkzeug des Friseurs spielt auch an den einer ehemaligen Frankfurter Pröpstin anklingt, ergab sich zufällig- sie möge es mir nachsehen.

Obwohl der Gründonnerstag dem Wortursprung nach nicht mit der grünen Farbe, sondern mit dem Wort „greinen“ (weinen) zu tun hat, gehört es in einigen Regionen zum Brauchtum, zum Abendgottesdienst gemeinsam Gerichte mit Gemüse zu essen – in Österreich etwa Spinat mit Spiegeleiern. Der Rödelheimer jüdische Gelehrte Wolf Heidenheim (1757-1832) hatte eine deutschsprachige Ordnung mit erläuternden Erklärungen zur Pessachfeier erstellt. Und da es in Frankfurt üblich ist, an Gründonnerstag Kartoffeln mit Grüner Soße zu essen, bürgerte sich unter dem Pfarrer Heinrich Dippel der Brauch ein, Bestandteile des Pessach- oder Sedermahls in adäquater Form in das Tischabendmahl in der Cyriakuskirche zu integrieren, um an den gemeinsamen Ursprung zu erinnern und so die Verständigung von Christen- und Judentum zu fördern. Wobei die Rödelheimer Kirche freilich kein Ziel undurchsichtiger universeller Christengruppen ist. Doch die ein oder andere Gruppe oder Gemeinde koreanischen Ursprungs taucht in Frankfurt immer mal wieder auf- wobei es sich auch um Nachfolger der Moon-Sekte oder Vereinigungskirche handeln kann. Daneben gibt es in Frankfurt auch buddhistische sowie katholische und evangelische koreanische Gemeinden- die evangelische Gemeinde, die der Landeskirche angeschlossen ist, nutzt das ehemalige Gemeindehaus der Versöhnungskirche, die heute ein serbisch-orthodoxes Gotteshaus ist- daher wurde dort auch 2020 das Denkmal für die Trostfrauen aufgestellt.

Die Namen der diversen Lokale im Westhafenviertel sind fiktiv, erinnern dabei jedoch an Cafés, Pizzerien und Lokals, die dort existieren oder existierten. Das Mühlbergschloss heißt in Wirklichkeit SchlossResidence Mühlberg und erinnert an die frühere Villa des Fabrikanten Oehler, die man wegen ihrer Pracht auch gerne Mühlbergschlösschen nannte. 1937 wurde sie vom Bethanien-Verein erworben und zum Mühlbergkrankenhaus um- und ausgebaut, um dann nach der Zusammenlegung und Reduzierung der Diakoniekliniken bis 2009 zur heutigen Seniorenresidenz mit postmodernen Anklängen an ein Schloss umgebaut zu werden. Die Taubenmühle hingegen ist eine Reminiszenz an ein etwas abgelegenes, verwunschenes Ausflugslokal in Nordhessen, besser gesagt in der Nähe der Melanchthonschule Steinatal, im Schwalm-Eder-Kreis.

Hinter dem Restaurant Paektusan, benannt nach dem heiligen Berg und legendären Geburtsort des nordkoreanerischen Diktators Kim Jong Il verbirgt sich das Pyongyang Restaurant in Amsterdam, Es wurde zufälligerweise am Geburstag des Verfassers am 28. Januar 2012 als Joint Venture mit einem niederländischen Geschäftsmann eröffnet- und wenige Monate später schon wieder geschlossen. Die nordkoreanischen Servicekräfte, wo war zu hören, fühlten sich ausgebeutet, das kommunistische und kapitalistische Wirtschaftssystem waren zum Betrieb dieses Lokals nicht miteinander in Einklang zu bringen. Doch die Videos der Kellnerinnen, die die Gastronomie ihres Landes mit lyrischen Gesängen bewerben, sind mit etwas Glück noch im Intenet zu finden. Und in benachbarten ostasiatischen Ländern sind nordkoreanische Restaurants immer noch eine wichtige Einnahmequelle für Devisen, die in der real existierenden Mangelwirtschaft in der international sanktionierten Demokratischen Volksrepublik Korea Mangelware sind.